Sicherheit als einzige Antwort auf den Terror?

Vom Verlust der Freiheit, dem Kapitalismus der Angst und der Privatisierung der Gewalt

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wenn irgendwann die Historiker das 21. Jahrhundert mit dem 11. September 2001 beginnen lassen werden, so kaum deswegen, weil an diesem Tag etwas qualitativ Neues geschehen wäre oder gar die Welt im Angesicht der einstürzenden Neubauten mit Erkenntnis geschlagen wurde. Anstatt zu fragen: Warum? folgte das übliche: Was nun? Die darauf gefundene Antwort ließ kaum einen Monat auf sich warten und war auch nicht neu. Auf den privatisierten Terror folgte der Krieg der Staaten. Dabei unterschied sich diese Antwort von jenen der vergangenen Jahrhunderte weniger in der Wahl der Mittel als vielmehr in deren Qualität. Wenn dieser Beginn des neuen Jahrhunderts also eines beweist, dann, dass die vermeintlichen Fortschritte und Lehren des 20. Jahrhunderts im 21. nicht angekommen sind.

Als eine kleine Gruppe von Terroristen am 11. September 2001 die von ihnen gekaperten Flugzeuge in das World Trade Center von New York lenkten, brachten sie damit die zwei Wolkenkratzer zum Einsturz und sich sowie über 3.000 weitere Menschen ums Leben. Ein grausamer, hinterhältiger und dabei sehr effektiver Mord – gewiss. Was aber machte diesen Anschlag zu einem Angriff auf die Integrität der Vereinigten Staaten von Amerika, schließlich sogar zu einem Angriff auf die gesamte (westliche) Zivilisation, rechtfertigt bis heute Feldzüge gegen “das Böse überall auf der Welt” und den Krieg gegen “schurkenhafte”, aber immerhin souveräne Staaten?

Dass Terroranschläge wie die des 11. September 2001, des 11. März 2004 in Madrid und im Juli in London die staatliche Souveränität tatsächlich in Frage stellen, darf angesichts ihrer Singularität und beschränkten Reichweite bezweifelt werden. Genau so nachvollziehbar erscheint es aber, wenn sich die Regierungen der betroffenen Staaten und durch gemeinsame Werte, meist auch Bündnisse verbundenen Staatengemeinschaften durch solche Taten herausgefordert fühlen, in adäquater Form zu “antworten” und die gestellte Machtfrage zu entscheiden.

Alte und neue Erklärungsversuche

Wer sich auch nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus noch auf Marx zu berufen wagt, dem erscheint diese Beobachtung keineswegs paradox. Erweist sich doch die Funktion des kapitalistischen Staates gerade darin, notfalls mit Gewalt die Sicherheit und Expansionsfähigkeit des Marktes gegen störende Kräfte zu verteidigen.

Neuerdings allerdings wird uns dieses Phänomen vom Berliner “Zeitgeistanalytiker” Herfried Münkle mit alten, scheinbar schon im 20. Jahrhundert verstaubten Vokabeln näher gebracht. Was uns oft und irritierend als Gegenstand schriller Meinungsmache entgegentritt, kehrt Münkler in seinem neuen, gerade rechtzeitig zum Antwortgeben auf den Markt geworfenen Buch “Imperien” (Die Wiederentdeckung des Imperiums) in die kühlen, historisch geläuterten Begriffe imperialer Herrschaftssicherung. So reduziert sich die Bush-Doktrin: “Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns!”, auf einen Anwendungsfall der Logik der Weltherrschaft, die von konkreten politischen Akteuren weitgehend gelöst, keine Mühe hat, Schwarz-Weiß zu zeichnen.

Imperien, so lernen wir, sei die wechselseitige Anerkennung von Staaten als gleichberechtigte und gleichartige fremd. Daher haben sie auch eine andere “Wahrnehmung politischer Grenzziehung”, worauf sich deren Umgang mit den Grenzen anderer Staaten begründet. Diese Grenzen seien für Imperien nämlich fast immer semipermeabel. Soll heißen: Von außen nach innen darf sie keiner mit bewaffneter Gewalt überschreiten bzw. von innen angreifen, ohne mit massiven Gegenreaktionen rechnen zu müssen. Für sich selbst aber nehmen Imperien in Anspruch, die Grenzen anderer Staaten zu überschreiten und sich in deren innere Angelegenheiten einzumischen, ohne dass dies als ein Krieg im völkerrechtlichen Sinne anzusehen wäre (Kampf gegen die Unordnung). Dabei sei es der Terrorismus selbst, der durch die Herausforderung des Imperiums diesem erst Legitimität und Zuspruch verschaffe (Tausche Schutz gegen Gefolgschaft).

