Sanktionen gegen Russland: Hohe Belastung für Bürger, kaum Konzepte in der Politik
Im Winter drohen steigende Preise für Heizung und beim Tanken. Das alles ist lange klar. Doch effektive Maßnahmen fehlen. Und die Hauptlast trägt vor allem eine Gruppe.
Der Winter steht vor der Tür und die Nervosität steigt: Wie werden sich die Preise für Heizen, Tanken und Lebensmittel in der kalten Jahreszeit entwickeln? Diese Frage stellt sich vor allem angesichts der Sanktionen, die die EU wegen des Ukraine-Krieges gegen Russland verhängt hat.
Die Unsicherheit macht dem Gros der Menschen zu schaffen. Und während in Brüssel bar jeder Manöverkritik bereits das zwölfte Sanktionspaket gegen Moskau geschnürt wird, rumort es in der deutschen Wirtschaft.
Eine Verbesserung der Standortbedingungen sei notwendig, heißt es etwa beim Industrieverband BDI mit Blick auf die Versorgung mit Erdgas. Einen zügigen Ausbau der LNG-Infrastruktur sieht Verbandspräsident Siegfried Russwurm nur vereinzelt.
Und bei den Erneuerbaren? Allein für den Transport einer einzigen Windkraftanlage durch Deutschland seien rund 150 Genehmigungen nötig. Die Botschaft ist klar: Ob fossile oder erneuerbare Energien – die Erschließung neuer Quellen geht zu langsam voran.
"Wir verlieren Unternehmen, wir verlieren Wertschöpfung", sagte Russwurm am Dienstag auf einem BDI-Kongress in Berlin: Deutschland drohe als Industrie- und Exportnation abzurutschen.
Nicht weniger kritische Töne waren gestern bei einem Treffen von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit der Chemieindustrie zu hören. "Die Lage der Chemie in Deutschland spitzt sich weiter zu", hatte der Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI), Wolfgang Große Entrup, vor dem Treffen bereits gewarnt. Vor allem die hohen Energiekosten seien "existenzbedrohend".
Über den Kurznachrichtendienst X ließ der VCI vor dem Gespräch im Kanzleramt am gestrigen Mittwoch keinen Zweifel an seiner Kritik. Die Branche erwarte vom Treffen "ein klares Zeichen zur Lösung der aktuellen Chemiekrise".
In diesem Kontext hatte auch Telepolis diese Woche berichtet, dass die Bundesregierung eine Subventionierung des Strompreises erwäge. "Der sogenannte Industriestrompreis ist allerdings umstritten, weil er den Unternehmen auf Kosten der Steuerzahler unter die Arme greifen würde, ohne das Energieangebot zu erhöhen", so Telepolis-Redakteur Bernd Müller. Wie das Angebot an Gas und Strom nachhaltig verbessert werden den soll, bleibt unklar.
Energiekrise ist spürbar, aber Konzepte fehlen
Diese Planlosigkeit ist besorgniserregend. Denn zum einen gefährden die Sanktionen gegen Russland die Energieversorgung der Europäischen Union nachhaltig. Zum anderen fehlen in Berlin und Brüssel Konzepte, um die Risiken für Verbraucher und Wirtschaft abzufedern.
Hinter verschlossenen Türen wird das in Brüssel durchaus deutlich angesprochen. Auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat die brisante Lage auf den Energie- und Kraftstoffmärkten thematisiert.
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) habe die Folgen des Ukraine-Krieges und der Energiekrise für Wirtschaft und Arbeitsmarkt in Deutschland detailliert beschrieben, heißt es in einem Papier des Parlamentsdienstes von Ende Juli dieses Jahres.
Dabei geht es vor allem um die Folgen des Krieges in der Ukraine und der Energiekrise für den Arbeitsmarkt und die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland. Die durchgerechneten Szenarien lassen nichts Gutes erahnen:
Die Folgen des Krieges zeigen sich in der verminderten Wachstumsdynamik der deutschen Wirtschaft aufgrund der Sanktionen und der höheren Preise für Energie und Rohstoffe (+ 80 Prozent).
Bis 2030 verliert die deutsche Wirtschaft auch ohne einen kompletten Gas-Lieferstopp über 260 Milliarden Euro an Wertschöpfung, die durch den Krieg in der Ukraine und die Energiekrise nicht realisiert werden kann.
Auf Basis der getroffenen Annahmen kommt es zunächst zu überwiegend negativen Effekten auf den Arbeitsmarkt, die sich mit der Zeit abschwächen. Im Durchschnitt werden zwischen 2022 und 2028 150 000 Personen weniger beschäftigt sein als im Alternativszenario.
Durch den Zuzug von Geflüchteten nimmt die Erwerbsbevölkerung in Deutschland zwar zu. Die schlechteren Wirtschafts- und Verdienstaussichten führen in den ersten Jahren jedoch zu einem nahezu unveränderten Arbeitskräfteangebot. Erst ab 2025 schlägt sich der Zuzug in einem höheren Arbeitskräfteangebot nieder.
