Sex und Macht in der Aufmerksamkeitsökonomie
Bill Clinton und der Sex-Skandal bieten einen Anschauungsunterricht.
Die USA sind im letzten Monaten vom neuesten Sexskandal des Präsidenten fasziniert gewesen. Wie berichtet wurde, löste Monica Lewinsky, damals 21 Jahre alt, alles aus, als sie nach Washington mit ihren "Präsidentenkniefällen" kam, also daß sie bereits das Ziel hatte, Fellatio mit Clinton zu machen. Diese imaginären Kniefälle können nichts mit dem Cyberspace zu tun haben, aber die ganze Geschichte ist stark mit ihm und der damit zusammenhängenden Technologie verbunden und daher auch ein wichtiger Bestandteil der entstehenden Aufmerksamkeitsökonomie.
Lewinskys "Freundin" Linda Tripp begann mit der Aufzeichnung eines Telefonanrufs und ging dann über, einen Sender an sich zu tragen, der ihre Unterhaltung an FBI-Agenten übermittelt. Jetzt wurden Computeraufzeichnungen von jeder Bewegung des Präsidenten im Weißen Haus unter Strafe gestellt. Am Wichtigsten ist vielleicht, daß die Geschichte zuerst durch den Drudge Report im Word Wide Web Aufmerksamkeit erregte und daß neue Entwicklungen noch immer zuerst im Cyberspace bekannt gegeben werden. Drudge alleine hat im Web genau soviel Einfluß wie eine große Zeitung, auch wenn es sich in diesem Fall um eine schäbige und rechtsgerichtete handelt. All dies geschieht in einer Atmosphäre, in der Reporter immer begieriger darauf aus sind, ihre eigenen auffälligen Meinungen an den Mann zu bringen, als nach Nachrichten zu suchen, die irgendwie wichtig sind.
Es ist ein Sex- und Spionagefall nicht deswegen, weil von Lewinsky behauptet wird, sie habe irgendeine Verbindung zu einer fremden Regierung, sondern weil sich das Oberhaupt des mächtigsten Staates einer unbarmherzigen Überwachung durch die Regierung selbst und die Presse ohne die Spur irgendeiner Privatheit ausgesetzt sieht, die sogar einfache Bürger und bestimmte mächtige Menschen normalerweise als gegeben sehen.
Die Situation offenbart den stärker werdenden Aufeinanderprall des Ethos der alten Ökonomie, der vorwiegend ein Ethos gewesen war, das Privatleben dem prüfenden Blick der Öffentlichkeit zu entziehen, und dem Ethos der Aufmerksamkeitsökonomie, der darin besteht, soviel wie möglich aufzudecken.
Wie jeder weiß, ist Sex ein herausragendes Mittel, um Aufmerksamkeit zu erregen. Aber warum ist das so? Es lohnt sich, den tieferen Grund dafür zu erkunden.
Bestenfalls ist Sex zwischen zwei Menschen ein intensiver Austausch von Aufmerksamkeit, der alle Sinne einbezieht und eine absolute Konzentration erfordert. Andererseits sind immer dann, wenn man seine Aufmerksamkeit auf jemanden sogar aus der Distanz richtet, die eigene Psyche und notwendigerweise der eigene Körper beteiligt. Daher hat der Akt der Aufmerksamkeit als körperlicher Akt immer eine erotische Komponente. Und Aufmerksamkeit zu erhalten, ist auch erotisch, sexy und aufregend. Je mehr und intensiver sie einem zuteil wird, desto aufregender ist es, egal aus welcher Entfernung dies geschieht oder worauf sie sich richtet.
Für die von mir vorgetragene Idee, daß die Ökonomie des Cyberspace eine Aufmerksamkeitsökonomie darstellt, ist von Bedeutung, daß öffentlicher Sex jeder Art hierbei eine herausragende Rolle einnimmt. Der angebliche Skandal, in den Clinton verwickelt ist, vergrößerte aber auch die auf gerichtete positive Aufmerksamkeit, indem seine Sexualität und auch sein inhärenter Sexappeal hervorgehoben wurden, worauf das Verhalten von Lewinsky hinwies.
Clintons sechste, im Fernsehen übertragene jährliche Ansprache an die Nation fand während der Tage des Skandals statt und bescherte ihm die meisten Zuschauer. Normalerweise wurde seine Rede als langweilig und endlos beurteilt, beschwert mit zu vielen detaillierten Vorschlägen für jeden denkbaren politischen Bereich. Aber in diesem Jahr stieg danach seine Popularität so hoch wie noch nie, bis auf 79 Prozent, und das trotz des weit verbreiteten Glaubens, daß Clinton mit Lewinsky Sex hatte und darüber log. Das kann ihn hinsichtlich herkömmlicher Normen unmoralisch erscheinen lassen, aber der Glaube hilft ihm ganz klar.
Tina Brown, Redakteurin beim einflußreichen New Yorker Magazin, glaubt plötzlich, daß Clinton "heißer" als jeder Hollywoodstar sei. Und steht damit keineswegs allein. Wenn Sex jetzt ein Vorteil ist, dann ist die normale politische Klugheit vielleicht ganz falsch. Vielleicht würde Clinton noch höher beurteilt werden, wenn er niemals irgendwelche sexuelle Begegnungen zugegeben hätte.
Es geht um den Aufeinanderprall von zwei Wertsystemen. Beim alten Wertsystem gingen persönliche Privatheit und Würde Hand in Hand. Intime Einzelheiten über das eigene Leben der Öffentlichkeit zu enthüllen, wären kostspielige und gefährliche Verstöße gewesen. Für die neue, mit der Aufmerksamkeitsökonomie einhergehende Moral kann die weitestgehende Enthüllung nur zu größerer Aufmerksamkeit führen. Daher ist sie "objektiv" gut, da sie nach dem Rückfluß an Einnahmen gemessen wird.
Die alte Ökonomie setzte eine klare Trennung zwischen Lebensbereichen wie Wohnung und Arbeit voraus und ließ Sexualität außerhalb strenger Grenzen zur Ursache von Scham und Beschwerden werden. Die neue Moralität verherrlicht selbst einen ziemlich "abartigen" Sex, solange er ohne Verlegenheit offenbart wird. Die meisten Amerikaner sind von Clintons angeblichem Verhalten angenehm erregt und keineswegs geschockt. Selbst wenn bewiesen werden sollte, daß die Beschuldigung wahr sind, würden wir Clinton nicht zur Abdankung zwingen wollen.
Was aber ist mit Clintons Lügen, falls er wirklich nicht die Wahrheit gesagt, wie die meisten annehmen? Im Feld der Aufmerksamkeit zählt das Erscheinen. Daher gibt es hier letztlich keine Lüge, es sei denn als eine Art Vorführung, die nach ihren eigenen Kriterien beurteilt werden muß. Wir können glauben, daß Clinton Sex mit Lewinsky hatte, ihn desto eher deswegen schätzen und ebenso seine Leugnungen bewundern.
Selbst die Untersuchung wird grundsätzlich zu einem Spiel oder zu einem Sport, der ein Objekt der Aufmerksamkeit ist, das unabhängig von jeder höheren Wahrheit oder jedem höheren Wert beurteilt wird. Und einer der Gründe, warum Clinton besser als der unabhängige Staatsanwalt Kenneth Starr ankommt, ist ganz einfach, daß er es uns deutlicher macht, daß er weiß, daß er dieses Spiel spielt.
Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer