Science: Genetik kann Sexualverhalten nicht erklären

Seite 4: Erklärung der genetischen Funde

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Konkret sei rs283… in früheren Studien mit typisch-männlichem Haarausfall in Zusammenhang gebracht worden und befinde es sich in der Nähe des Gens TCF12, das bei der Geschlechtsentwicklung eine Rolle spiele. Womöglich beeinflusst dieser Genabschnitt also irgendetwas bei den Sexualhormonen. Der andere Kandidat, rs347…, hat vielleicht etwas mit dem Riechen zu tun. Harte Erklärungen hören sich anders an.

Interessanter sind andere Daten aus der Studie, die dem genetischen Einfluss auf das Sexualverhalten widersprechen: So waren die Probanden tendenziell älter, in der großen britischen Datenbank 40 bis 70 Jahre alt, während der Altersdurchschnitt bei den Teilnehmern von 23andMe 51,3 Jahre betrug.

Schaut man nun auf die Geburtsjahrgänge, dann sieht man, das bei den um 1940 geborenen unter 0,5 Prozent (Frauen) oder rund 2 Prozent (Männer) als nicht-heterosexuell im oben genannten Sinne galten. Bei den um 1970 geborenen waren es aber schon über 6 beziehungsweise 7 Prozent.

Sozialer Einfluss viel größer

Das heißt konkret: Wo ein bestimmter Genotyp die Wahrscheinlichkeit für nicht-heterosexuelles Verhalten gerade einmal um den Faktor 1,1 erhöht, nämlich von den erwähnten 3,6 auf 4,0 Prozent, erhöht das Geburtsjahr das Verhalten um den Faktor 3,5 (Männer) bis 12 (Frauen). Wann jemand geboren ist, bestimmt also in dieser Untersuchung das gemessene Sexualverhalten um ein Vielfaches mehr als die gefundenen genetischen Unterschiede.

Da wir mit ziemlicher Sicherheit ausschließen können, dass sich die Gene innerhalb von nur dreißig Jahren so gravierend geändert haben, unterstreicht das die Rolle von Umwelteffekten. Dazu kommt, dass sich genetische Einflüsse im Laufe des Lebens desto stärker auswirken, je älter man wird. Wenn also die 70-Jährigen das Verhalten seltener angeben als die 40-Jährigen, dann spricht auch das gegen eine genetische Festlegung.

Offenheit für Erfahrungen

Zum Verständnis der gefundenen Genabschnitte dürften auch von den Forschern berichtete Zusammenhänge mit früheren Studien mehr beitragen als die genannten Spekulationen über Haarausfall oder das Riechen. So gibt es nämlich statistische Verbindungen zu allgemeinem Risikoverhalten, Rauchen (nur bei den Frauen signifikant), Cannabiskonsum, Einsamkeit (denken wir an das zurück, was ich über Bewältigungsstrategien schrieb), Offenheit für neue Erfahrungen (wieder nur bei den Frauen signifikant) und vor allem der Anzahl der Sexpartner.

Anstatt dass die Gene das Sexualverhalten oder gar die sexuelle Orientierung direkt bestimmen, scheinen sie vielmehr im Zusammenhang mit Neugier und sexuellem Verlangen zu stehen, unabhängig vom Geschlecht des Partners. Oder anders gesagt: Wer sowieso mit mehr Menschen ins Bett geht und mehr ausprobiert, wer offener ist oder sich einsamer fühlt, der versucht es auch eher einmal mit jemandem vom eigenen Geschlecht.

Bescheidener Beitrag der Genetik

Vor diesem Hintergrund ist es doch recht bescheiden, was uns das Beste der modernen Verhaltensgenetik anno 2019 übers menschliche Sexualverhalten erklären kann - und das schon bei so einem trivialen Merkmal wie dem, ob jemand mindestens einmal im Leben gleichgeschlechtlichen Verkehr hatte. An die wesentlich komplexeren psychosozialen Phänomene wie die sexuelle Orientierung oder die sexuelle Identität ist dabei noch gar nicht gedacht.

Jeder mag selbst bewerten, ob solche nichtssagenden Erkenntnisse die Milliarden rechtfertigen, die dieser Forschungszweig Jahr für Jahr verschlingt. Dabei ist noch nicht einmal an den Unsinn mit "depressiven" Fischen, "magersüchtigen" Mäusen oder "schizophrenen" Ratten gedacht, an denen sich Abertausende in der molekularbiologischen Psychiatrie abarbeiten (ADHS und die Suche nach dem Heiligen Gral).

Risiko der Stigmatisierung

Und was soll das überhaupt, dass Psychiater sich - wieder beziehungsweise immer noch - mit gesundem Sexualverhalten beschäftigen? Die Autoren der Studie geben sich zwar Mühe, stigmatisierende oder diskriminierende Beschreibungen zu vermeiden. Es bleibt aber doch so ein "Geschmäckle", wenn Psychiater und andere Mediziner solche Studien veröffentlichen, wie auch die Medienforscherin O'Riordan aufzeigte.

