Schattenbann-Welle im deutschen Twitter
CDU blamiert sich mit "Staatstrojaner zum Download"
Nachdem die Große Koalition letzte Woche die Ausweitung des Staatstrojanereinsatzes auf Allerweltsdelikte beschloss (vgl. Staatstrojaner im doppelten Sinne), twitterte die CDU dazu: "Der #Bundestag hat den Staatstrojaner beschlossen - und natürlich kann man ihn bei uns herunterladen - Nicht. ;" Das sollte in Sozialen Medien womöglich "locker" wirken, kam dort aber eher als Bürgerverhöhnung an, worauf hin die Partei den (bis dahin schon massenhaft gespeicherten und parodierten) Tweet kommentarlos löschte. FDP-Generalsekretärin Nicola Beer nahm diese Steilvorlage auf und twitterte: "Hat ihn Heiko Maas wegzensiert?"
Das ist zwar beim nach hinten losgegangenen Staatstrojanertweet der CDU eher abwegig - bei zahlreichen anderen Tweets jedoch nicht. Zumindest dann nicht, wenn man die indirekte Drohwirkung von Maas' "NetzDG" mit einbezieht, über dessen Details sich die Koalitionsparteien übereinstimmenden Medienberichten nach inzwischen einig sind. Sogar die New York Times sieht den SPD-Politiker als wichtige Ursache für die Massenzensur von deutschen Nutzern des Kurznachrichtendienstes und fragt: "So what is Twitter supposed to do when caught between its users’ interests in a broad debate and an ambitious leftist minister with ideological guidelines that, if in doubt, rule against free speech?"
Massenhaft "Shadowbans", die die Betroffenen selbst nicht merken
Unter den zensierten Tweets der letzten Tage befindet sich unter anderem einer des FDP-Politikers Tobias Huch, in dem er die große Teilnehmerzahl beim Berliner al-Quds-Aufmarsch mit der bei Lamya Kaddors Kölner Nicht-mit-uns-Demonstration vergleicht. Die Sperre dieses Tweets in Deutschland will Twitter "aus Gründen der Privatsphäre und Sicherheit" nicht kommentieren. Gleiches gilt für ein zensiertes Bibelwort von Eliyah Havemann, dem in Israel lebenden Sohn von Wolf Biermann. Viele weitere User - darunter auch bekannte Journalisten - hat man "schattengebannt". Ihre Tweets erscheinen nur noch bei ihren Abonnenten, aber nicht mehr in der Öffentlichkeit. Sie selbst werden über diese Sperre nicht informiert.
Von den Betreibern Sozialer Medien unbeanstandet blieben dagegen beispielsweise ein vom Bundesverkehrsministerium unterstütztes Kampagnevideo, das man als Aufforderung ansehen könnte, Selbstjustiz gegen Handynutzer am Steuer zu verüben, Videos der SJW-Aktivistin Anita Sarkeesian, in denen sie einen YouTuber auf der VidCon als "shithead" und "garbage human" beschimpft, und ein SJW-Kampagnemobbing gegen den Daimler-Blogger Sascha Pallenberg (der dem Spuk über Abmahnungen selbst ein Ende machen musste).
Den Schluss, den viele Social-Media-Nutzer daraus ziehen, hat ein Twitter-User mit dem Pseudonym "Frank Covfefe" in einem sarkastischen Tweet zusammengefasst, in dem er [scheinbar] auf Äußerungen von Christopher Lauer und Julia Schramm anspielt und meint: "Der einzige Schutz vor einer Twittersperre scheint ein Parteibuch der SPD zu sein oder der Wunsch, Dresden zu bombardieren" (vgl. Bombergate und R2G twittert "ACAB").
Zensur als Teil des Wahlkampfs?
Nicht wenige Nutzer vermuten, dass persönliche und parteiliche Interessen von Maas und anderen Politikern eine nicht zu vernachlässigende Rolle dabei spielen, das Gesetz noch vor der heißen Phase des Bundestagswahlkampfs zu verabschieden. Maas' Verlagssprecherin Felicitas von Lovenberg bekräftigte diesen Verdacht wahrscheinlich ungewollt, als sie meinte: "Wenn es eines Relevanznachweises für das wichtige Buch von Heiko Maas bedurft hätte, so liefern ihn […] die tendenziösen und hasserfüllten Bewertungen des Buches im Netz" (vgl. Kritik weicht von Facebook und Twitter auf Amazon aus). Trotz der dadurch entstandenen Aufmerksamkeit verkauft sich das Buch des Justizministers NovelRank nach mit 29 Exemplaren im Mai und weiteren 45 in Juni bemerkenswert schlecht.
Auf Twitter gibt es inzwischen einen Countdown, der die verbleibenden Tage von Heiko Maas als Bundesminister zählt. Viele User hoffen öffentlich, dass es nach der Bundestagswahl zu einer Koalition mit der FDP kommt. Die plant nach Angaben von Johannes Vogel eine Verfassungsklage gegen den erweiterten Staatstrojanereinsatz, den Parteichef Christian Lindner als "noch weniger mit einem liberalen Rechtsstaat vereinbar als die Vorratsdatenspeicherung" bezeichnet (vgl. Staatstrojaner-Gesetz: Nächster Halt Bundesverfassungsgericht).
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