Schafft Olympia ab!

Seite 3: Hypersport und Körperbaustellen

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Da steht ein Gewichtheber, der das Mehrfache seines Körpergewichts stemmt, und wenig Fantasie braucht es, sich seine Bandscheiben und Gelenke in nicht allzu ferner Zukunft vorzustellen - was für ein Dutzend anderer Hochleistungssportarten auch gesagt werden kann.

Hochleistungssport ist die Geschichte der Früh- und Spätschäden. Aussagekräftiger noch als der Medaillenspiegel ist die Zuordnung typischer Schäden zu den jeweiligen Sportarten bzw. die Selbstverletzungsbereitschaft von Sportlern. Olympia sollte, wenn die Gesundheitsbehörden ihre Aufgabe ernst nehmen, wie Zigaretten präsentiert werden: "Sport kann ihnen erhebliche Schaden zufügen."

Der Wahnsinn des Dopings wurde oft als Subgeschichte einer wohl unausrottbaren, evolutionär gestützten Besessenheit des Menschentiers beschrieben, unbedingt zu siegen. Doch hier geht es nicht lediglich um individuelle Exzesse oder Fehlverhaltensweisen, sondern, wie der Sportwissenschaftler Karl-Heinrich Bette ausführt, um strukturelle Prägungen, die Doping als kollektives wie zwangsläufiges Phänomen des Hochleistungsports erscheinen lassen.

Aristoteles, den antiken Spielen näher als wir, plädierte in allen menschlichen Angelegenheiten dafür, das rechte Maß zu finden. In diesem humanen Selbstbezug könnte Sport seine kulturbildende Kraft in vielen Facetten erhalten. So würden Wettbewerbe als Form friedlicher Als-ob-Kämpfe funktionieren, wären Siege wie Niederlagen erträglich. Vielleicht würde sogar der bei den uns geläufigen Eskalationsspielen fundamental korrumpierte Trostspruch "Dabeisein ist alles" seinen Sinn zurückgewinnen.

"Mens sana in corpore sana" war je ein simplizistisches bis falsches Versprechen, das Vitalitätsideale propagiert, die weder einer philosophischen noch psychologischen Kategorisierung standhalten, vor allem aber nicht den konkreten "Befindlichkeiten" von zum Äußersten getriebenen Akteuren, denen ihr Geist so lästig wie ihr Körper wird. Wenigstens die Verlierer müssen auf die Couch. Timo Boll, im Achtelfinale gescheitert, hat das jetzt tendenziell erkannt: "Ich weiß nicht, ob ich vielleicht zu einem Psychologen hätte gehen müssen. Man steht am Tisch und verkrampft."

Bei einer so verkrampften Veranstaltung wie Olympia ist es an sich kein Wunder zu verkrampfen. Und wenn zu den zahllosen Medaillenbeschaffungsmedien noch einige veritable Psychologen, Analytiker, Geisterbeschwörer etc. hinzutreten, ist das nicht systemfremd. Aber denken wir das zu Ende. Es geht - wenn wir nun die krachbunten Fassaden vergessen - darum, dass gut geölte Terminatoren ohne psychischen Ballast ihre Gegner "schrotten". Letztlich wäre eine Roboter-Olympiade sportlich fairer und zudem menschlich und kulturell befriedigender. Olympioniken brauchen wir, die außer der Siegschaltung über keine überflüssigen Verdrahtungen einer unzuverlässigen Psyche klagen müssen, die nicht gedopt werden können, weil sich der Begriff bei einer nur auf Sieg hin konstruierten Maschine auflöst. So weit sind wir trotz der allgegenwärtigen Fetischisierung der Leistung leider noch nicht.

Zwar behauptete der Philosoph La Mettrie schon Mitte des 18. Jahrhunderts, der Mensch sei selbst eine Maschine. Doch die wundervollen Aporien, die uns heute im Blick auf die Körperpaläste verschiedenster Bauart, aber in gleich bleibender HD-Qualität heimsuchen, lassen sich damit nicht erklären. Letztlich heiligt hier der Zweck das sauerstoffreiche Eigenblut oder Muskeln, die wie mit dem Blasebalg aufgepumpt erscheinen. Ohne knallharte Kontrollen würde die Sportlichkeit mancher Athleten kaum so weit reichen, für eine Viertelsekunde Beschleunigungsvorteil nicht die eigene Existenz oder die besseren Teile von ihr zu riskieren. Wir wittern in jedem Erfolg unsaubere Vorbereitungen, jahrelangen Missbrauch und gerne auch "gender trouble", wenn erst die in den Körper eingeschmuggelten oder kaschierten Hormone die Leistung garantieren. Kinder werden zu Athleten verbogen, unselige Leistungsimperative an wehrlose Schutzbefohlene verordnet und als Ausgleich für jahrelange Schinderei gibt es dann ein wenig Pseudoglamour für einige Minuten. Sie und andere Protagonisten eines verlogenen, um sich selbst gebrachten Hypersports durchleiden die leitmotivisch korrekte Fortführung der fiesen Leistungsgesellschaft mit unsportlichen Mitteln.

Aber langsam gewinnen wir Geschmack daran: Das heimlich Schönste an Olympia könnte doch die pervertierte Dialektik dieser technoiden Menschenaustreibung und Robotisierung sein. Und im Übrigen warten wir doch insgeheim auf den Skandal, der diesen oder jenen Star tief in den Abgrund des (Un)Menschlichen fallen lässt. Denn wenn das Drama der Hundertstelsekunde auf Dauer öde ist, so kompensiert uns der Skandal, der sich daran entzündet, dass verlogene Ideale auf die Pseudotugenden postmoderner Ersatzhelden stoßen.