Dazu die Soziologieprofessorin Melinda Mills von der Oxford Universität, die in Science einen begleitenden Kommentar veröffentlichte:

Es gibt die Neigung, Sexualität auf einen genetischen Determinismus zu reduzieren oder jemandem diese Reduktion übel zu nehmen. Es könnte Bürgerrechte verbessern oder das Stigma verringern, die gleichgeschlechtliche Orientierung den Genen zuzuschreiben. Im Gegensatz dazu gibt es Befürchtungen, dass dies ein Werkzeug für eine Intervention oder 'Heilung' liefert. Die gleichgeschlechtliche Orientierung wurde früher als krankhaft oder verboten angesehen und ist noch heute in über 70 Ländern kriminalisiert, in manchen droht sogar die Todesstrafe.

Melinda Mills, 2019, S. 870; dt. Übers. S. Schleim

Toleranz von Konservativen

Dass der genetische Ansatz die Stigmatisierung reduziert, wird seit vielen Jahren von Biologischen Psychiatern gepredigt, ist heute aber empirisch widerlegt. Dass der Andere sogar genetisch anders ist, scheint die soziale Distanz nämlich zu vergrößern, auch wenn man demjenigen dann weniger Schuld für seinen Zustand gibt.

Interessant sind in diesem Sinne auch Funde aus der Homosexualitätsforschung, die zeigen, dass konservative Menschen Homosexuellen gegenüber toleranter sind, wenn das Phänomen als biologisch beschrieben wird. Das scheint aber damit zusammenzuhängen, dass diese Gruppe Homosexualität als weniger "ansteckend" auffasst, wenn sie genetisch bedingt ist. Ob es der Toleranz also wirklich hilft, die Mär vom "Schwulengen" zu verbreiten, wenn dabei doch mitschwingt, dass Homosexualität irgendwie unnormal ist, halte ich für fraglich.

Bye, bye, Verhaltensgenetik!

Aus wissenschaftlicher Sicht finde ich, dass die Studie von Andrea Ganna und Kollegen den verhaltensgenetischen Ansatz ein für alle Mal widerlegt: Verhalten lässt sich nicht genetisch erklären, sondern bestimmte Gene erhöhen bloß minimal die Wahrscheinlichkeit dafür. Mit einem Bruchteil der Investitionen könnte man mit sozialwissenschaftlichen Studien viel mehr und viel bessere Erklärungen des Sexualverhaltens erzielen; und das schreibe ich als jemand, der solche Studien gar nicht selbst ausführen würde.

Wie viele Menschen auch einmal gleichgeschlechtliche Kontakte ausprobieren, hängt viel stärker mit der Offenheit der Gesellschaft zusammen als mit irgendwelchen Genen. Man könnte sich vorstellen, dass solche "Experimente" aktiv unterdrückt werden, dass eine Gesellschaft ihnen neutral gegenüber steht oder dass sie sogar aktiv gefördert werden. Im letzteren Fall würden manche Menschen feststellen, dass das nicht so ihr Ding ist, andere würden es als nette Abwechslung kennenlernen und wieder andere als ihre große Vorliebe (Menschliche Sexualität - was wissen wir wirklich?).

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Langer Weg zur offenen Gesellschaft

Vorläufige Funde deuten darauf hin, dass gleichgeschlechtliche Kontakte heute - zumindest unter Frauen - an manchen US-amerikanischen Colleges als "chic" gelten. Dazu dürfte die Medien- und Filmindustrie ihren Teil beitragen. So ist etwa unvergesslich, wie Madonna bei den MTV Video Music Awards 2003 vor laufender Kamera Britney Spears und Christina Aguilera Zungenküsse gab.

Trotzdem gibt es auch heute noch Jugendliche, die lieber behaupten, transsexuell zu sein, als sich und vor anderen eine gleichgeschlechtliche Vorliebe einzugestehen. Deshalb werden auch nicht jedem gleich Hormonblocker verschrieben, der in der Pubertät meint, im falschen Körper zu sein. Doch darüber ein anderes Mal mehr.

Unsere Gesellschaft scheint noch einen langen Weg vor sich zu haben, wenn es um die freie Entfaltung der Sexualität geht. Heutzutage lassen sich sogar vermehrt gegenläufige Trends feststellen, was etwa Verbote von Nacktheit oder die Kriminalisierung sexueller Kontakte angeht. Nur so viel steht schon fest: Die Verhaltensgenetik wird den Menschen nicht befreien; sie gehört endlich in die Mottenkiste der Wissenschaftsgeschichte.

Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.