Machiavelli-Experte Münkler zieht daraus die Schlussfolgerung, dass Europa imperiale Aufgaben übernehmen müsse, wenn es nicht von den USA vereinnahmt werden wolle. So erhellend jedoch die von ihm offenbarte Logik der US-amerikanischen Protagonisten und so spannend die Frag auch sein mag, wie sehr diese dabei mehr durch das System ihrer internationalen Vormachtstellung als durch persönliche Überzeugung und Urteilskraft beeinflusst werden, er bleibt die Antwort nach der Legitimität dieser Logik schuldig.

Leviathan – Sicherheit statt Gerechtigkeit

Der Staatsphilosoph Thomas (1588 – 1679) wusste dagegen schon 1651 zu betonen, dass es bei der Bekämpfung von Staatsfeinden weniger um deren Beseitigung geht als vielmehr darum, sich gegenüber der eigenen Bevölkerung als stark und durchsetzungsfähig zu beweisen. Denn hierin liege der Zweck, zu dem die Staatsführung von den Menschen durch den Gesellschaftsvertrag mit der souveränen Gewalt betraut wurde, “nämlich der Sorge für die Sicherheit des Volkes”(Hobbes, Leviathan, Kapitel 30). Verliert der Staat jedoch das Vertrauen der Bürger, dass er diese Aufgabe immer und überall erfüllen kann, so verliere er auch an Legitimität; weswegen sich die Menschen (wieder) selbst zu verteidigen beginnen:

Die Verpflichtung der Untertanen gegenüber dem Souverän dauert nur so lange, wie er sie auf Grund seiner Macht schützen kann, und nicht länger. Denn das Naturrecht der Menschen, sich selbst zu schützen, wenn niemand anders dazu in der Lage ist, kann durch keinen Vertrag aufgegeben werden.

Thomas Hobbes, Leviathan

Wie lange jedoch richtet sich diese (Selbst-)Verteidigung nur gegen die vermeintlichen Feinde des Gemeinwesens, bevor sie sich gegen den Staat selbst wendet? Ein Rückfall in die “Wolfsgesellschaft” – des Krieges eines jeden gegen jeden – wäre die Folge. Nur ein starker Staat sei Garantie für den Schutz eines jeden Menschen vor dem anderen wie vor sich selbst und damit Grundlage des Gesellschaftsvertrags als der Verzicht eines jeden Menschen, eigene Gewalt vor der des Staates auszuüben. Und starker Staat heißt bei Hobbes immer starker Souverän. Deswegen sei eine Regierung schlecht beraten, die sich “mit einer geringeren Macht als zum Frieden und zur Verteidigung des Gemeinwesenes notwendig, zufrieden gibt”.

Es verwundert also nicht, wenn jeder möglich gewordene Terroranschlag im Nachhinein als ein Versagen staatlicher Verantwortung erscheint. Ganz gleich, ob er objektiv überhaupt hätte verhindert werden können, offenbaren sich so nicht nur für notorische Sicherheitspolitiker scheinbare Defizite in der Kette polizeilicher Befugnisse. Die hektische Betriebsamkeit, die nach den Anschlägen immer wieder entwickelt wurde, um dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung entgegenzukommen und gleichzeitig in gesellschaftliche Tabuzonen einzudringen, die dem Staat bis dahin verwehrt geblieben waren, verwundert daher nicht all zu sehr. Dennoch lohnt ein Blick aufs Detail.

Sicherheit durch Eingrenzung, Ausgrenzung, Ausschaltung

Beschränkte sich Spanien – bedingt auch durch den Regierungswechsel - nach den Anschlägen in Madrid zunächst auf gründliche polizeiliche Ermittlungen und den schrittweisen Abzug seiner Truppen aus dem Irak, entschieden sich die meisten anderen von Terrorakten betroffenen oder bedrohten Länder für eine technozentrierte Antwort, die auf das Gros der als "unerwünscht" geltenden Ausländer zielte, jedoch tendenziell die gesamte Bevölkerung erfasst.

