Schule der Nation: Friedenspädagogik trifft "Zeitenwende"
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- Neuaufstellung der Friedensbildung
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Die deutsche Friedenspädagogik sieht sich durch den Krieg in der Ukraine herausgefordert: Anders als andere Kriege soll er den Pazifismus grundsätzlich in Frage stellen – und alles darf "kindgerecht" vereinfacht werden.
Die gefühlte Herausforderung der Friedenspädagogik gilt zum einen der Bedeutung, die sie sich selbst zur Wahrung des Friedens zuschreibt. Immerhin hat sie es in die Bildungspläne der Bundesländer und zu den entsprechenden akademischen Einrichtungen geschafft. Zum anderen aber sieht sie ihre herkömmlichen Erziehungsziele durch den aktuellen Krieg in der Ukraine hinterfragt.
Zu besichtigen war das vor ein paar Wochen in einer ARD-Fernsehsendung mit dem Titel "Was Kinder über Krieg denken", einer SWR-Radioreportage zum Thema "In der Schule über Krieg sprechen" und in einer Kindervorlesung der Universität Frankfurt: "Wie schließt man Frieden?".
Diese drei Verlautbarungen gaben Anlass zu einer spezifischen Ergänzung der kleinen Telepolis-Reihe zur "Schule der Nation" mit den Fortsetzungen "Was Hänschen lernt" und "Immer diese Minderleister".
Krieg und Frieden machen "wir"
Nicole Deitelhoff, Politologin und Leiterin der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, beginnt ihre Vorlesung mit dem Hinweis auf den russischen Einmarsch in die Ukraine und mit zwei bekannten friedenspädagogischen Fragen, die sie aus diesem Anlass erneut stellt: "Wie schaffen wir es, dass wieder Frieden herrscht? Wenn wir kämpfen, wie kommen wir da wieder raus?"
Wer dieses "Wir" ist, versucht sie gar nicht weiter zu thematisieren. Obwohl sie vor Schülerinnen und Schülern bis Klassenstufe sechs spricht, die ebenso wenig mit einem Kampfgeschehen zu tun haben wie ihre Eltern. Diese sind nur insofern mit dem besagten Krieg befasst, als ihre Führung sie ungefragt dem Beschluss zur deutschen Teilhabe und seinen Folgen aussetzt. Bei anderen Militäraktionen war oder wäre das genauso.
Die substanziellen Opfer fallen wiederum gar nicht "bei uns" an, wo die regierungsamtliche Friedenspolitik bisher "nur" den Lebensstandard der Mehrheit beschränkt und die nationale Moral damit beauftragt wurde, bloß nicht "kriegsmüde" (so die grüne Außenministerin Annalena Baerbock) zu werden. Tote und zerstörte Infrastruktur gibt es in der Ukraine, deren Führung lange Zeit von deutscher Seite darin bestärkt wurde, bloß nicht zu verhandeln.
Ein Paradox ist zudem, dass "wir" laut Konflikttheorie stets in der Doppelrolle derer antreten, die Kriege anheizen und die zugleich nach Frieden streben. In der professionellen Sicht der Friedensforschung verschwimmen solche Unterschiede offenkundig zu einem Konglomerat von "Kriegsursachen", das man sich als bedauerlichen Begleitumstand des menschlichen Zusammenlebens vorstellen soll:
"Wenn Menschengruppen zusammenkommen, gibt es häufig Konflikte. Es gibt immer etwas, worüber Menschen in Streit geraten: Sie wollen etwas, was andere haben, sie fürchten, sie haben zu wenig von etwas. Manchmal glauben sie auch, sie wüssten, was die Wahrheit ist, nur sie würden an den richtigen Gott glauben, sie seien mehr wert als die anderen."
Was interessiert es da schon, dass dieses "Etwas" Erfolge und Niederlagen im grenzüberschreitenden Kapitalismus darstellt, die wie das Gerangel um Land und Volk zu zwischenstaatlichen Streitgegenständen werden. Dass Krieg also ausschließlich der Geburtshelfer und die wiederkehrende Verkehrsform von Staaten ist.
Und dass der richtige Glaube und die wahren "Werte" moralische Geschütze sind, mit denen nicht "wir alle", sondern die zu staatlicher Macht Gelangten ihre Interessen unantastbar machen wollen – und gegebenenfalls blutig durchfechten.
