Schrumpfende Städte
Eine Ausstellung widmet sich dem Phänomen von Ballungsräumen, die von massiven Bevölkerungsabwanderungen geprägt sind
Mit den 1990ger Jahren sind Demographie und weltweite Stadtentwicklung in den Blickpunkt des allgemeinen Interesses gerückt. Dabei kam es zu allerlei Verschiebungen zwischen den Disziplinen. Nicht nur den Künstlern schien die Stadt mit all ihren sozialen und politischen Entwicklungen ein fruchtbares Feld und eine reale Anwendungsoberfläche, umgekehrt zeigten die Architekten und Stadtplaner großes Interesse an der kulturellen Öffentlichkeit. Doch es war die Expansion, der Wildwuchs der großen Zentren des afrikanischen und des asiatischen Kontinents, der die Analysten vor allem beschäftigte. Im Gegensatz dazu werden nun vermehrt die "schrumpfenden Städte" thematisiert. Das eine schließt offensichtlich das andere nicht aus; die planungsresistente Entwicklung der Megalopolen und ihrer Ränder ist nur das Umkehrbild der Verkleinerung manch einer einst wohlgeplanter Großstadt. Fast tragisch mutet an, dass es am Ende nur einen Faktor als Auslöser für beiderlei Entwicklungen zu geben scheint: die Konzentration und Verknappung der Erwerbsarbeit.
Weltweit werden, parallel zu den weiter wachsenden Megalopolen, massive Bevölkerungsabwanderungen aus den Städten beobachtet. Das von der industriellen Revolution geprägte Bild des ständigen Wachstums ist erschüttert, nun sind es gerade die alten Industriezentren in den USA, in Russland, China oder Panama, in Finnland, Kasachstan und Deutschland, aus denen die Menschen zu Millionen abwandern. Ein Projekt unter der Leitung des Architekten Philipp Oswalt hat sich dem Phänomen zugewandt.
Die Stadt und die Ausstellung
Das unter Beteiligung von vielen Expertenteams zustande gekommene Projekt mit Namen Schrumpfende Städte zeigt nun in den Berliner KW (ehemals Kunstwerke) in einer groß angelegten Ausstellung die ersten Ergebnisse einer Arbeit, die im Jahr 2002 als Initiativprojekt der Kulturstiftung des Bundes begonnen hat und bis zu einer weiteren Ausstellung in Leipzig 2005 noch vertieft wird. Im Zentrum der Bemühungen von Architekten, Künstlern, Stadtsoziologen, Fotografen und Filmemachern stehen stellvertretend vier Ballungszentren der nördlichen Hemisphäre, die mit den angesprochenen Umwandlungen zu kämpfen haben: Detroit in den USA, Manchester/Liverpool in Großbritannien, Ivanovo in Russland und Halle/Leipzig in Deutschland werden untersucht und dokumentiert.
Beispiel Detroit: die Autostadt, die mit dem Fließband und dem Ford T-Modell seinen Aufstieg begann, hat seit 1950 einen Bevölkerungsrückgang von 50 Prozent zu verzeichnen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 13,8 Prozent, der Wohnungsleerstand bei 10,3 Prozent. Weil im Turbokapitalismus die Missstände immer noch etwas deutlicher hervortreten als im gepflegten Europa, werden heute in der Mitte Detroits unter der riesigen Kuppel des Michigan Theaters Autos geparkt und in den Vorstädten zerfallen die Holzhäuser, Brandstiftung ist alltäglich.
Doch zunächst wird mit nüchternen Zahlen argumentiert: Im Eingangsbereich wird man von wissenschaftlichen Untersuchungen, Zahlen und grafischen Darstellungen empfangen, die sich in der großen Halle zu einem riesigen Holzgerüst auswachsen, als ob die Monstrosität des Schrumpfungsprozesses einen Ausdruck suchte. Hier wird in Form von auf- und absteigenden Linien die Bevölkerungsentwicklung in den vier untersuchten Ballungszentren visualisiert, begleitet von kurzen Beschreibungen zu Aufstieg und Fall der jeweiligen Region. Dazu werden die Nebeneffekte der Schrumpfungsprozesse dokumentiert: die Polarisierung der Bevölkerung, die zunehmende Segregation der Stadtteile, die Spaltung in Gewinner und Verlierer. Die den Städten zugeordneten Archive lokaler Initiativen münden in einer Ansammlung loser, eingeschweißter Infoblätter: hier darf gerne noch ein wenig weiter geforscht werden.
