Sichere Häfen in Libyen?

Bild: Sea-Eye.org/Pressematerial. Die Bild-Unterschrift dazu lautet: "Milizen stören Rettungseinsatz"

Verhindert wird dies durch ein erfolgreiches und übles Geschäftsmodell

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Zu den großen Fragen, die sich außerhalb der Corona-Krise stellen, gehört diese: Warum schaffen es die EU, die UN und die großen Flüchtlingsorganisationen nicht, Migranten in Libyen auf eine menschenwürdige Art unterzubringen?

Kann das System in Libyen, das Migranten wie Gefangene behandelt, reformiert werden, fragt ein aktueller Artikel der Global Initiative Against Organised Transnational Crime und stellt zumindest Aufklärung der Problemlage in Aussicht. Ein Schlüsselsatz der Analyse sagt allerdings schon fast alles:

"Die Macht im westlichen Libyen bemisst sich noch immer an der militärischen Stärke."

Viele Ablegeorte der Boote mit Migranten befinden sich im Westen wie auch auch viele Lager, in denen Migranten untergebracht werden. Mittlerweile herrscht zwar Waffenstillstand, nachdem der "Herrscher des Ostens", Khalifa Haftar, mit seiner Absicht der Ausweitung des von ihm kontrollierten Gebiets an der Übermacht der türkischen Militärintervention gescheitert ist. Das war im Mai dieses Jahres.

Danach setzte sich der Konflikt zwischen den beiden Opponenten, der nationalen Einheitsregierung GNA und ihrer Unterstützer, allen voran die Türkei, und der sogenannten Libyschen Nationalarmee (LNA) unter Befehl Haftars, seit einiger Zeit als Libyan Arab Armed Forces (LAAF) bezeichnet, zwar weiter fort, auch mit kriegerischen Scharmützeln und Angriffen. Der große Showdown, der befürchtet wurde, blieb zum Glück aus. Internationale Vermittlungsarbeit spielte eine Rolle, wie auch die Unterredungen zwischen der Türkei und Russland ein wichtiger Faktor für eine Waffenstillstandsvereinbarung waren.

Unterhalb der geopolitischen, regionalpolitischen Ebene wie auch unterhalb der "Feldherren"-Position, die das ganze Land in den Augenschein nimmt, spielen lokale Herrschaftsbereiche eine große Rolle, wenn es um die Kontrolle der "Zentren für die Migranten" geht. Das ist die Crux.

Unerwünschte Konkurrenz

Die Zentren sind faktisch Gefangenenlager. Es gab immer wieder Berichte, wonach Migranten, die den elenden Bedingungen zu entkommen suchten, mit Waffengewalt wieder zurückgebracht wurden. Auf einige wurde auch geschossen. Ihre Kontrolle verspricht gute Einkünfte für die Milizen und, was seltener erwähnt wird, die Aufsicht über manchen Zentren ist eine Statusverbesserung, die wiederum auf längere Frist mit einer stabilen Einkommensquelle gleichzusetzen ist. Eine "Konkurrenz" durch Flüchtlingsorganisationen wie dem UNHCR oder gar NGOs ist unerwünscht.

Ein verbesserter Status für die Milizen bedeutet grob formuliert, von einer mafiaähnlichen Truppe zu einer halb-staatlichen oder staatlichen Institution zu werden. Es gibt "Migranten-Zentren", die unter der Oberaufsicht des Innenministeriums stehen und von Milizen kontrolliert werden. Solche Aufträge werden in einem Land mit kriegerischen Konflikten noch mehr als sonst Maßgaben der Loyalität und der Belohnung vergeben oder überlassen, als "Beute", um es drastisch zu sagen.

In Libyen gibt es 34 Haftzentren, in denen schätzungsweise 3 200 Migranten festgehalten werden, von denen 20 - zumindest nominell - der Abteilung für die Bekämpfung der illegalen Einwanderung (DCIM) unterstehen. Die Tatsache, dass alle Haftzentren im Land von Milizen gesichert werden, ist problematisch, nicht nur, weil dies Missbrauch gegen Inhaftierte ermöglicht, sondern auch, weil die Milizen im bewaffneten Konflikt aktiv sind.

Im Tariq al-Sikka-Zentrum zum Beispiel kämpften viele der Wachleute während des Konflikts 2019-2020 auf der Seite der von den Vereinten Nationen anerkannten Regierung der Nationalen Eintracht gegen die Libysch-Arabischen Streitkräfte (LAAF). Eine weitere Miliz, die Abu-Salim-Zentrale Sicherheitstruppe (ASCS), bewacht das Abu-Salim-Haftzentrum. Diese Miliz war stark in den Konflikt involviert.

Harry Johnstone, Dominic Naish, "Can Libya’s migrant-detention system be reformed?"

Auch die durch UN-Vermittlung zustande gekommene, also nicht durch freie Wahlen, international anerkannte Einheitsregierung GNA ist eine Konfliktpartei und vergibt lukrative Regierungsaufträge an Gruppen, die sie unterstützen. Mit einem offiziellen Auftrag ändert sich der Status.

