Schafft Olympia ab!

Zur Selbstdemontage der Heuchelspiele

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"Schneller, Höher, Stärker" (lateinisch: citius, altius, fortius) ist der industrielle Leitspruch für eine Leistungsgesellschaft, die ihr Maß verloren hat. Wer solche Sprüche klopft, zielt auf Benchmarking, Leistungssteigerung und permanente Unzufriedenheit mit dem je Erreichten. Die sozioökonomischen Resultate dieses Denkens erleben wir gegenwärtig. Nun ist der Spruch nicht von irgendeinem Werkstor geklaut worden, sondern beschreibt das Ethos der olympischen Spiele der Neuzeit. Pierre de Coubertin, der glaubte, mit diesem Leitmotiv alle hehren Menschheitsziele verbinden zu können, sah übrigens in seiner mangelnden Anwendung die Ursache für Frankreichs Niederlage im Krieg 1870/71. Wäre der ein Schelm, der im Zeichen von Olympia Sport mit Krieg, mit Nationalismus, mit Leistungsterror und diversen Untugenden einer um ihr Maß gebrachten Gesellschaft assoziiert?

Nationalismus light bis medium

Turnvater Jahn, persönlich übrigens eher ein klassischer "loser", verband Sport mit Nationalismus und Militanz. "Frisch, fromm, fröhlich, frei" hieß dann übersetzt der Hass auf alles Fremde als deutsche Pflicht.

Das spricht nicht gegen den Sport, aber belegt seine leichte Instrumentalisierbarkeit, die uns sattsam zwischen 1936 und seinen politisch gestärkten Riefenstahl-Körpern bis hin zu den sozialistischen Vereinnahmungen einer kollektiven Body-Ästhetik der Selbstverleugnung präsentiert wurde.

Olympia war bereits bei seiner Reanimierung eine gleichermaßen hoffnungslos antiquierte wie angesichts des hohen Anspruchs schwächelnde Idee. Zwei Weltkriege wurden durch die olympische Idee augenscheinlich nicht maßgeblich behindert. In jenen Tagen der vorgeblichen Wiederbelebung eines antiken Ideals, als noch nicht jeder europäische Ort zwei Dutzend Partnergemeinden im Ausland besaß, sprach jedoch zumindest für die Spiele, dass Völkerverständigung auch in ihren medialen Möglichkeiten noch eine fragile Sache war.

Als Blitzableiter dunkler nationaler Regungen und exklusiven Ort friedlicher Zusammenkünfte der Völker wird uns heute niemand mehr Olympia anempfehlen wollen. Heute gibt es tausend und mehr Optionen, den Kontakt der Völker besser aufrechtzuerhalten als mit einer agonalen Idee, die ihren eigenen Widerspruch bereits seit der Antike mit sich führt. In den Zeiten des Internets und erheblich höherer Mobilität in allen Be- und Vollzügen des Lebens warten wir kaum noch auf Olympia und seinen Oberflächenflash, um die Welt besser lieben zu lernen.

"Wer hart trainiert, kann alles schaffen"

Olympia mutierte längst, anders als es die Neugründer 1896 erhofften, zu einem verbissenen Spektakel, das die messbare Leistung vergöttlicht und für kulturelle Qualitäten keine Wahrnehmung besitzt. Diese kulturelle Sprachlosigkeit der Spiele zeigt sich bei Olympia als "Nationalismus light", der geradewegs satirische Züge trägt. So wurde der innerdeutsche Wettbewerb vormals als Systemvergleich praktiziert, was letztlich dann zum Nachteil des real existierenden Sozialismus geriet, weil "Coke" eben doch das bessere Doping-Mittel ist. Vordergründing war dieser Systemvergleich vor allem deshalb so praktisch, weil diese Art von gesellschaftlichem Wettbewerb einer noch dem Dümmsten nachvollziehbaren Arithmetik folgte, ohne humane oder gesellschaftliche Qualitäten näher angeben zu müssen.