Dieser zwar oft gewünschte, aber auch kaum vermeidbare Effekt erklärt sich daraus, daß eine notwendige Eingrenzung der Zielpersonen polizeilicher Ermittlungen oft schwierig ist. Entsprechen doch die Todespiloten von New York weniger unserem Stereotyp von einem “arabischen Islamisten” – wie wir es vielleicht von den rebellierenden Jugendlichen in den französischen Vorstädten glauben wollen –, als dem eines “nützlichen Ausländers” in der Mitte unserer Gesellschaft. Dieser Prämisse folgend würde es entsprechen, wenn die Polizei zur Rundum-Überwachung jedes einzelnen Bürgers überginge, weil es den Amoklauf eines eventuell unerkannten Psychopaten zu verhindern gilt. Für die Polizeiarbeit heißt dies immer: Risikogruppen eingrenzen, Störer ausfindig machen, Kontakte unterbinden, ausschalten...

In Frankreich und den Niederlanden führte diese Tatik zur Wiedereinführung des obligatorischen Personalausweises und in den USA dazu, dass die Geheimdienste nach den Anschlägen des 11. Septembers eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die darauf abzielten, präzise Erkenntnisse über Millionen von Menschen anzuhäufen, um daraus auf einzelne Gewalttäter zu schließen. In Form der Rasterfahndung, die wenige Wochen nach den Anschlägen ins Rollen kam, erreichte diese Datensammelwut auch die deutschen Universitäten. Neben Betrieben der Energie- und Transportdienstleistung und den Landesbetrieben wurden sie verpflichtet, Daten von Studenten und Mitarbeitern an die Polizeibehörden zu übermitteln, die einem bestimmten, vom FBI entwickelten Profil entsprachen (Eene meene muh: Rasterfahndung in Deutschland - Teil 1).

Mit dem gleichen Eifer, der hierzulande Tausende von Beamten mit der Auswertung und Erfassung der Daten beschäftigte, wurden in den USA biometrische Daten von Reisenden erhoben und archiviert, digitale Fingerabdrücke in Datenbanken eingespeist und Bibliotheksausleihen überwacht. Während aber die Rasterfahndung in Deutschland zu keinem einzigen relevanten Treffer führte (vgl. Kant, Außer Spesen nichts gewesen?, Bürgerrechte & Polizei/CILIP 80, 1/2005) – von einigen auf diese Weise enttarnten Sozialhilfebetrügern abgesehen – und das FBI nach wie vor nur einige Attentäter des 11. September identifizieren konnte, haben Matrix-Analysen eine Liste mit Namen von 120.000 US-Bürgern ergeben, die angeblich eine “hohe Terrorwahrscheinlichkeit” aufweisen. Was mit diesen Menschen geschah, ist zwar nicht nachvollziehbar, es kann aber davon ausgegangen werden, dass sie mit polizeilichen “Anschlussmaßnahmen” wie Hausdurchsuchungen, Kontosperrungen und Befragung des sozialen Umfelds (Arbeitgeber, Hausbewohner etc.) bedacht wurden. Auch eine von den privaten Sicherheitsfirmen Graphco, Raythlon und Viisage breit angelegte Studie, bei der die Fotos von 24.000 Kriminellen mit den per Kamera aufgezeichneten Gesichtern von 100.000 ZuschauerInnen eines Footballstadiums verglichen wurden, brachte nur ähnliche “Erfolge” wie die Rasterfahndung (vgl. Alle unter Kontrolle).

Europa rüstet auf

Unterdessen wird die permanente Überwachung zur Normalität und betrifft längst nicht mehr “nur” die Suche nach der bösen Nadel im Heuhaufen. Das von den USA lancierte Abkommen mit der EU über die Erfassung und den Austausch sämtlicher Flugdaten im internationalen Reiseverkehr scheiterte erst am Einspruch des EU-Pralaments (Brüssel hält die Augen auf). Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die EU selbst kräftig aufrüstet. Die Erstellung einer gemeinsamen Liste mit Organisationen, die einheitlich als terroristisch gelten sollen, deren Gelder eingefrohren und Betätigung verboten werden können, war nur der Anfang einer umfangreichen Agenda. Sie schuf mit der Stärkung von EuroPol, die den europaweiten Austausch von Polizeidaten koordiniert, der Errichtung des Netzwerks für die staatsanwaltschaftliche Ermittlungsarbeit EuroJust und die Einführung des Europäischen Haftbefehls einen zwischenstaatlichen Polizeiapparat, dessen weitgehend unkontrollierte Tätigkeit sich schnell auch auf andere Sicherheitsinteressen konzentrieren können.

