Schlafwandeln in die Krise: Joe Bidens Kandidatur wird zum großen politischen Risiko
US-Demokraten in Aufruhr: Der Präsident soll das Rennen verlassen, fordern prominente Partei-Mitglieder. Doch dazu wird es kaum kommen.
Vier Jahre lang hätten Joe Biden und die demokratische Partei Zeit gehabt, einen starken Nachfolger aufzubauen, aber sie haben es versäumt. Jetzt gibt es Panik und Entsetzen, nicht nur in den USA.
Der Westen stehe sehenden Auges am Abgrund – so war es am Dienstag in der SZ zu lesen. In dem Essay geht es um mehr als die US-Präsidentschaftswahl im Herbst dieses Jahres. Es geht um die geistige Verfassung im Westen.
Aufgezählt werden im Panoramablick des Autors Gustav Seibt neben der US-Wahl die Aussichten der laufenden Parlamentswahl in Frankreich, der Ukraine-Krieg, der Brexit und die Krim-Besetzung 2014 – als exemplarische Ereignisse, die von Experten zuvor für unwahrscheinlich gehalten wurden und nun, wie der Sieg Trumps im November, für wahrscheinliche Szenarien sorgen, die den Westen durch leichtfertige Risikopolitik an einen Abgrund führen.
Schlafwandeln als Mindset
Der Begriff "Schlafwandler", aufgestellt vom britischen Historiker Christopher Clark in seinem Buch über die Vorgeschichte des 1. Weltkriegs, sei derzeit in aller Munde, wenn es um die Analyse der aktuellen Wirklichkeit gehe. Aber: "Wir sind keine Schlafwandler". Man könne doch sehen, was passiert.
Und jetzt komme es auf einzelne Entscheidungen an.
Wie kann man, so fragt Seibt, in der gegenwärtigen Lage, in der sich die USA wie das westliche Bündnis befänden, "den Fortbestand dieser Ordnung an die fragile Gesundheit eines Greises knüpfen"?
Das sei eine bewusste Leugnung und Schlafwandeln. Da es eine "bewusste Entscheidung" dafür sei, "mit Gefahren einfach nicht mehr weiter zu kalkulieren". Also ein mentaler Modus, der nicht mehr mit Risiken kalkuliert.
In den USA hat der "Das kann doch nicht wahr sein"-Fernseh-Auftritt des amtierenden Präsidenten zu Panik und Entsetzen geführt, selbst in den großen Medien, die Biden bislang unterstützten.
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Haugemachtes Debakel
Der Auftritt des alten Mannes wirkte so erbärmlich, dass man als Zuschauer fast vergessen konnte, dass der 81-Jährige sein Schicksal selbst gewählt und sogar mit aller Macht erzwungen hat. Immerhin war es Biden, der trotz aller Bedenken wegen seines Alters und alter Wahlversprechen, darauf bestanden hatte, noch einmal gegen Trump in den Ring zu steigen.
Auch waren es Joe Bidens Wahlkampfstrategen, die eine frühe erste Debatte im Juni gefordert hatten, wahrscheinlich um so, früh in der heißen Phase des Wahlkampfs, die Oberhand über einen gerade frisch verurteilten Donald Trump zu gewinnen.
Rücktrittsforderungen
Van Jones, bekennender Biden-Fan und derzeitiger politischer Kommentator bei CNN, bekannte direkt nach der Debatte:
Ich liebe diesen Mann. Das ist ein guter Mann. Er liebt sein Land. Er tut sein Bestes, aber er hatte heute Abend eine Prüfung zu bestehen, um das Vertrauen des Landes und der Basis wiederherzustellen, und er hat es nicht geschafft. Und ich glaube, es gibt viele Leute, die sich wünschen, dass er jetzt einen anderen Kurs einschlägt.
Wir sind noch weit von unserem Parteitag entfernt, und es ist noch Zeit für diese Partei, einen anderen Weg zu finden, wenn er uns das erlauben wird. Aber das war nicht das, was wir von Joe Biden gebraucht haben, und es ist für viele Menschen persönlich schmerzhaft. Es ist nicht nur Panik, es ist Schmerz über das, was wir heute Abend gesehen haben.
Van Jones, CNN
Einen Tag später meldete sich das Editorial Board der New York Times mit folgendem Titel zu Wort: "To serve his country, President Biden should leave the race." ("Um seinem Land zu dienen, sollte Präsident Biden das Rennen aufgeben.")
David Remnick, Chefredakteur des Magazins The New Yorker behauptete bezüglich Joe Bidens fortgeschrittenem Alter: Es läge keine Scham darin, alt zu werden, aber Ehre darin, die Anforderungen des Moments zu erkennen. Die führende Zeitung im Mittleren Westen der USA, Chicago Tribune, erklärte, man könne nur mit einem Wort auf eine solche TV-Debatte reagieren: "Genug".