All das ist momentan in der Ukraine zu besichtigen. Oder dass der auf Gewalt beruhende Zusammenschluss von "Menschengruppen" zu Nationen die erlesene Grundlage von Rassismus und Xenophobie ist. Auch hier sieht die Friedenspädagogik nur leidiges Menschenwerk:
"Was uns fremd ist, macht uns natürlich erst einmal misstrauisch. Die Frage ist, wie gehen wir damit um: Geben wir dem Neuen eine Chance oder wollen wir es sofort weg haben? Die letzte Reaktion führt in den Krieg."
Nur konsequent, dass die lieben Kleinen dann mit der vermeintlich kindgemäßen Zumutung konfrontiert werden, sich das für sie befremdliche Kriegsgeschehen mit ihren vertrauten Erfahrungen zu erklären:
"Vieles, was wir heute besprechen, ist auch in eurem Alltag drin: Streit mit den Geschwistern, Konflikte in der Schule oder mit den Eltern. Wie im Kleinen, so ist es auch im Großen."
"Denk an dein eigenes Leben, wenn ihr keine Möglichkeit findet, Konflikte anders zu lösen, als aufeinander loszugehen. Staaten machen es genauso."
Eigentlich wäre es für Kinder ein Leichtes, solche konflikttheoretischen Plattheiten zurückzuweisen, denn sie gehen mit ihren Streitigkeiten in einer Weise um, die zur kriegerischen Selbstbehauptung in der Staatenwelt schlicht keine Analogieschlüsse zulässt. Schon deshalb nicht, weil sie im Gegensatz zu Staatenlenkern in der Regel niemanden vorschicken können, statt sich selbst zu prügeln, wenn sie glauben, das zu müssen. Die Entscheidung für oder gegen Gewalt würde auch bei Regierenden oft anders ausfallen, wenn sie selbst auch nur eine blutige Nase riskieren müssten, geschweige denn ihr Leben oder abgetrennte Gliedmaßen.
Wenigstens im Kleinen
Genau diese Parallelführung braucht die Friedenspädagogik allerdings für ihren praktischen Fortgang. Wenn nämlich der große Krieg schon im kleinen Streit angelegt ist, lässt er sich dort auch erzieherisch beackern, wie es die besagte SWR-Radiosendung exemplarisch vorführt:
"Der Schwerpunkt der Friedenspädagogik liegt auf der Frage: Wie lassen sich Konflikte vermeiden? Im Großen wie im Kleinen, in der internationalen Politik wie im eigenen sozialen Umfeld und im Miteinander in der Klasse."
Bei der Setzung ihres "Schwerpunkts" aufs "eigene Umfeld" stellen demokratische Friedenserzieher durchaus in Rechnung, dass sie und ihre Klientel politisch wenig zu melden haben:
"Krieg, das kriegt man jetzt auch in den Medien ganz viel mit, da entscheiden irgendwie Politiker oder Regierungs-, ja Gruppenführer, dass sie da irgendwie Gewalt anwenden wollen, um an ihre Ziele zu kommen. Und man selber so als Einzelner kann da vielleicht gar nicht so viel dagegen tun."
Der "irgendwie" konstatierten Ohnmacht liegt es aber fern, sich den einen oder anderen Gedanken über ihre Gründe zu machen. Vielmehr ist sie der Auftakt zur Entdeckung einer neuen Stärke: "Wenn man aber jetzt sagt, Frieden ist viel mehr, als nur keinen Krieg haben. Frieden ist auch Toleranz. Frieden ist sich versöhnen. Frieden ist, dass man sich gleichbehandelt." Ja, dann sieht die Welt schon anders aus, und es lässt sich den Sechstklässlern ernsthaft die Frage stellen: "Was könnte man denn dann für Frieden tun? Könntet ihr einen Krieg beenden?"
Eine andere Pädagogin sieht das genauso: "Wir sind vielleicht machtlos und sprachlos angesichts dessen, was da gerade abläuft. Aber wir sind nicht machtlos und sprachlos bezüglich dessen, was wir tun können, um zum Frieden zu erziehen." Und diese Erziehung führt dann folgerichtig auf ein Feld und zu Aktivitäten, die mit ihrem angeblichen Ziel der Kriegsbekämpfung und Friedensgewinnung der Sache nach in keinem Verhältnis stehen.
In Kleingruppen dürfen die Schüler dann auf Pappkarton schreiben oder malen, dass sie der Welt in Allgemeinen und der Ukraine im Besonderen alles Gute wünschen, Putins Russland und andere Böse aber davon ausnehmen. Klassenweise lässt sich auch "Imagine" singen, während man auf dem Pausenhof das Peace-Zeichen nachstellt. Und der Schüler als Individuum kann das machen, was bei Flucht, Not und Gewalt immer angezeigt ist, also ein Kuscheltier aus eigenem Besitz abgeben.
