Schule der Nation: Friedenspädagogik trifft "Zeitenwende"

Seite 2: Neuaufstellung der Friedensbildung

Das pazifistische Bekenntnis aus der Radiosendung findet dort allerdings eine Fortsetzung, die es in sich hat:

Wie Pazifismus in Zeiten des Krieges noch uneingeschränkt gültig sein kann, das fragen sich viele derzeit.

Und die Friedenserziehung macht sich diese Frage selbstkritisch zu eigen, statt sie mit dem immanenten Argument zurückzuweisen, dass der Pazifismus "in Zeiten des Krieges" doch wohl am nötigsten sei.

Wann denn sonst? Offenbar gibt es da ein – "Problem", das da lautet: "Bisher war die Friedenspädagogik eher präventiv und auf gewaltfreie Konfliktvermeidung ausgerichtet. Jetzt – angesichts der Zeitenwende – aber schaffen Waffen die Fakten, und die Friedensbildung muss sich neu aufstellen und die Rolle des Militärs miteinbeziehen."

"Bisher waren Kriege an Schulen in Deutschland der Stoff aus Geschichtsbüchern. Entweder lagen sie lange zurück oder sie waren weit weg. Jetzt aber nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine herrscht mitten in Europa eine neue Realität …, auf die weder die Lehrkräfte noch die Friedenspädagogik vorbereitet waren."

Das ist, folgt man der zitierten friedenserzieherischen Denkweise, erneut verwunderlich. Warum soll die Ausrichtung auf Prävention und Gewaltfreiheit angesichts des Krieges in der Ukraine fraglich geworden sein und der Ergänzung durch das Militärische bedürfen? Die bisherigen Lehren der Friedens- und Konfliktforschung wurden durch den Grenzkrieg zwischen Eritrea und Äthiopien, den Sezessionskrieg im Sudan oder den Bürgerkrieg im Jemen doch auch nicht ins Wanken gebracht.

Wenn dort angeblich das Haben- und Rechthabenwollen über die Bereitschaft zu Verständigung, Vermittlung und Versöhnung obsiegt hat – und "uns" aufträgt, die Friedfertigkeit schon mal im Kleinen zu üben –, was sollte dann im Fall der Ukraine anders sein?

Die Antwort liegt nach dem deutschen Aufruf zur "Zeitenwende" eigentlich auf der Hand und hat mit "mangelnder theoretischer Vorbereitung" nichts zu tun. Das vorhandene Repertoire der Friedenspädagogik ließe sich seiner inneren Logik nach auch auf den Ukraine-Krieg anwenden. Eine Minderheit in ihren Reihen tut das schließlich noch immer.

Und selbst die Professorin der Kinder-Uni ermahnte dazu, bei der Forderung nach "mehr Waffen, mehr Waffen" für Kiew nicht das "eigentliche Ziel, den Frieden" zu vergessen. Die bisher besprochene Friedenserziehung hat sich aber nach Selbstauskunft auf Kriege bezogen, die "lange vorbei oder weit weg" waren – von denen sich also die heutige Nation in Gestalt ihrer Anführer nicht oder nur bedingt herausgefordert und zum Handeln veranlasst sah und sieht.

Näher besehen erweist sich die deutsche Friedenspädagogik als Widerhall einer Außenpolitik, die ihre Wahrheit zwar nicht darin hatte, sich aber berechnend damit schmückte, einem "Volk der guten Nachbarn" (Willy Brandt) zu entsprechen. Bezogen auf Russland wurde mit der Devise vom "Wandel durch Annäherung" beziehungsweise "durch Handel" der Anschein verbreitet, es gehe darum, den Graben zwischen Ost und West vor und nach Gorbatschow zu überbrücken.

Die Praxis zu dieser Sprachregelung hat immerhin dazu geführt, dass Deutschland mit Rückendeckung der Nato und an der Spitze der EU den Raum bis zur Westgrenze der Russischen Föderation friedlich erobern und aus den ökonomischen Beziehungen zu ihr erfolgreich Kapital schlagen konnte.

Bezogen darauf hat der russische Einmarsch in die Ukraine ein neues Datum gesetzt, das Berlin nicht im Kalender hatte, aber im Handumdrehen als "Zeitenwende" verbuchte und mit Wirtschaftssanktionen, Waffenhilfe und Aufrüstung beantwortete. Die "gute Nachbarschaft" wurde dabei ohne Bedauern von einer sozialdemokratischen und grünen Politik gekündigt, die ihre frühere Rhetorik von Dialog, Koexistenz und Frieden jetzt als Selbsttäuschung brandmarkt.

Als regierende Parteien wollen sie offensichtlich auch um den Preis eines längeren Krieges den Sieg ihres ukrainischen Schützlings. Notwendigkeit und Recht dazu beanspruchen sie, indem sie als Anwälte des Guten gegen das Böse antreten und damit Fragen und Zweifel moralisch und praktisch zu erledigen suchen.

"Militanter Pazifismus"

Die Friedenspädagogik reflektiert das in der zitierten Weise und will an den vorhandenen Erklärungsmustern und dem pazifistischen Impetus im Fall der Ukraine nicht mehr festhalten, ohne gleich ihre Identität aufzugeben und zu den Fahnen der Bellizisten zu eilen. Drei bezeichnende Beispiele hierzu.

1. Die renommierte Berghof-Foundation liefert diesen aktuellen "Denkanstoß zum Ukraine-Krieg":

Die Antworten demokratisch gewählter Regierungen auf Kriegshandlungen autoritärer oder diktatorisch regierter Staaten müssen auch in Notlagen friedensorientierte Perspektiven aufzeigen. (…) Militärische Einsätze dürfen nicht zum Normalfall werden. Gerade angesichts kriegerischer Gewalt gilt es friedenslogisches Denken zu fördern."

Demokratische Kriegswaffen gegen "Diktatoren" dürfen also keinen Tag länger angeliefert und abgefeuert werden, als es sein muss, weil stets auch an Frieden zu denken ist. Wenn die westlichen Friedensbedingungen dabei mitbedacht sind, könnte die Nato diese "Logik" glatt unterschreiben.

2. Am Ende der Kinderuni mag Frau Deitelhoff die Frage einer Schülerin, wie es zum Ukraine-Krieg gekommen sei, nicht mit der vorher zweimal offerierten Schablone beantworten, man solle einfach an den Konflikt in Familie oder Schulklasse denken. Eine zweite oder weitere Streitpartei, sachlich gesehen also die Kriegsgründe der ukrainischen Regierung Selenskyj und ihrer interessengeleiteten Schutzmächte, scheint in diesem Fall keine Rolle zu spielen.

Stattdessen habe sich Russland "schon vor Jahren einen Teil der Ukraine einfach einverleibt" und "nun im Februar einen Krieg vom Zaun gebrochen, wahrscheinlich, weil es gedacht hat, es würde gewinnen".

3. Mit offenbarer Sympathie bringt die Radiosendung eine Schülerin der Oberstufe zu Wort: "Wir haben gerade das Thema Erster Weltkrieg, Militarismus und so weiter. Und … dass die Aufrüstung der Hauptgrund war für das, was passiert ist. Und natürlich, ohne Waffen kann man keinen Krieg führen."

Was also dafür spräche, sie abzuschaffen – gäbe es da nicht eine gemeinsame Räson feindlicher Staaten, die der Schülerin in dieser Fassung einleuchtet: "Aber wenn alle anderen aufrüsten und man selbst ohne Waffen dasteht, … kann es für einen nicht gut ausgehen."

Politische Herrschaften verkünden reihum, die Bedrohung seien die anderen – und bestärken sich wechselseitig in dem Grund, den jede für die Bewaffnung ihrer Souveränität hat. Für deren Behauptung gehen sie dann – nicht im "Normalfall", sondern nur, wenn es sein muss – über fremde und einheimische Leichen.

Die Schülerin legt sich das so zurecht: "Natürlich, Frieden ist wichtig und sollte auch das Ziel sein. Aber ich vertrete etwas, was ich einen militanten Pazifismus nennen möchte. Also einen, der auf Diplomatie setzt, aber auch klar zeigt, dass er in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen. (Das ist) ein Teil der wehrhaften Demokratie, die man … auch nach außen schützen muss, wie wir jetzt sehen."

Die Deutung, dass Putin im Donbass "unsere Freiheit" samt Parteien- und Presselandschaft angreift, trifft nicht den Kriegszweck, um den es Russland geht. Es ist vielmehr die Sprachregelung, mit der Deutschland und die Nato den eigenen Kriegswillen begründen und dagegensetzen.

Die geglaubte Paradoxie vom "militanten Pazifismus" ist aber durchaus geeignet, den anstehenden Besuch des Jugendoffiziers der Bundeswehr in der Oberstufe durch eine zeitengewendete Friedensliebe überflüssig zu machen.

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