Schneeweißchen und Rosenrot

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Klassisches Horrorkino: "Der Fluch der zwei Schwestern"

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Vater, Mutter, Kind - im Prinzip ist es diese klassische Konstellation, die auch diese Geschichte strukturiert. Nur dass die Mutter und die Kindergestalt hier gewissermaßen verdoppelt auftreten, die Dinge also mal wieder komplizierter werden. Trotzdem ist "Der Fluch der zwei Schwestern" von Thomas und Charles Guard ein Film von überraschend klassischer Ruhe, immerhin kein Verrat an seinem koreanischen Vorbild, auch wenn er dieses nicht erreicht.

Der Anfang verweist auf das Ende: "Finish what you started", "Beende, was Du begonnen hast!" - diese mehrdeutige Aufforderung, fast ein Befehl, der im Verlauf des Films als Hoffnung wie als Bedrohung verstehbar wird, fällt in den ersten Minuten des Films. Zunächst einmal sagt das ein Analytiker (muss er ausgerechnet Dr. Silberling heißen?) hier zu seiner Patientin.

Das Spiel der Therapie, sadomasochistisch strukturiert, mit seinen festgelegten Rollen, mit seinem Verlauf, der eine Katharsis erzwingt, als Kinostoff, das hat gerade Lars von Triers "Antichrist" bei den Filmfestspielen von Cannes vorgeführt. Es liegt immer ein wenig Gewalt, wenn nicht gar Sadismus in dem Druck, den ein Arzt ausübt, wenn er einen Patienten dazu zwingt, sich dem Trauma, dem Grund aller Verletzung zu stellen. Aber genau darum geht es im Horrorfilm, für die Figuren, wie für die Zuschauer… Und ein Horrorfilm mit tieferer Bedeutung - das ist auch dies hier.

Schuldgefühle und makabre Atmosphäre

Vor dem Hüttchen war ein Garten, darin standen zwei Rosenbäumchen, davon trug das eine weiße, das andere rote Rosen; und sie hatte zwei Kinder, die glichen den beiden Rosenbäumchen, und das eine hieß Schneeweißchen, das andere Rosenrot.

Märchen der Gebrüder Grimm - KHM 161

Ein bisschen sinnlos ist der deutsche Titel des US-Films "The Uninvited" bei genauer Betrachtung schon, denn um Verfluchung und andere Mystery-Elemente geht es hier weniger als um Psychologie. Das Kino, nicht zuletzt das Horrorkino, verdankt Freud viel, und es vermag Träume und Einbildungen zu materialisieren, dem Bewusstseinsinneren eines Menschen Gestalt zu geben. Dies sollte man in Erinnerung behalten bei diesem Horrorfilm, der intelligenter, subtiler und weniger gradlinig ist, als er im ersten Augenblick scheint - am Ende dann aber doch etwas durchschaubarer, als er es gern wäre.

A Tale of Two Sisters vom Koreaner Kim Ji-woon ("A Bittersweet Life", "The Good, the Bad, and the Weird") war ein überaus stylischer "Gothic Thriller", der nach seiner Berlinale Premiere 2004 weit über Korea hinaus Erfolg hatte. "Der Fluch der zwei Schwestern" ist nun dessen Hollywood-Remake, das dem Vorbild in seiner Grundidee und einigen Bildeinfällen verpflichtet ist, insgesamt aber überraschend eigenständig.

Denjenigen, die Kims Film kennen, darf man verraten, dass die Geschichte hier anders aufgelöst wird als dort. Dort waren es eine seltene Zufallskombination aus Unfall und Selbstmord, verbunden mit Schuldgefühlen, die das Geschehen strukturierte. Nur die Schuldgefühle sind noch geblieben und die makabre, mysteriöse Atmosphäre, die dem Zuschauer vermittelt, dass noch weitere Geheimnisse zu enthüllen sind, und ihn immer im Unklaren darüber lässt, welche Richtung das Geschehen als nächstes einschlägt.

"Who am I going to tell my stories to?"