Unter der britischen Ratspräsidentschaft wurden die Standards für polizeiliche Kompetenzen weiter ausgebaut. Nach kurzem Widerstand beschloss das EU-Parlament am 14. Dezember 2005 nun doch die von den europäischen Innenministern und der EU-Kommission geforderte Speicherung der Verbindungs- und Standortdaten, die bei der Abwicklung von Diensten wie Telefonieren, SMS, E-Mails, Surfen oder Filesharing anfallen, von sechs bis 24 Monaten. Die bei den 450 Millionen EU-Bürgern anfallenden gigantischen Informationshalden dürfen Polizeien und Geheimdienste mit Data-Mining-Techniken auf Verknüpfungen zwischen Kommunikationspartnern hin untersuchen. Damit wird potenziell vollständig rekonstruierbar, wer wann mit wem und wie lange kommuniziert und zum Beispiel auch, wer sich wann im Internet aufgehalten hat.

Zwar ist die Speicherung der Kommunikationsinhalte (noch) nicht vorgesehen, allerdings gehört das Abhören von Handys und Telefonen in vielen Ländern bereits zu den Standardmaßnahmen der Polizei. Außer in Deutschland bracht es dazu in der Regel nicht mal einen Gerichtsbeschluss – selbst wenn das Genehmigungsverfahren hierzulande inzwischen zu einer “reinen Formsache” geworden ist. Insbesondere Italien, Deutschland, Großbritannien und Frankreich haben sich im Wettlauf um den Big-Brother-Award geradezu überboten (einen Überblick geben Bittner/Mönninger: Europa rüstet auf).

Anfang August verabschiedete das römische Parlament im Schnellverfahren ein 19 Maßnahmen umfassendes Paket neuer Ermächtigungen, die der Polizei mehr Rechte bei Razzien einräumen sowie bewaffnete Beamten in U-Bahnhöfen, verschärfte Überwachung von islamischen Einrichtungen und die rasche Abschiebung von Muslimen umfassen, die als “Prediger des Hasses” bezeichnet werden. Dafür genügen bereits “fundierte Gründe”, jemand gefährde die nationale Sicherheit. Bis Mitte August haben die italienischen Behörden auf dieser Grundlage über 700 Personen abgeschoben. Das Ausländerrecht war neben dem Vereinsrecht auch wesentlicher Bestandteil der Schily-Pakete in Deutschland. Auch zuvor schon war der Grundsatz im Zweifel für den Beschuldigten im Ausländerrecht in sein Gegenteil verkehrt. Nach der Einführung der obligatorischen Abschiebung von Menschen, bei denen (nur) der Verdacht besteht, sie unterstützen terroristische Vereinigungen irgendwo auf der Welt, und der Verkürzung des Rechtsschutzes greift diese Praxis erst recht. Immer wieder führt sie politische Flüchtlinge den staatlichen Folterern zu, vor denen sie ursprünglich geflohen sind.

Nach den Anschlägen in London präsentierte Tony Blair ein Bündel von Gesetzesvorhaben, die den Bürgerrechtsnihilismus auf die Spitze treiben. Dazu gehört die Entziehung der britischen Staatsbürgerschaft, der Widerruf anerkannten Asyls und die Ausweisung von Personen, “deren Tun den Interessen des Landes zuwiderlaufen”. Nicht nur die Verherrlichung von Gewalt, auch die Rechtfertigung von Terrortaktiken sollen in Zukunft strafbar sein, Moscheen, islamische Buchläden und Gemeindezentren, die “Extremismus schüren”, geschlossen werden. Visa für Reisende aus bestimmten Ländern sollen – wie in den USA, Deutschland und Russland – nur noch mit biometrischen Daten ausgestellt werden.