Eine Schulleiterin würdigt den tieferen Gehalt solchen Tuns: "Es geht darum, dass ich den Anderen sehe, erkenne und mich empathisch in ihn hineinversetzen kann, das ist die Grundvoraussetzung für Dialog, Kommunikation und Frieden. Solange ich nur bei mir bin und meine Pfründe verteidige oder nur an mein gutes Auskommen denke, werde ich keinen Frieden erreichen, auch keinen inneren eigenen Frieden. Das geht nur mit einem Du. Und diese Kleinigkeit … hat schon was mit uns gemacht."
Nämlich aus dem "Du" ein "Wir" mit "innerem Frieden" und Spendenbereitschaft als selbstbezüglichen Ersatz für den beständig ausbleibenden Frieden in der Welt.
Wunschdenken
Klar, dass Kinder für solche pädagogischen Inszenierungen zu haben sind. Die erwähnte Fernsehsendung zeigt nicht nur, dass sie die einschlägigen Bekundungen aus Familie und Öffentlichkeit in ihren Worten zu wiederholen versuchen:
"Russland will immer größer werden, das ist total unfair."
"Wenn Putin gewinnt, haben wir ein Problem, weil er dann vor unserer Tür sitzt."
"Kriege wird es immer wieder geben."
Sie entwickeln diese Sicht auch in eigenständigen Überlegungen fort, wählen die "Mitte zwischen Krieg mitmachen und sich heraushalten", würden gern "alle Waffen verbieten" und die "Friedenstaube mit dem Zauberstaub" über die Kampfgebiete fliegen lassen.
Der Elfjährige, der Putin vor der Tür sieht, kann zugleich aus eigenem Erleben heraus verstehen, dass "Russland der Nato eins auswischen" wollte, weil es dauernd von ihr gemobbt wird. Dass Kinder sich selber "gut fühlen", wenn sie eine "Welcome-Box mit Farbstiften und Spielsachen" für Flüchtlinge packen, halten sie auch für mitteilenswert.
Die vom Kind nachgesprochenen und weiter ausgemalten Urteile enthalten im Vergleich zu ihren erwachsenen Urhebern einen Unterschied und eine Identität. Unterschieden sind sie darin, dass die nachwachsenden Generationen, dem Alter geschuldet, noch nicht (oder nur mittels Elternhaus) durch die Lebenswirklichkeit in Konkurrenzgesellschaft und Staat hindurchgegangen sind, und ihr Intellekt die Fehlschlüsse des erwachsenen Bürgerbewusstseins noch vor sich hat.
Dennoch enthält der kindliche Unverstand nicht nur in Sachen Krieg und Frieden eine Eigenschaft, die auch in der erwachsenen Dummheit noch zu verzeichnen ist und die den falschen Urteilen zur Plausibilität verhilft. Es ist die Weise, sich die Welt, namentlich die Nation, der man – in der Regel ohne gefragt zu werden – zugeordnet ist, als Heimat der eigenen Interessen und Wünsche zurecht zu denken.
Gegenteilige Erfahrungen werden in derselben Logik dann als Abweichung von dieser Bestimmung, also als ungerecht, unsozial, undemokratisch beklagt. Im Fall der Kleinen kommt diesem instrumentellen Denken entgegen, dass es fürs Erste so aussieht, als könnten die von sorgenden Eltern betreuten Umstände zum kindlichen Bedürfnis passen, überschaubar wie es ist.
Die Konkurrenz in der Schule und noch mehr in der Arbeitswelt, also das, was Erwachsene als "Ernst des Lebens" kennen, leistet dann ihren Dienst beim Übergang des kindlichen Wünschens in die erwachsene Anpassung an die Klassengesellschaft.
Was die Friedenspädagogik als "didaktische Reduktion" bezeichnet und betreibt, nämlich die "kindgemäße" Vereinfachung und Erklärung der angeblichen Kriegsursachen, geht ihr also deshalb so leicht von der Hand, weil es die Elementarform der eigenen Überzeugungen ist. Dass "wir" Kriegstreiber und Friedensbringer in einem sind, im Kleinen wie im Großen, weil der "Egoismus" "etwas" will, was andere haben, und ihm Mäßigung und Toleranz geboten werden muss, ist keine bewusste Märchenerzählung.
Vielmehr ein geglaubtes "Narrativ", ein bezeichnendes Sich-Zurechtdenken, in dem die Friedenserziehung ihre Überzeugung von der "letztlichen" Friedfertigkeit der Menschenwelt und des staatlichen Auftrags zu deren Wahrung zum Ausdruck bringt: "Friedenspädagogik war und ist der Gewaltfreiheit verpflichtet."
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