Trotzdem liefert der Originaltitel einen wichtigen Schlüssel: Dies ist ein Film über Erzählungen, über Erinnerungen und Erfindungen - "tale", das heißt Geschichte wie Märchen. Schon gleich zu Beginn erzählt Anna, die Hauptfigur von einem Traum, - oder ist es eine Erinnerung? -, und wir Zuschauer erfahren, dass die junge Frau nach dem gewaltsamen Tod ihrer Mutter und einem Selbstmordversuch seit Monaten in einer Nervenklinik sitzt und gerade ein Therapeutengespräch hat. "Who am I going to tell my stories to?" sagt eine andere Patientin, eine Frage, die wie nebenbei gesprochen, auch noch Bedeutung bekommen wird. Kurz darauf wird Anna entlassen und kehrt mit ihrem Vater in das schöne alte Elternhaus zurück.

Dort wartet eine Konstellation, wie sie sich überaus ähnlich in Hitchcocks Gothic-Horror-Film Rebecca (1940) findet - ein Witwer ist neu verheiratet, doch der ungeklärte Tod der ersten Frau bedroht die zweite -, die aber zugleich auch an Grimms Märchen erinnert: Eine böse Stiefmutter gibt es, ebenso wie zwei Schwestern, gegensätzlich und doch untrennbar miteinander verbandelt wie Schneeweißchen und Rosenrot.

Gerade für das Verhältnis der zwei Schwestern ist diese Erinnerung bezeichnend:

Schneeweißchen war nur stiller und sanfter als Rosenrot. Rosenrot sprang lieber in den Wiesen und Feldern umher, suchte Blumen und fing Sommervögel; Schneeweißchen aber saß daheim bei der Mutter, half ihr im Hauswesen oder las ihr vor, wenn nichts zu tun war. Die beiden Kinder hatten einander so lieb, daß sie sich immer an den Händen faßten, sooft sie zusammen ausgingen; und wenn Schneeweißchen sagte: 'Wir wollen uns nicht verlassen', so antwortete Rosenrot: 'Solange wir leben, nicht', und die Mutter setzte hinzu: 'Was das eine hat, soll's mit dem andern teilen.'

Märchen der Gebrüder Grimm - KHM 161

Es dauert nicht lang, da sucht der Geist der toten Mutter die Schwestern heim. Die neue Frau des Vaters, Pflegerin der Mutter, könnte, so deutet sich an, etwas mit deren Tod zu tun haben. Und die immer noch - in, wie sich herausstellt, unterschiedlicher Weise - höchst labilen Tochter machen sich an die Aufklärung des Falles gegen alle Widerstände. Diese Ideen der dysfunktionalen Familie und der Geistererscheinungen von Toten erinnert an Shakespeare, in diesem Fall vor allem an "Hamlet".

Die Wiederkehr des Verdrängsten

Einmal, als sie im Walde übernachtet hatten und das Morgenrot sie aufweckte, da sahen sie ein schönes Kind in einem weißen, glänzenden Kleidchen neben ihrem Lager sitzen. Es stand auf und blickte sie ganz freundlich an, sprach aber nichts und ging in den Wald hinein. Und als sie sich umsahen, so hatten sie ganz nahe bei einem Abgrunde geschlafen und wären gewiß hineingefallen, wenn sie in der Dunkelheit noch ein paar Schritte weitergegangen wären. Die Mutter aber sagte ihnen, das müßte der Engel gewesen sein, der gute Kinder bewache.

Märchen der Gebrüder Grimm - KHM 161

"Der Fluch der zwei Schwestern" ist klassisches Horrorkino, das im Gegensatz zu neumodischen Teenie-Slasher-Filmen sehr unblutig bleibt und stattdessen auf Nervenkitzel-Suspense und klassische Schockästhetik setzt, daher in Story wie Bildern eher an The Shining (1980) und The Sixth Sense (1999) erinnert. Dieser Film aber handelt, wie gesagt, nicht vom Irrealen - wie Geistern -, sondern vom Allzu-Realen: Von Verdrängung, von Schizophrenie, von der Liebe der Töchter zu ihren Vätern, von Eifersucht, von Pubertät, von weiblichem coming-of-age, von nicht integrierten Triebwünschen. Am Ende steht daher der Anfang, die Wiederkehr des Verdrängten. So einfach ist das manchmal und so schwer…