Fröhlich, kulturell oder human ist der um sein vormaliges Wesen gebrachte Sport auch heute nur als Show aufbereitet, während sich dahinter das Entfremdungsschema der Leistungsgesellschaften vollzieht. "In China ist das ein Job. Ye Shiwen wird für das Schwimmen bezahlt. Sie macht nur ihre Arbeit", erläutert die Journalistin Xin Zhou. Diese Ehrlichkeit ist medaillenwürdig, wenngleich sich nicht nur hier die Frage nach dem Kinder- und Jugendschutz aufdrängt. Die 16-jährige chinesische Superschwimmerin macht sich ihren schnellen Reim auf die Dinge so: "Ich trainiere seit neun Jahren morgens und abends zweieinhalb Stunden. Wer hart trainiert, kann alles schaffen. Jeder kann ein Genie werden." Gewiss - und den Sozialstaat schaffen wir morgen ab, damit auch die Tellerwäscher wieder an ihr Genie zu glauben lernen.

Symptomatisch für die sportiv verbrämten Mogelpackungen Olympias sind inzwischen Irrungen und Wirrungen, die das Nationale, das im politischen Europa ohnehin vor seiner Verabschiedung steht, als völlig diffuses Feld diskreditieren. Spaniens Meistermannschaft, der so unangefochtene Welt- und Europameister, scheidet in der Vorrunde sang- und klanglos gegen Honduras aus. Doch halt, wir lernen jetzt dazu: Spanien ist gar nicht Spanien! Das Olympiateam "Rojita" ist nicht die Nationalmannschaft "Furia Roja".

Wer also die nationale Idee und ihren olympischen Schonwaschgang nicht aufgeben möchte, darf hier ein wenig begriffsstutzig bis irre werden, wenn er denn das Nationale noch länger verorten will. Dass die "kleine Rote", also die nationale Nichtnationalmannschaft, dann am Ende noch richtig ausklinkte und - aus nationalen Gründen? - heftig mit Schieds- und Linienrichter haderte, beweist eindringlich, welch fröhlich-nationaler Geist denn wirklich in der zum Sieg humpelnden Olympia-Maschine haust.

Nationalnarzisstische Kraftmaschinen

Der fröhliche Wettstreit der Völker ist eine Chimäre, eine so hohle Suggestion, dass eigentlich nur noch die Frage quält, wieso dieser gegen den Strich gebürstete Nationalitätenmythos wider jede Vernunft hartnäckig weiter behauptet werden darf. Was hat die Leistungsfähigkeit eines Sportlers mit der Nation zu tun, aus der er (vermeintlich) kommt? Wäre es aber so, ließe sich vielleicht der Vergleich der Leistungsfähigkeiten unterschiedlicher Nationen auch ohne große Anstrengung als Rassismus beschreiben.

Dass offensichtlich der Vorwurf nicht aus der Mode kommt, demonstrierte noch gerade der "shitstorm" wider die österreichische Obfrau Barbara Csar auf Twitter, sie sei eine "Rassistin" - was dann die übliche Riposte eröffnet, ob die Ankläger nicht selbst Rassisten sind. Touché!? Angeblich habe Csar die Südkoreanerin Shin A Lam im Degenkampf gegen die Deutsche Britta Heidemann um den Sieg gebracht. Letztlich ging es um die olympiatypische Frage, ob der Treffer von Heidemann noch innerhalb der letzten Sekunde platziert wurde. Oder in der surrealen Sprache der olympischen Spitzfindigkeiten: Ist eine Sekunde eine Sekunde eine Sekunde?

Der bildträchtige Auftritt der unterlegenen Kombattantin hatte seinen höchsteigenen Geschmack, den einige Kommentatoren aus unerfindlichen Gründen für ikonisch bewahrenswürdig hielten. Vielleicht hätte die IOC-Spielleitung Shin A Lam moderat mitteilen sollen, dass solche Auftritte nicht der Sache, weder ihrer noch der der Spiele, förderlich sind. Weit gefehlt! Der Fechtweltverband (FIE) will ihr nun "irgendeine Art von Medaille" zukommen lassen, die wir ihr von Herzen gönnen, uns aber zu neuen Fragen veranlasst.