Dagegen ist die von Antje Ehmann mit Martin Baute und Harun Farocki zusammengestellte Videosammlung recht umfangreich. In der Holzstruktur sorgen ihre Videokompilationen, in denen Filmausschnitte nach Stadtbildern thematisch organisiert sind, für eine Auflockerung der strengen Linien.
4x Schrumpfen
In den weiteren Etagen der Kunstwerke werden die speziellen Schrumpfungsprozesse der untersuchten Zentren in künstlerischen und dokumentarischen Beiträgen behandelt. Wo man in Detroit die Folgen der Suburbanisierung beobachtet, steht in Liverpool und Manchester, ehemals Zentren der Überseeverbindungen und des Kolonialismus, die Verknappung von Arbeit durch die "Containerrevolution" der 1950ger Jahre im Vordergrund. An vergleichbarem Beschäftigungsschwund leidet die Textilregion rings um Ivanovo, doch kommen noch die spezifischen Bedingungen des Postsozialismus hinzu. Das gilt auch für den Raum Halle/Leipzig (Sterbende Städte), der zudem noch mit dem Kontrast zwischen den ehemals getrennten und noch nicht wirklich geeinten "Brüdervölkern" zu kämpfen hat.
Hier war vor dem Zweiten Weltkrieg die deutsche Großchemie als IG Farben entstanden, hier waren aber auch in den Jahren 1918/19 Arbeiterräte an der Macht, man sprach vom "roten Halle". Seit den 1930ger Jahren jedoch hat die Bevölkerung um 30 Prozent abgenommen, die Arbeitslosigkeit liegt dennoch bei 29 Prozent. Im ganzen Raum der ehemaligen DDR stehen mittlerweile eine Million Wohnungen leer und man rechnet mit einem Anstieg all dieser Zahlen: Noch sind die geburtenschwachen Jahrgänge demographisch nicht vollständig eingeordnet; laut Aussage der Stadtforscherin Simone Hain werden über das Jahr 2011 keine wirklichen Pläne gemacht.
Seit dem Jahrtausendwechsel werden nun die ersten Plattenbauten abgerissen und wie in Halle Neustadt entstehen hier und da Anwohnerinitiativen, die diesen Freiraum nützen wollen. Spuren davon findet man in den Videos von Laura Horelli und Kathrin Wildner, die zusammen die Plattenbausiedlung Wolfen-Nord nahe Bitterfeld besucht haben. Ihre Arbeit ist zweigeteilt: In "Wolfen-Nord. Teil 1: Ich bleibe hier, hier kenne ich mich aus" sprechen die Anwohner über das, was ihnen angesichts von 60-prozentigem Wohnungsleerstand bleibt: an Arbeit, an Organisation von Freizeit und Nachbarschaftlichkeit - was so ein Zuhause eben ausmacht. "Teil 2: Bevor ich stempeln gehe, fahr ich lieber raus" beschreibt die Existenz unter dem Diktat der Zeitarbeitsfirmen: Wo keine Arbeit vor Ort vorhanden ist, da muss man eben mobil sein und für 165-Euro-jobs die ganze Republik bereisen.
Zeitarbeit und Callcenter
Vergleichbar prekär sind die Beschäftigungsstrukturen in den Callcenters, die in Großbritannien im letzten Jahrzehnt einen wahren Boom erlebt haben. Paul Rooney hat angerufen - doch statt die üblichen Fragen zu stellen, hat er sich nach dem "Zugehörigkeitsgefühl" der Mitarbeiter erkundigt, die meist nur kurzfristig und in Schichtdiensten tätig sind. Zehn Videos, die nur leere Computerarbeitsstätten zeigen, sind unterlegt mit den in seltsame Gesänge transformierten Antworten.