Sowohl die Washington Post als auch das Wall Street Journal rieten dem Präsidenten in sich zu gehen und in Betracht zu ziehen, den Wahlkampf jüngeren Kolleginnen und Kollegen zu überlassen, sahen aber von einer direkten Rücktrittsforderung ab.
Biden gibt nicht auf
Doch Biden will an seiner Kandidatur festhalten. Aufgeben wolle er nicht, beschied er.
Zwar reagierte Joe Biden zunächst ungewohnt ehrlich auf die mittlere Katastrophe des TV-Duells. Im Rahmen einer Wahlkampfrede am vergangenen Freitag räumte der 81-Jährige während einer Rede ein, er laufe nicht mehr so leicht wie früher, er spreche nicht mehr so flüssig wie früher und diskutiere nicht mehr so gut wie früher.
Dann zog sich der Präsident mit seiner Familie ins Camp David zurück. Dort wurde Biden, laut Politico, von seinem "innersten Kreis" in seiner Absicht bestärkt, den Wahlkampf weiterzuführen. Die Schuld für das aktuelle Debakel sucht die Familie angeblich bei engen Wahlkampfberatern des Präsidenten.
Gestern erklärte Biden sein ärmliches Auftreten damit, dass es nicht sehr klug gewesen sei, kurz vor dem Duell "mehrmals um die Welt zu reisen und dabei etwa 100 Zeitzonen zu durchqueren" (Spiegel). Er sei auf der Bühne fast eingeschlafen.
Das solle man nicht als Entschuldigung verstehen, sondern als Erklärung. Wie steht es dann aber mit seinen Fähigkeiten, Strapazen, die zum Posten des US-Präsidenten gehören, durchzustehen?
Rückendeckung von Politik-Veteranen
Ein paar der mächtigen Mitglieder der Demokratischen Partei eilten Joe Biden nach einer kurzen Schockstarre zu Hilfe. So konnten die US-amerikanischen Zuschauer schon am Sonntag wieder CNN einschalten, um Nancy Pelosi zu hören, wie sie nicht nur Joe Bidens TV-Duell-Performace verteidigte, sondern auch gleich noch erklärte, Trump sei eigentlich derjenige mit Anzeichen von Demenz.
Wie bereits im letzten Wahlkampf gegen Trump, ließ es sich Obama auch dieses Mal nicht nehmen, seinem ehemaligen Vizepräsidenten in Not beizustehen. In einem X-Post erklärte Präsident Barack Obama, schlechte Debattenabende kämen eben vor, das wüsste er aus eigener Erfahrung. Diese Rückendeckung von höchster Stelle hatte Biden zu diesem Zeitpunkt bitter nötig.
Doch ist mit der Rückendeckung der beiden Veteranen nichts beruhigt. Wie die Kritik an Biden, die neuerdings aufflammt, vorführt.
Demokraten befürchten Wahldebakel
Sie kommt aus den Reihen der Demokraten, wie die New York Times berichtet: "Demokraten gehen mit Panik über Biden an die Öffentlichkeit, da sie ein Wahldebakel befürchten". Demnach äußerten mehrere namentlich genannte Politiker der Partei Bidens öffentlich ihre Besorgnis über dessen Eignung für eine Wiederwahl und die Auswirkungen auf die Partei, insbesondere in Bezug auf die Kontrolle des Senats und des Repräsentantenhauses.
Auch CNN berichtet, dass sich nun mehr und mehr führende Demokraten zu Ort melden und Bidens Rücktritt "zum Wohle der Partei und des Landes" fordern.
"Es gebe eine große und wachsende Gruppe von Demokraten im Repräsentantenhaus, die über die Kandidatur des Präsidenten besorgt sind und die einen großen Teil der Fraktion repräsentieren", zitiert der Sender einen demokratischen Abgeordneten des Repräsentantenhauses. Man wolle ihm "Raum geben, um eine Entscheidung zu treffen, aber wir werden unsere Bedenken immer lauter äußern, wenn er nicht zurücktritt".
Biden werde am heutigen Mittwoch mit Gouverneuren und Kongressmitgliedern der Demokraten zusammentreffen, so CNN. Die Gouverneure wollten angeblich "ihre Bedenken nicht öffentlich äußern, weil sie befürchteten, dass Biden dann noch mehr nachhaken würde".
Die Zeit ist auf Bidens Seite
Aber: Schon am 8. August wird Biden voraussichtlich durch die Democratic National Convention bestätigt und könnte danach nur aufgrund von Behinderung, Tod oder Rücktritt durch einen anderen demokratischen Kandidaten ersetzt werden.
Biden hat also gute Chancen, seine angeschlagene Wiederwahlkampagne über diese erste Ziellinie zu schleppen. Bis dahin kann noch viel passieren, aber die nächste TV-Debatte ist erst für den 10. September angesetzt. Schlechte Aussichten also für all diejenigen, die glaubten, Biden noch rechtzeitig durch jemand geeigneteren ersetzen zu können.