Sollte man das starre triadische Medaillensystem nicht so aufspreizen, wie es die Spiele ohnehin schon sind? Messing-, Zink-, Blei- und Blechmedaillen, sodass schließlich keine(r) leer ausgehen müsste, würden alle narzisstischen Gelüste befriedigen. Sondermedaillen für diverse emotionale Zustände, idiosynkratische und infantile Spezialbefindlichkeiten wie "Ich war fast genauso schnell", "Zweiter (Dritter usf.) Sieger", "Tränen lügen nicht" tun Not. Auch die universal einsetzbare Metallmitteilung "Ich war auch dabei" bis hin zu einer dem Geist der "Goldenen Himbeere" nachempfundenen "Beleidigten-Leberwurst-Medaille" könnten Abhilfe schaffen, um die kranke Gier nach Auszeichnung zu befriedigen.

Zum Leistungsunfug der Hundertstelsekunden passte je die Kleinigkeitskrämerei von unübersichtlichen Prämiensystemen. Ob nun im Fall der weinenden Südkoreanerin Parteilichkeit herrschte oder nicht, ist nicht die entscheidende Frage, zudem nicht nur bei Sportgerichten Vorurteilsstrukturen kaum justiziabel sind. Entscheidend und symptomatisch ist, dass offensichtlich zahllose Ressentiments gleich hinterher den offiziellen Lippenbekenntnissen des Völkerverständigungsdiskurses parat sind. Vor allem sind sie ein probates Erklärungsmodell, wenn denn das Schicksal mal wieder so gemein war, einen nicht so weit nach oben zu spülen, wie es der staatlich geförderte kindliche Eigensinn will.

Bleiben wir gegenüber der national infizierten "Unsere Mädels/Jungs holen Gold"-Trunkenheit nüchtern, reden wir von einzelnen Heldinnen und Helden, die auf welchen Wegen auch immer ein vorübergehendes, höchst ephemeres Leistungshoch produzieren. Wir sehen keine Nationen, sondern Individuen bzw. Kraftmaschinen, die zu blassen Projektionen nationaler Selbstdarstellung werden.

Die 15-jährige Goldmedaillengewinnerin Ruta Meilutyte aus Litauen wurde zwei Jahre lang in Plymouth im Rahmen des "Leander Swimming Programme" von Jon Rudd trainiert. Wie soll nun die Antwort auf die Frage lauten, welche Nation hier gewonnen hat? Sideris Tasiadis gewinnt im Kanu-Slalom Silber. Er hat griechische Eltern, was die Berliner Morgenpost zu der so überaus anspielungsreichen und hochoriginellen Schlagzeile "Ein Grieche muss Deutschland retten" veranlasste. Was uns jetzt quält: Muss dessen Medaille nun geteilt oder geviertelt werden? Um welche nationalen Aspekte geht es hier? Sind es die Gene, die Lebensbedingungen, die Fördersysteme des Sports oder doch eher in die Jahre gekommene, immer schon fatale Illusionen, die vordergründig den Spielanlass legitimieren?

Bereits diese müßigen bzw. kaum beantwortbaren Fragen machen klar, wie weitestgehend gegenstandslos die nationale Verortung von Sportleistungen ist. Sport und Nationalität sind ein flagranter Widerspruch, der das völlig verunglückte Apriori der modernen Spiele bestimmt. Eine Herrschaft, die sich dem Heldentum assoziieren will, liegt in der Logik faschistischer Regime, nicht in der von Demokratien. Die Verkoppelung von athletischer Überlegenheit mit der nationalen Herkunftsangabe ist selbst dann unplausibel, wenn sie mit einem Achselzucken oder Augenzwinkern erfolgt. Möge man zukünftig international zusammengesetzte Gladiatorentruppen ähnlich den großen Fußballclubs zu Identifikationsagenturen zusammenschmieden.

Die dem national hochgejazzten Sport folgende Heldenverehrung ist dagegen so fundamental falsch, dass deren Unwahrheit nur noch vom Staunen überboten wird, warum nicht längst die national definierte Institution "Olympia" ersatzlos gestrichen wurde. Entsprechend blass sind die Gesten, die das Nationale in seiner erträglichen Form beschwören. Der national sortierte Einlauf der Olympioniken in die Arena etwa inszeniert, was eben nur zu inszenieren ist. Niemand erklärt uns, wie man einen Menschen phänotypisch als Teil einer Nation sehen kann, wenn er eine sportliche Leistung vollbringt.