Sollte es in den kommenden Monaten jedoch zu einer doppelt so hohen Energiepreissteigerung kommen wie bislang beobachtet (+160 Prozent), wäre im kommenden Jahr das BIP um fast vier Prozent niedriger als im Alternativszenario.
Wirtschaftsexperten warnen seit einem Jahr
Bereits Mitte des vergangenen Jahres waren in EU-Gremien Analysen im Umlauf, die auf die volatile Lage infolge der Sanktionen gegen Russland hinwiesen.
Es sei davon auszugehen, dass der Krieg in der Ukraine nicht kurzfristig gelöst werden könne, schrieben Olivier J. Blanchard und Jean Pisani-Ferry von der US-Denkfabrik Peterson Institute for International Economics.
Die Autoren prognostizierten innerhalb eines Jahres eine Pattsituation, eine russische Besetzung mit ukrainischem Widerstand oder einen Waffenstillstand mit anschließenden zähen Verhandlungen: "Wir gehen davon aus, dass es länger dauern wird, eine dauerhafte Lösung zu finden." Diese Prognose hat sich im Wesentlichen bestätigt.
Das wertet auch eine weitere Einschätzung der Autoren auf. Wenige Monate nach Kriegsbeginn hatten sie vorausgesagt, dass die meisten ukrainischen Flüchtlinge in ihre Heimatstädte zurückkehren würden, "aber nur allmählich, da die weitverbreiteten Zerstörungen eine Umsiedlung verhindern".
Unterdessen werde die Krise zu einem dauerhaften Anstieg der europäischen Verteidigungsausgaben führen. Der wirtschaftliche Abschwung – nur kurz nach der Corona-Pandemie – werde globale Unternehmen dazu veranlassen, ihre Abhängigkeit von verlängerten Lieferketten und Just-in-Time-Lieferplänen zu überdenken.
Eine Fortsetzung des Krieges würde sich auch auf die ukrainischen und möglicherweise russischen Agrarerträge und -exporte auswirken, das weltweite Angebot verknappen und die Weltmarktpreise für Nahrungsmittel in die Höhe treiben.
Ein deutlicher Rückgang der russischen Öl- und Gasexporte sei zu erwarten, zumal Russland seine Energieexportpolitik strategisch ausrichten werde. Die Experten des Peterson Institute gingen davon aus, dass die russischen Ölexporte steigen werden, um die zusätzlichen Ausgaben für den Krieg zu finanzieren. Und tatsächlich: Die Ölexporte haben trotz der Sanktionen um 50 Prozent zugenommen, so die Financial Times unlängst. Gleichzeitig steigen die Preise für russisches Rohöl stark an – trotz der Preisobergrenze der EU und der G7.
Dass die EU russisches Gas durch Importe aus Norwegen, Algerien und Aserbaidschan ersetze, bezweifeln die Autoren: "Diese Länder haben nur begrenzte Kapazitäten", und auch bei LNG sei die Zahl der Schiffe begrenzt. Der Ausbau alternativer Energiequellen reiche nicht aus.
Das alles sind deutliche Indizien für ein außen und wirtschaftspolitisches Totalversagen von Brüssel und Berlin. Die Bundesregierung aber stufte die warnende Analyse des Peterson-Institutes als "Verschlusssache" ein und ließ sie mit einem eigenen Zusatz verbreiten: Sie mache sich den Inhalt "nicht zu eigen".
Steuersenkungen, Subventionen: So könnte der Staat reagieren
Steigende Inflation, steigende Energiekosten, explodierende Spritpreise: Die Probleme sind vielfältig. Die Experten des Washingtoner Peterson Institute sehen keine andere Chance als "pauschale Subventionen, zum Beispiel in Form von Senkungen oder Ermäßigungen der in den meisten EU-Ländern hohen Energiesteuern".
Frankreich hat zu Beginn der sanktionsbedingten Wirtschafts- und Energiekrise eine einjährige Senkung der Stromsteuer (mit Kosten von 8 Milliarden Euro oder 0,3 Prozent des BIP) und am 1. April 2022 eine Senkung der Benzinsteuer um 15 Cent pro Liter für einen Zeitraum von vier Monaten mit geschätzten Kosten von 2,2 Milliarden Euro oder etwa 0,1 Prozent des BIP eingeführt. In Deutschland wurde die Benzinsteuer am 23. März 2022 um 30 Cent pro Liter gesenkt.
Weitere Möglichkeiten, auf die anhaltenden und möglicherweise steigenden Belastungen zu reagieren, könnten Transferzahlungen und Preisregulierungen sein, heißt es in dem Papier.
Auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages sieht Korrekturbedarf. Er macht zu den Belastungen infolge der EU-Sanktionen zudem eine weitere wichtige Feststellung: "Die europäischen Unternehmen wurden bisher mehr als die Arbeitnehmer von dem negativen Kostenschock abgeschirmt." Im ersten Quartal dieses Jahres lagen die Gewinne inflationsbereinigt um rund ein Prozent über dem Niveau vor der Pandemie. Die ebenfalls bereinigten Arbeitnehmerentgelte lagen dagegen um rund zwei Prozent unter dem Trend.
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