Es war schon zu Gaddafis Zeiten so, dass Sicherheitspolitik mit Milizen durchgeführt wurde, dieser "informelle Bereich" hat sich in den politischen Wirren nach der Beseitigung Gaddafis vergrößert. Sie nutzen natürlich Chancen, sich als halbstaatliche Akteure zu institutionalisieren, mit der Aussicht auf einen sicheren, regelmäßigen Geldfluss aus den staatlichen Kassen.

Die Verteilung der Macht

GNA-Innenminister Bashagha ist, wie Johnstone und Naish berichten, "mit einer Teilung der Autorität zwischen dem Leiter des DCIM, Mabrouk Abd al-Hafiz, und dem Unterstaatssekretär für Migration, Mohammed al-Shibani, konfrontiert, der enge Verbindungen zu Usama al-Juweili, dem Kommandeur der westlichen Militärregion, hat. Diese Aufteilung ist mehr als nur administrativ und deutet auf die gegenseitige Abhängigkeit von Milizenführern und Staatsbeamten bei der Verteilung der Macht hin".

In diese Parade will man keine äußeren Einfluss-Mächte dreinfahren lassen. Der Innenminister und seine nachgeordneten Funktionäre sowie die lokalen Netzwerke zählen. Das Geschäft mit den Migranten ist lukrativ. Im genannten Bericht werden als Einnahmequellen aufgezählt: staatliche Gelder für die Verwaltung der Detention Center, Zwangsarbeit der Migranten, also Sklavenarbeit, der Verkauf von Waren, die eigentlich für die Migranten oder die Lager bestimmt sind, dazu kommen Erpressung und Extra-Zahlungen für versprochene Freilassung.

Wie groß die Einnahmen sind, darüber gibt es nach Kenntnisstand des Autors dieses Beitrags keine auch nur halbwegs verlässlichen Angaben, nicht einmal ernsthafte Schätzungen. Die Einnahmen der Milizen sind nicht für die Öffentlichkeit bestimmt und welche Journalisten können sich da Zugang verschaffen oder würden es wagen? Auch die lokalen Größen haben kein Interesse daran, ihre Deals zu verraten.

Deals

Die italienische Regierung hatte es unter Innenminister Marco Minniti (Dezember 2016 bis Juni 2018) geschafft hatte, mit Hilfe von Bürgermeistern und anderen Vermittlern das Geschäftsmodell einflussreicher Milizen von der Unterstützung der Abfahrten von Migrantenbooten in die Abwehr von solchen Abfahrten zu ändern, mit erheblichen Effekten. Dies war ein wichtiger Grund für den drastischen Rückgang der Zahlen der Migranten, die die Fahrt nach Europa versuchten (Libyen: Warlords sollen Europas Grenzen schützen?).

So dürfte in Rom ein ungefährer Erfahrungswert über Verdienstmöglichkeiten bekannt sein. Wie es wahrscheinlich auch eine politische Taktik gibt, die bestimmt, in welche Netzwerke man eingreifen will.

Es erscheint sehr wahrscheinlich, dass auch EU-Gelder, die man für die Stabilisierung Libyens ausgibt, in den Kassen von Milizen landen, sei es bei denen, die bei der Küstenwache im Spiel sind, sei es bei den Milizen, die die Aufsicht über offizielle Lager führen.

Wenn man mitbekommen hat, wie wenig Überblick die Bundesregierung zu Anfang der Corona-Krise beim Ankauf von Masken hatte, weil man es da nicht mit seriösen Händlern zu tun hat, wie ein verschmitzter Finanzminister bei einer Talkshow erzählte, so kann man sich in etwa ausmalen, wie groß erst der Überblick über die Geldflüsse in einem Land ist, das derart von lokalen Machtzentren geprägt ist wie Libyen. Entsprechend ist auch der EU-Einfluss begrenzt und die Macht der lokalen Fürsten und ihrer Mitarbeiter groß.

Es gibt ein paar Vorzeige-Camps, mit denen sich der vormalige italienische Innenminister Salvini brüstete. Die Situation im Großteil der Lager ist nach menschlichen Standards unerträglich. Und es gibt neben den genannten offiziell der Abteilung für die Bekämpfung der illegalen Einwanderung (DCIM) unterstellten Lagern noch eine Anzahl von nicht-offiziellen Lagern.

Diese Situation wird sich, so das Fazit des oben erwähnten Berichts, so bald nicht ändern. Sein Verdienst ist, dass er einer der wenigen ist, der auch die Namen einiger Milizen nennt. Das wäre immerhin eine Spur, die man zur Aufklärung der Verhältnisse verfolgen kann. Je mehr über Hintergründe bekannt wird, desto besser. Mit mehr Transparenz fächert sich das Bild über die Lage der Migranten in Libyen und die Geschäfte, die mit ihnen gemacht werden, auf. In diesem größeren Bild ist auch die Rolle der Seenotretter zu sehen. Wer hier dauernd "Taxi" ruft, macht es sich in seinem privilegierten Stuhl schon sehr bequem.

Gewiss ist, dass Libyen keine sicheren Häfen hat.