Unfair kommt manchmal weiter

Die deutsche Judoka Kerstin Thiele kassiert im Halbfinalkampf von ihrer chinesischen Gegnerin Chen Fei einen deftigen Schlag in das Gesicht. Ist diese abgerutscht oder verdient sie eine Strafe, wie es später der deutsche Trainer kommentiert? Die Szene sieht hässlich aus, der Fernsehreporter spricht zunächst von einem "gewissen Vorsatz", dann bei näherer Betrachtung von einem "klassischen Fausthieb", der in die Boxabteilung gehöre.

Allerdings wird man da auch nicht fairer behandelt. Der japanische Boxer Satoshi Shimizu schmetterte seinen aserbaidschanischen Gegner Magomed Abdulhamidov sechsmal - sportlich korrekt - auf den Boden, der daraufhin zum Sieger gekürt wurde. Der Boxweltverband der Amateurboxer korrigierte zwar die haarsträubende Entscheidung, die jede Fairness bis auf die Knochen korrumpierte. Doch viel pikanter ist dieser aberkannte Sieg vor dem Hintergrund des (selbstverständlich haltlosen) Gerüchts, Aserbeidschan habe zehn Millionen US-Dollar für zwei Medaillen an den Verband gezahlt.

Die Beispiele sind fast beliebig. Sie belegen die Tendenz, bis zum gerade noch oder schon nicht mehr Erlaubten vorzugehen, an der Grenze zur Strafe und Disqualifikation zu operieren, weil in der Logik solcher Kampfspiele der Sieg anders nicht zu erzielen ist. Das ist nicht als Ausnahme klein zu reden, sondern wie beim Doping stoßen wir hier auf die Strukturen des Sportbegriffs unreflektierter Leistungsgesellschaften. Der Vater der kulturwissenschaftlichen Spieltheorie Johan Huizinga beklagte lange vor solchen Exzessen, dass die olympischen Spiele keine kulturschöpferische Bedeutung mehr hätten, das Beste des Spiels ihnen längst ausgetrieben worden wäre. Der Ernst habe das Spiel zerstört, was Olympia phänomenologisch in das Zwischenreich einer Aggressionsform, gebildet aus Krieg, Kampf und Spiel, verschiebt.

Acht Badminton-Spielerinnen sollen laut Badminton-Weltverband WBF, aber auch den wütenden Publikumsreaktionen nach zu urteilen, absichtlich schlecht gespielt haben, um in der K.O.-Runde gegen schwächere Gegner aufgestellt zu werden. Jetzt sind sie rausgeflogen. Oder kämpfen sie inzwischen in der olympischen Schrödinger-Box, die Sieg oder Niederlage von der Unvorhersehbarkeit juristischer Entscheidungen abhängig macht?

Inzwischen wissen wir sattsam genug, dass bei Olympia die Remonstration die Fortsetzung des Leistungssports mit anderen Mitteln ist. Witzig ist, dass nun im vorgenannten Beispiel die einen ihre strategisch verordnete Schwäche zugeben, weil es die anderen doch auch gemacht hätten, während diese wiederum hartnäckig leugnen. Hier atmen wir den wahren olympischen Geist tief ein. Regelhuberei, "Beschwerderitis", List und Tücke machen die Spiele erst so richtig rund. Der Wettkampf endet nicht im Rund der Arena, an der Wasserlinie oder Mattengrenze, wenn auch noch jenseits der juristische Schulterwurf bei voller Punktwertung gelingen kann. Fernab jeder echten menschlichen Größe wird die Prä- und Postproduktion des Siegs längst von einer synergetischen Medaillenbeschaffungsmaschine bestimmt, in der Sport, Medizin, Recht und Medien über Jahre so professionell wie zynisch zusammengeschaltet werden. Mit einem olympischen Lächeln für die Ränge ist diese Art von imperialistischer Medaillenaneignungspolitik nicht mehr wettzumachen.

