Schafft Olympia ab!
Seite 4: Mehr Drama, Baby
Ohne Streithansel, Spielverderber, beleidigte Leberwürste und unprofessionelle Verlierer wäre Olympia noch langweiliger als ohnehin. Die "Tribute von London" haben es schwer zu punkten, weil im Bereich der Mikromessungen, der Vielzahl der Veranstaltungen und unprofessioneller Selbstdarsteller emotionale Akte wie Surrogate des wahren Lebens erscheinen. SportlerInnen, die ihre Arme hochreißen oder in die Kamera schreien, sind ikonografische Dutzendware. Da droht jeder Amoklauf olympische Lauf- und Springleistungen im Sauseschritt zu überholen, so sehr wir uns auch der friedlicheren Suggestion ergeben möchten, das sei spannend. Jene antiken Spiele endeten dagegen schon mal mit dem Tod des Protagonisten, was allerdings einigen Zweifel an deren Spielcharakter begründet.
Entsprechend dürftig sind die Möglichkeiten der emotionalen Teilhabe des Publikums. Die Gespräche in den Sportstudios stottern sich am Ergebnis entlang, ohne dass man dafür je eine Medaille vergeben könnte: "Was fühlten Sie nach dem Sieg/Niederlage?" Die Reaktionen der Sportler illustrieren eines der ältesten Probleme der Philosophie des Geistes: Was können wir über subjektive Erlebnisgehalte (qualia) überhaupt wissen? Wie vollzieht der Homo sedens vor dem Monitor nach, was es heißt, wenn dem Deutschen Ruder-Achter die "Beine brennen"? Schwimmer Markus Deibler fand eine luzide, jedem nachvollziehbare Antwort auf seinen inneren Zustand, als er noch davon ausgehen musste, nicht im Finale zu stehen: "Das ist Scheiße..."
Regelmäßig aber erleben wir sonst wie hilflos solche Selbstbeschreibungen und ihre vergebliche Aufheizungen durch Sportjournalisten sind, die sich dem Spektakel und seiner rhetorischen Überbietung verpflichtet wähnen: "Ich kann das jetzt noch gar nicht fassen." Von einer mimetischen Spielpraxis, die der Sozialwissenschaftler Gunter Gebauer als "Soziale Sinnlichkeit" erfassen will, sind die redundanten Untertitelungen dessen, was man zwar sieht, aber nicht fühlt, meilenweit entfernt.
"Mehr Drama, Baby" würden wir uns wünschen, wenn wir nicht wüssten, dass dieses Setting der Millisekundenbesessenheit und nationalen Panini-Bildchen wenig Chance dafür bietet. Die von den Sportstudios beschworenen Bilder passen nahtlos in die gesamte Pseudoästhetik, etwa jener der Eröffnung, die deutlich macht, dass bunter Ringelpiez zwischen Ritualen und Reigen sich nie zu einem berührenden Symbol formen kann. Die Olympia-Ästhetik müsste, mehr noch als die Akteure, dringend gedopt werden.
Schlussrunde
Der letzte und härteste Einwand gegen Olympia und selbstverständlich zweitausend andere Sportwettbewerbe zwischen Welt- und Dorfmeisterschaften ist die weit reichende Kontingenz des Geschehens. Anders und tautologisch formuliert: Ist der wirklich besser, der besser ist?
So wie es bereits Fußballmeisterschaften zeigen, hängt der Erfolg jederzeit am seidenen Faden. Einige Zentimeter, ein "mentales" Kurztief, vielleicht ein Sack in China und schon bist du Meister oder bist es längste Zeit gewesen. Zehntel- und Hundertstelsekunden, die optisch nicht oder kaum noch Eindruck machen, sollen dann der Unterschied sein, der einen Unterschied macht. Was besagen solche olympischen Ergebnisse? Nichts, denn die Umstände ihrer kontingenten Entstehung belegen ein um das andere Mal, dass Fähigkeiten, Wille und der Rest der sportlichen Tugenden als Erklärung für den Erfolg keineswegs ausreichen.
Und selbst wenn wir dem allfälligen Beschwörungsgeschwafel von fairem Wettbewerb und allen höheren Menschheitstugenden erliegen sollten, das uns Sportstudios zusammen mit dem jeweiligen Skandal so durch und durch widersprüchlich verabreichen, gilt doch, dass der "Triumph des Willens" bestenfalls eine sekundentaugliche Massensuggestion ist. Gendertechnisch zusammenfassend können wir Olympia als phallozentriertes Großereignis abhaken, wo Erlebnisse und Erfahrungen unter der Herrschaft des (Milli)Metermaßes und der Stoppuhr jeden Inhalt verlieren, wo mit ähnlichem Anspruch sich Menschen ebenso gut Potenzmeiereien anderer Art widmen könnten.
In dem Moment, in dem sich die bedingten Qualitäten des deutschen Fördersystems, das von der Fechterin Imke Duplitzer gerade noch scharf kritisiert wurde, erweisen, wäre doch ein guter Zeitpunkt aufzuhören. Der olympischen Idee die Ehre zu erweisen heißt, Olympia in seiner degenerierten Form zu vergessen. Kaiser Theodosius I. verbot 393 n.Chr. Olympia, weil ihm die heidnischen Kulte zuwider waren. Mehr Heidentum bei den gegenwärtigen Spielen würde uns zwar nicht stören. Aber das Problem des Theodosius I. ist mutatis mutandis auch unseres.
Die Abstraktheit wetteifernder Körper bietet augenscheinlich auch heute noch eine großartige Projektionsfläche für zweifelhafteste Interessen vieler Art. Statt des schlecht verhüllten Kriegs nationaler Körper würden wir entschieden die Kultur der Ai Weiwei, Pussy Riot und aller anderer künstlerischen Störenfriede vorziehen, weil die erst den Geist ihrer Nation so präsentieren, wie es die Fassadenspiele Olympias jederzeit verfehlen.