"Schieß ihn um, den Hund von Demokraten!"

Seite 3: Erfolgreiches Regieren mit Tod: "Die Opfer sind die Schuldigen"

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Die Gedenk- und Erinnerungsgeschichte zu diesem staatsterroristischen Massaker an Iserlohner Bewohnern ist sehr deprimierend. Man ehrte allein die Träger der "Brudermordmedaille", die sich bei der Bekämpfung von aufständischen Demokraten in Süddeutschland "bewährt" hatten. Für die von Preußen auswärts eingesetzten "Gefallenen des Iserlohner Landwehrbataillons" errichtete man in Durlach gar ein stattliches Denkmal.

Nie wäre es den Hohenzollern in den Sinn gekommen, die Iserlohner um Vergebung für die gemäß Königswillen vollzogene Mordraserei von 1849 zu bitten. Vielmehr verlegten sich die Preußen darauf, der Stadt eine ewige Schande vorzuwerfen und in Umkehrung von "Opfer- und Täterrolle" nachhaltig Schuldgefühle zu produzieren. Am 18. Juni 1853 erdreistete sich Prinz Wilhelm von Preußen (später König und Kaiser), anlässlich der Grundsteinlegung für ein neues Kranken- und Armenhaus in Iserlohn vorzutragen: "Was hier im Jahre 1849 vorgefallen ist, kann man wohl vergeben, aber nicht vergessen!"

Kleinbürgerliche Geister ließen den Hohenzollern nicht nur die Schuldverdrehung durchgehen, sondern übten sich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in einer obrigkeitshörigen und abstoßenden Heimatgeschichtsschreibung:

  • Julius Köster bescheinigt 1899 in seiner (aufgrund dokumentarischer Anteile durchaus verdienstvollen) Darstellung den Iserlohnern den Wunsch nach einem einigen Vaterland und spricht ihnen das Begehren nach einer Republik ab.
  • In der plattdeutschen "Chronika van Iserliaun" (1896) wird die Iserlohner Bewegung von 1849 als große Unbesonnenheit und irregeleitetes Streben bezeichnet. Die Verfasser demonstrieren in einigen Passagen paradigmatisch, wie man über "volkstümliche" Mundartliteratur revolutionäre Persönlichkeiten als Witzfiguren vorführen kann.
  • In der Neuauflage dieser "Chronika" von 1920 findet man dann noch folgende Sühnedeutung hinzugefügt: Die jungen Iserlohner Vaterlandsmärtyrer hätten im Weltkrieg mit ihrem Blut die einstige Schande ihrer Vaterstadt wieder gutgemacht. (Hier bekommt man eine Ahnung davon, mit welchen reaktionären Geschichtsverdrehungen die Weimarer Republik von Anfang an belastet war.)
  • 1937 versucht es Dr. Wilhelm Schulte in seiner Stadtgeschichte mit einer antimarxistischen und braunen Umdeutung: Es habe "der Nationalsozialismus dem heutigen Geschlecht endlich die Erfüllung all dessen gebracht [...], wonach unsere Väter sich 1848/49 gesehnt haben: Arbeit und Brot, einen Führer, ein einiges deutsches Volk".
  • Noch am 26.5.1949 werden bei einer Iserlohner Gedenkfeier gerade nicht die wirklich fortschrittlichen Persönlichkeiten in den Mittelpunkt gerückt. Wer freilich als ehemaliger Revoluzzer seine "Jugendsünden" später bereut hat, findet bei den "Revolutionsexperten" der Nachkriegszeit Gnade.
  • 1954 veröffentlicht der schon genannte W. Schulte sein Opus "Volk und Staat" über Westfalen im Vormärz und 1848/49. Diese Arbeit erschließt viele wichtige Quellen, doch die Tendenz des ehedem führertreuen Autors fällt noch immer äußerst irritierend aus.

In der Ära der preußischen Reaktion, im Kaiserreich und unter den deutschen Faschisten trug man dafür Sorge, dass das Gedenken an die 1848er Demokraten nachhaltig unterdrückt wurde. Nicht Bürgerliche, sondern Sozialisten hüteten das Banner Schwarz-Rot-Gold. Auch nach 1945 konnte viel eher ein brauner "Kulturschaffender" mit seinem Namen auf ein Straßenschild kommen als ein fortschrittlicher Pionier der demokratischen Bewegung.