Aber es geht doch um die Völkerverständigung! Wie verständigt man sich eigentlich unter Freunden, wenn einer sagt: "Ich kann es besser als du! Und das ist jetzt auch amtlich!" Dass "Dabeisein" alles ist, wird durch die allfälligen Reaktionen der Sportler selbst gründlich widerlegt. Sie heulen, lamentieren, neiden es ihren Gegnern und beschweren sich ohne Ende über Entscheidungen - mit und ohne Hilfe ihrer Funktionäre. Natürlich sind Gefühle erlaubt. Doch solche Erregungen sind kein Drama, das ist nicht packend oder spannend, wie es uns sommerlochverängstigte Medien weismachen wollen. Das sind triviale, älteste Instinkte, oft kaum von infantilen Wutreaktionen zu unterscheiden, die über das rein Menschliche nur insoweit hinausgehen, als es schließlich auch noch um das Geschäft geht.

Hypersport und Körperbaustellen

Da steht ein Gewichtheber, der das Mehrfache seines Körpergewichts stemmt, und wenig Fantasie braucht es, sich seine Bandscheiben und Gelenke in nicht allzu ferner Zukunft vorzustellen - was für ein Dutzend anderer Hochleistungssportarten auch gesagt werden kann.

Hochleistungssport ist die Geschichte der Früh- und Spätschäden. Aussagekräftiger noch als der Medaillenspiegel ist die Zuordnung typischer Schäden zu den jeweiligen Sportarten bzw. die Selbstverletzungsbereitschaft von Sportlern. Olympia sollte, wenn die Gesundheitsbehörden ihre Aufgabe ernst nehmen, wie Zigaretten präsentiert werden: "Sport kann ihnen erhebliche Schaden zufügen."

Der Wahnsinn des Dopings wurde oft als Subgeschichte einer wohl unausrottbaren, evolutionär gestützten Besessenheit des Menschentiers beschrieben, unbedingt zu siegen. Doch hier geht es nicht lediglich um individuelle Exzesse oder Fehlverhaltensweisen, sondern, wie der Sportwissenschaftler Karl-Heinrich Bette ausführt, um strukturelle Prägungen, die Doping als kollektives wie zwangsläufiges Phänomen des Hochleistungsports erscheinen lassen.

Aristoteles, den antiken Spielen näher als wir, plädierte in allen menschlichen Angelegenheiten dafür, das rechte Maß zu finden. In diesem humanen Selbstbezug könnte Sport seine kulturbildende Kraft in vielen Facetten erhalten. So würden Wettbewerbe als Form friedlicher Als-ob-Kämpfe funktionieren, wären Siege wie Niederlagen erträglich. Vielleicht würde sogar der bei den uns geläufigen Eskalationsspielen fundamental korrumpierte Trostspruch "Dabeisein ist alles" seinen Sinn zurückgewinnen.

"Mens sana in corpore sana" war je ein simplizistisches bis falsches Versprechen, das Vitalitätsideale propagiert, die weder einer philosophischen noch psychologischen Kategorisierung standhalten, vor allem aber nicht den konkreten "Befindlichkeiten" von zum Äußersten getriebenen Akteuren, denen ihr Geist so lästig wie ihr Körper wird. Wenigstens die Verlierer müssen auf die Couch. Timo Boll, im Achtelfinale gescheitert, hat das jetzt tendenziell erkannt: "Ich weiß nicht, ob ich vielleicht zu einem Psychologen hätte gehen müssen. Man steht am Tisch und verkrampft."

Bei einer so verkrampften Veranstaltung wie Olympia ist es an sich kein Wunder zu verkrampfen. Und wenn zu den zahllosen Medaillenbeschaffungsmedien noch einige veritable Psychologen, Analytiker, Geisterbeschwörer etc. hinzutreten, ist das nicht systemfremd. Aber denken wir das zu Ende. Es geht - wenn wir nun die krachbunten Fassaden vergessen - darum, dass gut geölte Terminatoren ohne psychischen Ballast ihre Gegner "schrotten". Letztlich wäre eine Roboter-Olympiade sportlich fairer und zudem menschlich und kulturell befriedigender. Olympioniken brauchen wir, die außer der Siegschaltung über keine überflüssigen Verdrahtungen einer unzuverlässigen Psyche klagen müssen, die nicht gedopt werden können, weil sich der Begriff bei einer nur auf Sieg hin konstruierten Maschine auflöst. So weit sind wir trotz der allgegenwärtigen Fetischisierung der Leistung leider noch nicht.