Telefonservice spielt auch eine Rolle in dem nebenan ausliegenden "GLASpaper". Die Publikation der aus Architekten, Lehrern, Autoren und Stadtaktivisten bestehenden Gruppe G.L.A.S. beschäftigt sich darüber hinaus mit den Orten des wirtschaftlichen Niedergangs: Werften, Fabriken und Bürozentren sind mitsamt der Geschichte der dort ansässigen, inzwischen aufgelösten Unternehmen dokumentiert. Nicht mehr existent ist auch der legendäre Club Haçienda, der 1982 von New Order und Factory Records gegründet wurde und dem hier eine Art sentimentale Erinnerungswand gewidmet ist. Der Name Haçienda ist indes nicht aus dem Stadtbild verschwunden: er ziert nun ein Hotel gleichen Namens, das ein Immobilienmakler auf dem Gelände des abgerissenen Clubs gebaut hat.
Überlebensstrategien
Ein Stockwerk darunter geht Elena Samorodova, die Arbeiterinnen in den verlassenen Produktionsstätten Ivanovos portraitiert, einen ähnlichen Weg. Dennoch unterscheidet sich die Sektion Ivanovo von den anderen Ausstellungsteilen: Hier wird das Dokumentarische, das den meisten anderen Beiträgen zugrunde liegt, von verschiedenen Narrationen überlagert. Die von Vladimir Archipov gesammelten Gebrauchsgegenstände nehmen skurrile Züge an, Nicole Schuck lässt die russische Künstlerin Svetlana Kuzmicheva zu 16 Postkartenmotiven plaudern und Miturich/Miturich/Sverdlov/Spiridonov entwickeln ein Survival-Handbuch über die Alltagspraktiken, mit denen sich die Einwohner der Stadt Yuzha über die Zeiten der Geldknappheit hinweg retten.
Alternative Praktiken, oftmals dramatisch zu verorten zwischen Innovation und Überlebenskampf, zählen zu den interessantesten und bisweilen auch zukunftsweisendsten Aspekten der gesamten Ausstellung. Scott Hockings "Scrapper" sammeln Altmetall und gehen dabei nicht immer legal vor, sie verschaffen sich Eintritt wo sie Material vermuten und demontieren schon mal ein ganzes Kupferdach, wie im Fall des Lee-Plaza-Hochhauses in Detroit. Ken Grant fotografierte für "Benny Profane" die Müllkippe Bidston Moss in Birkenhead wo Menschen, "die dazu in der Lage waren - oder von der Not dazu gezwungen wurden", (Grant) Gegenstände aus den Haufen ziehen, um sie möglicherweise zu Geld zu machen.
Weniger tragisch dokumentiert Ingo Vetter in "Detroit Industries - Urban Agriculture" die kleinen städtischen Landwirtschaften, wie sie von Arbeitslosen betrieben werden. Ähnliche Nutzungen der neuen Brachen scheint es in allen hier untersuchten Städten zu geben, denn dass es keine Lohnarbeit gibt, heißt noch lange nicht, dass nichts zu tun wäre. Hier hat man ein Beispiel für die Entwicklungen von Menschen, die gemeinschaftsorientiert ihre Tätigkeitsfelder neu definieren - vielleicht eine Option für eine Zukunft, in der die Zahl der gewohnten Erwerbsmöglichkeiten sicher nicht mehr anwächst. Dazu müsste aber das Verhältnis zwischen der Arbeit des Individuums, dem gesellschaftlichen Gesamtprodukt und dem Broterwerb radikal uminterpretiert werden - vielleicht ein Thema für ein neues Initiativprojekt?
Schrumpfende Städte/Shrinking Cities
Ausstellung im KW Institute for Contemporary Art in Berlin
Auguststraße 69, 10117 Berlin
Vom 4.9.-7.11.2004
Dienstag bis Sonntag 12.00-19.00
Donnerstag 12.00-21.00