Schauprozess am Fernsehpranger
Seite 2: Monströse Einseitigkeit
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Man muss Michael Jackson trotzdem nicht mögen, man kann ihn "seltsam" finden - "a weirdo" (Richard Roeper), es "bizarr" und geschmacklos oder sogar "beunruhigend" nennen, dass er sich mit Dutzenden von heranwachsenden Jungen umgab - aber fast keiner von ihnen hat je von fragwürdigem Verhalten des Stars berichtet. Dass Jackson ein "Kinderschänder" ist, dass er auch nur pädophile Neigungen hatte, ist einstweilen vollkommen unbewiesen.
Zugleich gibt es massive Zweifel an der Glaubwürdigkeit zumindest von Wade Robson, einem der zwei angeblichen Opfer. Nach der Premiere des Films gab es neben Beifall auch viel Kritik an Machart und Machern. In einer mehrseitigen Reportage berichtete das amerikanische Magazin "Forbes" über Wayne Robson, den Kronzeugen.
Während zweier Strafprozesse hatten Robson und Safechuck - auch dort bereits im Erwachsenenalter - als Zeugen der Verteidigung Michael Jackson entlastet und ausgesagt, von Jackson nie belästigt oder gar missbraucht worden zu sein. Robson hatte seine Aussagen unter Eid und im Kreuzverhör wiederholt. 2009 schrieb Robson, immerhin mit 27, einen schwärmerischen Nachruf.
Was hat sich seitdem geändert? Einiges: 2011 bat Robson die "Michael Jackson"-Stiftung um eine Stelle. Sie wurde ihm verweigert. Film- und Buchprojekte über Jackson scheiterten, wie überhaupt Robsons eigene Karriere als Tänzer und Schauspieler.
"Forbes" kommt auch auf Michael Jacksons Lieblingsbuch zu sprechen: "Wer die Nachtigall stört" handelt von einem jungen Schwarzen, dessen Leben zerstört wird - durch falsche Anschuldigungen.
Dass "Leaving Neverland" monumentale vier Stunden braucht, um diese Anklage aufzubauen und wieder und wieder zu reproduzieren, schwächt den Eindruck enorm. Es wirkt, als glaubten die Ankläger sich selber und ihren eigenen Argumenten nicht, müssten durch Masse wettmachen, was an Stichhaltigkeit fehlt. Die Länge ist so übertrieben, wie die Einseitigkeit dieses Films monströs ist.
Fehlende Medienkompetenz im TV-Schauprozeß
Monströs ist auch die Neigung des internationalen Publikums, sich zu schnellen und absoluten, vollkommen einseitigen Urteilen aufzuschwingen. Reflexionsverweigerung und ein Drang nach Vereinfachung halten Einzug in unsere Gesellschaft. Deshalb glauben wir schnell und gern, was wir zu sehen glauben - dieser Film verbreitet Indizien einer bestimmten Sichtweise und kommentiert sie so saftig wie selbstgewiss - "Fake News" in Reinform.
Unabhängig von der Frage, wem man am Ende Glauben schenken mag, ist es erstaunlich, wie wenig Medienkompetenz in der überwiegenden Berichterstattung zu diesem Film erkennbar wird: Zeugenaussagen und die suggestive konstruierte Wirklichkeit eines Dokumentarfilms wird als Tatsache wiedergegeben, die bisherige Prozessgeschichte wird überhaupt nicht beleuchtet, legitime Einwände werden ignoriert. Ebensowenig werden die kommerziellen Interessen eines Dokumentarfilm und eines Fernsehsenders berücksichtigt.
Dieser Befund stimmt traurig, wie auch die wachsende Bereitschaft, rechtsstaatliche Grundsätze über Bord zu werfen: "Im Zweifel für den Angeklagten"; "Kein Urteil ohne Verteidigung und fairen Prozeß" - was wir gegenüber Diktaturen selbstverständlich einfordern, ist im öffentlichen Schauprozess des Trash-Fernsehens schnell vergessen.
Der Film beschreibt Prozesse der Abhängigkeit und der Verführung - der Verführung durch Ruhm wie durch Reichtum. Der erliegen auch jene, die hier versuchen, ein Spektakel zu inszenieren über einen Toten, der sich nicht mehr wehren kann.
Dieser Film und die so oder so unangenehme, schmierige Kapitalisierung des Themas Pädophilie, Missbrauch und allem, was es umgibt, sind eine Mahnung, innezuhalten. Und dazu, einen angemesseneren Umgang mit diesen Themen zu suchen.
Öffentliche Hysterie und Schauprozesse am Fernsehpranger, ohne Verteidigung und mit dem Publikum als Richter schaden der Sache, so wie die Lust an moralischen Schnellverfahren unserem Charakter und der ganzen Gesellschaft schadet.
Die Monster sind nicht nur auf einer Seite. Sie sind überall.