Zwar behauptete der Philosoph La Mettrie schon Mitte des 18. Jahrhunderts, der Mensch sei selbst eine Maschine. Doch die wundervollen Aporien, die uns heute im Blick auf die Körperpaläste verschiedenster Bauart, aber in gleich bleibender HD-Qualität heimsuchen, lassen sich damit nicht erklären. Letztlich heiligt hier der Zweck das sauerstoffreiche Eigenblut oder Muskeln, die wie mit dem Blasebalg aufgepumpt erscheinen. Ohne knallharte Kontrollen würde die Sportlichkeit mancher Athleten kaum so weit reichen, für eine Viertelsekunde Beschleunigungsvorteil nicht die eigene Existenz oder die besseren Teile von ihr zu riskieren. Wir wittern in jedem Erfolg unsaubere Vorbereitungen, jahrelangen Missbrauch und gerne auch "gender trouble", wenn erst die in den Körper eingeschmuggelten oder kaschierten Hormone die Leistung garantieren. Kinder werden zu Athleten verbogen, unselige Leistungsimperative an wehrlose Schutzbefohlene verordnet und als Ausgleich für jahrelange Schinderei gibt es dann ein wenig Pseudoglamour für einige Minuten. Sie und andere Protagonisten eines verlogenen, um sich selbst gebrachten Hypersports durchleiden die leitmotivisch korrekte Fortführung der fiesen Leistungsgesellschaft mit unsportlichen Mitteln.

Aber langsam gewinnen wir Geschmack daran: Das heimlich Schönste an Olympia könnte doch die pervertierte Dialektik dieser technoiden Menschenaustreibung und Robotisierung sein. Und im Übrigen warten wir doch insgeheim auf den Skandal, der diesen oder jenen Star tief in den Abgrund des (Un)Menschlichen fallen lässt. Denn wenn das Drama der Hundertstelsekunde auf Dauer öde ist, so kompensiert uns der Skandal, der sich daran entzündet, dass verlogene Ideale auf die Pseudotugenden postmoderner Ersatzhelden stoßen.

Mehr Drama, Baby

Ohne Streithansel, Spielverderber, beleidigte Leberwürste und unprofessionelle Verlierer wäre Olympia noch langweiliger als ohnehin. Die "Tribute von London" haben es schwer zu punkten, weil im Bereich der Mikromessungen, der Vielzahl der Veranstaltungen und unprofessioneller Selbstdarsteller emotionale Akte wie Surrogate des wahren Lebens erscheinen. SportlerInnen, die ihre Arme hochreißen oder in die Kamera schreien, sind ikonografische Dutzendware. Da droht jeder Amoklauf olympische Lauf- und Springleistungen im Sauseschritt zu überholen, so sehr wir uns auch der friedlicheren Suggestion ergeben möchten, das sei spannend. Jene antiken Spiele endeten dagegen schon mal mit dem Tod des Protagonisten, was allerdings einigen Zweifel an deren Spielcharakter begründet.

Entsprechend dürftig sind die Möglichkeiten der emotionalen Teilhabe des Publikums. Die Gespräche in den Sportstudios stottern sich am Ergebnis entlang, ohne dass man dafür je eine Medaille vergeben könnte: "Was fühlten Sie nach dem Sieg/Niederlage?" Die Reaktionen der Sportler illustrieren eines der ältesten Probleme der Philosophie des Geistes: Was können wir über subjektive Erlebnisgehalte (qualia) überhaupt wissen? Wie vollzieht der Homo sedens vor dem Monitor nach, was es heißt, wenn dem Deutschen Ruder-Achter die "Beine brennen"? Schwimmer Markus Deibler fand eine luzide, jedem nachvollziehbare Antwort auf seinen inneren Zustand, als er noch davon ausgehen musste, nicht im Finale zu stehen: "Das ist Scheiße..."