Bezogen auf die von Arbeitern ausgelöste "Iserlohner Revolution" haben erst zwei Ausstellungsprojekte der Jahre 1974 und 1999 angemessene Zugänge erschlossen. Eine populäre und zugleich wissenschaftlich fundierte Publikation liegt leider noch immer nicht vor.

Jeder Leser mag anhand einer fotografischen Darstellung selbst entscheiden, ob man das verdrahtete Grabzeichen auf dem Iserlohner Hauptfriedhof schon als hinreichendes und würdiges Denkmal für die zivilen Opfer des Himmelfahrt-Massakers der preußischen Soldateska betrachten kann.

Nachbemerkung: "Volkes Stimme"?

Unter dem Label "Volkes Stimme" hatten sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert bekanntlich nicht nur fortschrittliche Kräfte versammelt. Nach Niederschlagung der Revolution blieben völkischer Germanenwahn, Antisemitismus und nationalistische Hetze gegen den Weltbürgergedanken der Aufklärung die wirksamsten Mittel, das Volk fernzuhalten vom Kampf für Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Die Völkischen und Rassisten unserer Tage bedienen den gleichen Komplex.

Derweil wollen die Nachfahren der bürgerlichen Freiheitsfreunde immer noch nicht begreifen, dass die Dynamik des Kapitalismus mit Demokratie unvereinbar ist und uns geradewegs in ein neues autoritäres Zeitalter treibt. Auf Zukunft hin sei bedacht: Gewalttätiges Aufbegehren von unten ist allen hochgerüsteten Systemen, "die mit dem Tod uns regieren" (Kurt Marti), willkommen. Die Herrschenden fürchten keine uniformierten Spiegelbilder ihrer Militärreligion, sondern nur Bewegungen, die anzeigen, dass ein anderes Menschsein und ein anderes Zusammenleben hier und jetzt beginnen können.

Es bleibt die Hoffnung, dass die sozialen Bewegungen der Gegenwart das Wissen um die einzige erfolgreiche Kultur- und Widerstandsform vermehren, von der die Iserlohner Revolutionäre im Jahr 1849 freilich noch kein ausgeprägtes Bewusstsein haben konnten: Nonviolence.

Literatur

  • Bürger, Peter: Liäwensläup. Fortschreibung der sauerländischen Mundartliteraturgeschichte bis zum Ende des ersten Weltkrieges. Eslohe 2012, S. 302-313.
  • Klueting, Harm: Geschichte Westfalens. Das Land zwischen Rhein und Weser. Paderborn: Bonifatius 1998, S. 288-289.
  • Köster, Julius: Die Iserlohner Revolution und die Unruhen in der Grafschaft Mark Mai 1849. Nach amtlichen Akten und Berichten von Zeitgenossen dargestellt. Berlin: Reuther & Reichard 1899. [Digitalisat]
  • Reininghaus, Wilfried / Conrad, Horst (Hg.): Für Freiheit und Recht. Westfalen und Lippe in der Revolution 1848/49. Münster: Aschendorff 1999.
  • Schulte, Wilhelm: Volk und Staat. Westfalen im Vormärz und in der Revolution 1848/49. Münster: Regensberg 1954.
  • Schulte, Wilhelm: Zustände und Vorgänge in Iserlohn und Hagen 1841/49. Aufzeichnungen des Karl Wilhelm Sudhaus (1827-1915). In: Stadt Iserlohn (Hg.): Fritz Kühn zum Gedächtnis. Beiträge zur Geschichte Iserlohns. Iserlohn 1968, S. 106-122.
  • Stadt Iserlohn (Hg.): Iserlohn in der Revolution 1848/49. = Beiträge zur Geschichte Iserlohns. Band 20 (Darstellungen und Quellen) und 21 (Eine Spurensuche). Iserlohn: Selbstverlag der Stadt 2000.
  • Uhlmann-Bixterheide, Wilhelm / Hülter, Carl: Chronika van Iserliaun. Ernste und lustige Geschichten iut oaller un nigger Tëit. [=Bibliothek niederdeutscher Werke Band 18; Erstauflage 1896]. Zweite, erweiterte Auflage. Leipzig: Lenz 1920.

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