Schweizer Parlando

Seite 3: Ein Klein-Amerika

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Letztlich ist die Schweiz aber so etwas wie ein Baby-USA im Herzen Europas. Nicht nur haben die Schweizer den Calvinismus erfunden — dessen Grundthese lautet, dass Geldverdienen hinnieden auf Erden letztlich ein Plätzchen droben im Himmel erkauft. Am verdienten Geld erkennt der Erdenmensch sein ultimatives Schicksal. Die amerikanische Kurzformel dafür lautet: "Manifest destiny." Dieser "manifeste Unsinn" manifestiert sich sogar noch bis in die Philosphie eines Comic-Strips wie "Calvin und Hobbes".

Der pure Merkantilismus, der sich hier offenbart, bildet zugleich die Grundlage der schweizerischen Demokratie, und des schweizerischen Waffenrechts, alles Dinge, die man in den USA 1:1 übernommen hat. Dass den Frauen kein Wahlrecht zustand, verstand sich in einer derart altgvatterischen Gesellschaft von selbst. Das Wahlrecht für Frauen bedurfte in den USA eines mehr als 200jährigen Kampfes, erreicht wurde es zuletzt im Jahr 1920. Für schwarze US-Wähler beiderlei Geschlechts erst 1965 vollständig. In der Schweiz durften Frauen endlich auch ab 1971 politisch wählen und gewählt werden. In Kuwait und Saudi-Arabien dauerte es dann immer noch ein paar Jahrzehnte länger. Vergleich: Frauenwahlrecht Neuseeland, 1893, in Deutschland 1918.

Zivilisation "an sich"

Die Schweiz signalisierte immer eine "Zivilisation" im kleinen Rahmen. Als dem afghanischen König Amanullah das Dach über dem Kopf herunterpurzelte, floh er mit einem Teil seiner Familie und seines Hofstaats nach Zürich, um geruhsame 30 Jahre lang seinem Ende entgegenzudämmern. Auch der Nobelpreisträger Isaac Bashevis Singer verbrachte jedes Jahr einen Urlaub in der Schweiz, weil er vermeinte, dort eine dem Jiddischen ähnliche Sprache zu vernehmen.

In der Tat galten viele Länder Lateinamerikas als "die Schweiz" des Südkontinents, Venezuela, Brasilien, Argentinien, sogar Chile und Uruguay, bis sie eines nach dem anderen vom Großen Bruder im Norden in den Orkus gejagt wurden. Heute ist die Schweiz wohl noch am ehesten das Ideal eines friedlichen Afghanistans. Es leben verschiedene Völker und Sprachen unter einem Dach, jeder Mann hat zuhause ein Gewehr, und im Keller einen Bunker, und, wie gesagt, die Frauen tragen keine Burka. Sollten die USA einmal versuchen, die Schweiz anzugreifen, würden sie aber sehr schnell erfahren, was eine Harke ist.

Das gemütliche Nestlein

International berühmt und berüchtigt ist zum Beispiel der Schweizer Großkonzern mit dem diminutivierten Namen Nestlein. Sein bekanntestes Produkt ist der Pulverkaffee Nescafé. Der französifizierte accent aigu nach oben rechts abstehend über dem Schluss-E von Nestlé, suggeriert Weltoffenheit und internationales Flair, wo "Neschtle" wahrscheinlich nur engstirnige Beschränktheit und frömmlerisches Hinterwäldlertum nahelegen würde.

Der kleine Riese mit dem Vogelnestlogo würde sich im heimischen Vevey am Genfer See wohl nicht trauen, den Leuten das Trinkwasser unter dem Hintern wegzuziehen. Auch in Flint, Michigan, würde vielleicht Mike Moore endlich einmal aus seiner Lethargie erwachen. Aber in der kleinen 2.000-Seelen-Gemeinde Osceola in Michigan traut sich Nestlé was.

Staatsfunk ja oder nein?

Ich kenne es aus Neuseeland, wenn der Staatsfunk am Tropf hängt und allmählich eingeht. Ganze Insektenschwärme von dusseligen Kommerzsendern verpesten die Luft, religiöse Idiotensender schwirren nicht nur am Wochenende umher - und das gilt sowohl für Rundfunk wie TV. Ohne ein staatlich gefördertes Maori-TV, das sogar Shakespeare-Stücke auf Maori bringt, gäbe es keinerlei qualitätsvolle Unterhaltung. Die Nachrichtensendungen orientieren sich am Gefasel der Kommerzsender.

Über lange Jahre in NRW erlebte ich den besten deutschen Staatssender, den Westdeutschen Rundfunk, als unsympathisches Autoritärradio — das im Deutschlandfunk und in Deutscher Welle genau so bis in den Südpazifik funkt. Der beste Sender in Deutschland war BFBS — die britische BBC-Light-Ausgabe für die britischen Besatzungstruppen.

TV erlebte ich erst sehr spät am Kabel, und wieder war BBC der einzige Sender, auf dem man Fußball sehen konnte — ohne Idiotenkommentare. Arte und Phönix gingen so halbwegs, und das ZDF brachte nach Mitternacht Krimis aus aller Welt, nicht nur aus Amerika. Bravo. Alle Kommerz-, Einkaufs- und Porno-Sender waren dagegen zum Vergessen - und den ORF, für den ich Zwangsgebühren entrichten musste, schenkte ich mir komplett. Einzig die Online News auf orf.at wären quasi ein Zeitungs-Abo wert.

Fazit: In einem Land wie der Schweiz muss man einfach ein zuverlässiges Staatsmedium haben, vielleicht sogar eine demokratische Boulevardzeitung, vom Staat mit Zeitungsförderung versehen. Das Gleiche würde ich mir auch in Rest-Europa wünschen, aber die Schweiz hat jedenfalls die richtige Wahl getroffen, die Gebührenpflicht für staatliche Medien beizubehalten. Ein demokratisches Land schuldet sich einen demokratischen Staat, und demokratische Medien.

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