Regelmäßig aber erleben wir sonst wie hilflos solche Selbstbeschreibungen und ihre vergebliche Aufheizungen durch Sportjournalisten sind, die sich dem Spektakel und seiner rhetorischen Überbietung verpflichtet wähnen: "Ich kann das jetzt noch gar nicht fassen." Von einer mimetischen Spielpraxis, die der Sozialwissenschaftler Gunter Gebauer als "Soziale Sinnlichkeit" erfassen will, sind die redundanten Untertitelungen dessen, was man zwar sieht, aber nicht fühlt, meilenweit entfernt.

"Mehr Drama, Baby" würden wir uns wünschen, wenn wir nicht wüssten, dass dieses Setting der Millisekundenbesessenheit und nationalen Panini-Bildchen wenig Chance dafür bietet. Die von den Sportstudios beschworenen Bilder passen nahtlos in die gesamte Pseudoästhetik, etwa jener der Eröffnung, die deutlich macht, dass bunter Ringelpiez zwischen Ritualen und Reigen sich nie zu einem berührenden Symbol formen kann. Die Olympia-Ästhetik müsste, mehr noch als die Akteure, dringend gedopt werden.

Schlussrunde

Der letzte und härteste Einwand gegen Olympia und selbstverständlich zweitausend andere Sportwettbewerbe zwischen Welt- und Dorfmeisterschaften ist die weit reichende Kontingenz des Geschehens. Anders und tautologisch formuliert: Ist der wirklich besser, der besser ist?

So wie es bereits Fußballmeisterschaften zeigen, hängt der Erfolg jederzeit am seidenen Faden. Einige Zentimeter, ein "mentales" Kurztief, vielleicht ein Sack in China und schon bist du Meister oder bist es längste Zeit gewesen. Zehntel- und Hundertstelsekunden, die optisch nicht oder kaum noch Eindruck machen, sollen dann der Unterschied sein, der einen Unterschied macht. Was besagen solche olympischen Ergebnisse? Nichts, denn die Umstände ihrer kontingenten Entstehung belegen ein um das andere Mal, dass Fähigkeiten, Wille und der Rest der sportlichen Tugenden als Erklärung für den Erfolg keineswegs ausreichen.

Und selbst wenn wir dem allfälligen Beschwörungsgeschwafel von fairem Wettbewerb und allen höheren Menschheitstugenden erliegen sollten, das uns Sportstudios zusammen mit dem jeweiligen Skandal so durch und durch widersprüchlich verabreichen, gilt doch, dass der "Triumph des Willens" bestenfalls eine sekundentaugliche Massensuggestion ist. Gendertechnisch zusammenfassend können wir Olympia als phallozentriertes Großereignis abhaken, wo Erlebnisse und Erfahrungen unter der Herrschaft des (Milli)Metermaßes und der Stoppuhr jeden Inhalt verlieren, wo mit ähnlichem Anspruch sich Menschen ebenso gut Potenzmeiereien anderer Art widmen könnten.

In dem Moment, in dem sich die bedingten Qualitäten des deutschen Fördersystems, das von der Fechterin Imke Duplitzer gerade noch scharf kritisiert wurde, erweisen, wäre doch ein guter Zeitpunkt aufzuhören. Der olympischen Idee die Ehre zu erweisen heißt, Olympia in seiner degenerierten Form zu vergessen. Kaiser Theodosius I. verbot 393 n.Chr. Olympia, weil ihm die heidnischen Kulte zuwider waren. Mehr Heidentum bei den gegenwärtigen Spielen würde uns zwar nicht stören. Aber das Problem des Theodosius I. ist mutatis mutandis auch unseres.

Die Abstraktheit wetteifernder Körper bietet augenscheinlich auch heute noch eine großartige Projektionsfläche für zweifelhafteste Interessen vieler Art. Statt des schlecht verhüllten Kriegs nationaler Körper würden wir entschieden die Kultur der Ai Weiwei, Pussy Riot und aller anderer künstlerischen Störenfriede vorziehen, weil die erst den Geist ihrer Nation so präsentieren, wie es die Fassadenspiele Olympias jederzeit verfehlen.