Science: Genetik kann Sexualverhalten nicht erklären

Seite 2: Halbe Million Versuchspersonen

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Jetzt sind wir 26 Jahre weiter. Die heute erschienene Studie basiert nicht wie 1993 auf den Daten von 40 Bruderpaaren, sondern von - das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen - sage und schreibe 492.678 Menschen. Diese stammen im Wesentlichen aus der britischen UK Biobank und von der amerikanischen Firma 23andMe, die Interessierten für bare Münze allerlei Gentests anbietet.

Bei dem heutigen Ansatz wird nicht nur ein Chromosom oder ein Gen untersucht, sondern gleich das gesamte Genom nach statistischen Zusammenhängen abgescannt. Das nennt man dann "genomweite Assoziationsstudie" (GWAS). Nicht geändert hat sich hingegen die medizinische Beheimatung der Forschung: In der langen Autorenliste haben wir es mit Psychiatern, Epidemiologen und anderen Vertretern aus den Gesundheitswissenschaften zu tun.

Man brauche immer größere Probandengruppen

Da die Verhaltensgenetik ihre vollmundigen Versprechungen der letzten Jahrzehnte nicht einlösen konnte, sang man viele Jahre lang das Klagelied von der Gruppengröße. Die menschlichen Charakterzüge und Verhaltensweisen aber auch Störungen und Erkrankungen seien nun einmal so komplex, dass man zehn- oder gar hunderttausende Versuchspersonen brauche, um die Interaktionen vieler verschiedener Gene zu untersuchen.

Das ist einerseits Wunschdenken, andererseits aber ein Offenbarungseid: Denn wären die genetischen Effekte von großer Bedeutung, dann müsste man sie auch in kleineren Gruppen finden. Das ist schlicht Mathematik. Und die Sozialwissenschaften kommen in aller Regel mit einigen hundert Versuchspersonen aus und finden damit statistisch robuste Ergebnisse; natürlich unter der Voraussetzung, dass die übrige wissenschaftliche Methodik stimmt. Dass das leider nicht immer der Fall ist und Forscher aller Disziplinen mitunter schlicht publizieren, um zu überleben (englisch: "publish or perish"), wissen wir seit Langem.

Mit der GWAS-Methode lässt sich Genetik jedenfalls im industriellen Maßstab skalieren und werden folglich immer mehr "Risikogene" gefunden. Allein für Schizophrenie gibt es derer mehr als tausend. Was das Patientinnen und Patienten bringt, weiß bisher keiner. Immerhin füllen die Funde aber die wissenschaftlichen Fachzeitschriften. And the show must go on. Dabei wissen wir bereits im Voraus, dass die so gewonnenen Ergebnisse aus prinzipiellen Gründen keine große Bedeutung haben können.

Fünf über das Genom verteilte Orte

Was nun Andrea Ganna vom Zentrum für Genmedizin am Massachusetts General Hospital in Boston und Kollegen in der heutigen Science berichten, ist, um es vorsichtig zu nennen, äußerst bescheiden. Der ganze Aufwand mit der halben Million Versuchspersonen führte nun dazu, dass man fünf über das Genom verteilte Orte gefunden hat, die etwas mit der sexuellen Orientierung zu tun haben könnten.

Nennen wir die Stars der heutigen Vorstellung ruhig mal beim Namen: rs11114975- 12q21.31 und rs10261857-7q31.2 für sowohl Frauen als Männer. Bei Männern fanden sich noch zusätzlich rs28371400-15q21.3 und rs34730029-11q12.1. Und bei den Frauen rs13135637-4p14. Alles klar, oder? Daten von Trans- oder Intersexuellen wurden aus der Analyse übrigens ausgeschlossen. Warum, das verraten die Forscher nicht. Vielleicht waren die Ergebnisse dann nicht mehr statistisch signifikant?

Es tut mir leid, meine Leser wieder einmal mit dem Thema "Effektgrößen" langweilen zu müssen. Um zu verstehen, was die Studie aussagt, kommen wir nicht darum herum. Vorher müssen wir aber erst noch wissen, wie sexuelle Orientierung hier überhaupt gemessen - in Fachsprache: operationalisiert - wurde.

Gleichgeschlechtlicher Sex

Der kleinste gemeinsame Nenner für alle Daten war die Angabe, ob eine Person schon einmal Geschlechtsverkehr mit einer anderen Person vom selben Geschlecht hatte. Also mindestens einmal. Daran ist nichts falsch und die Forscher kommunizieren das auch sehr deutlich.

Bei sexueller Orientierung kann man nun einmal mindestens die drei folgenden Ebenen unterscheiden: (1) mit wem jemand, salopp gesagt, ins Bett geht; (2) zu welchem Geschlecht sich jemand (primär) hingezogen fühlt; und (3) ob jemand seine sexuelle Vorliebe als Teil seiner Identität ausdrückt und, wenn ja, wie.