Erst juristische, dann faktische Neutralisierung

Wer dies im Falle der USA, Italiens und Großbritanniens auf die Angst kriegsführender Nationen vor der Fernwirkung ihrer “Willigkeit” im Irak zurückführt, war noch nicht in Frankreich terrorverdächtig. Während ein 2001 vom britischen Unterhaus erlassenes Gesetz, das es ermöglichte, Terrorverdächtige unter Aussetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention in einem Guantanamo-ähnlichen Regime wegzusperren, Ende 2004 vom höchsten Gericht des Landes wegen dessen Unvereinbarkeit mit der Menschenrechtskonvention kassiert wurde, ist die Justiz in Frankreich schon seit den 90er Jahren ermächtigt, Verdächtige ohne Gerichtsverfahren bis zu drei Jahre lang in Untersuchungshaft zu halten.

Im Eilverfahren peitschte Frankreichs Innenminister Nicolas Sarkozy Ende des Jahres noch ein neues Anti-Terror-Gesetz durch das Parlament, das vor dem Hintergrund der Londoner Anschläge und der eigenen brennenden Vorstädte auf ein “Klima des Konsens” traf (Sicherheit über alles). Danach können Gefangene nunmehr bis zu sechs Tage statt bisher vier Tage in Polizeigewahrsam gehalten werden, bevor sie einem Richter vorgeführt werden müssen (in Deutschland max. 48 Stunden). Desweiteren wurden die Möglichkeiten zur Videoüberwachung öffentlicher Plätze und Einrichtungen ausgeweitet sowie Internetcafés zur Speicherung von Verbindungsdaten verpflichtet, die sie auf Anforderung der Behörden herauszugeben haben, ebenso wie Reise- und Verkehrsunternehmen zur Speicherung ihre Kundendaten.

Die aus sechs Untersuchungsrichtern bestehende französische Terrorabwehr ist befugt, Verdächtige bis zu vier Tage ohne Haftbefehl und Anwalt zu verhören. Dieses Prinzip der “präventiven juristischen Neutralisierung” mutmaßlicher Terroristen ist vom deren präventiven Erschießung schon nicht mehr weit entfernt. Dieses von Otto Schily mit den Worten: “Wenn ihr den Tod liebt, dann sollt ihr ihn haben!”, so treffend formulierte Prinzip hat in London bereits ein erstes, völlig unschuldiges Menschenleben gefordert. Wem die Gesetze nichts gelten, für den sollen sie auch nicht gelten. Er entsetzt sich aus der Gesellschaft und wird damit – mit Hobbes ausgedrückt – zum Wolf, der sich auf die Menschenwürde nicht mehr soll berufen können.

Während aber Hobbes wenigstens noch von der Freiheit und Gleichheit aller Menschen ausging, die zweckrational agieren – wie sonst sollte eine, auf dem Vertrag eines jeden Menschen mit jedem anderen beruhende Zivilgesellschaft begründet werden können? –, traut sich zumindest ein Berliner Richter, das als Zeitungs-Leserbrief zu verfassen, wovon nicht erst seit den Prozessen gegen den Kindermörder Gäfgen und dessen Folterer Daschner so mancher “anständige Bundesbürger” (Rechtsstaat contra Volkszorn) überzeugt ist: Gäfgen sei “ein Unmensch, ein Nicht-Mensch und damit ein Niemand. Und Niemand darf bekanntlich der Folter unterzogen werden.” Immerhin, es läuft ein Disziplinarverfahren gegen den Richter – wir dürfen gespannt sein, wie lange.

Wenn aber dem Staat auf den Nihilismus der einen nichts anderes einfällt als ein allgemeiner und besonderer Grundrechtsnihilismus, so dürfte es ihm über kurz oder lang schwer fallen, seine Vertragslegende aufrecht zu erhalten, die uns davon abhält, unser “Recht” selbst in die Hand zu nehmen.

Der Kapitalismus der Angst und die Privatisierung der Gewalt

Genau das aber ist die Folge der Angst, die nach den Terroranschlägen aufrecht erhalten werden muss, um den Bürgern die vielen Freiheitsbeschränkungen schmackhaft zu machen. Und diese Angst wird längst nicht mehr nur durch den Staat allein beschworen, sie wird bewirtschaftet. Im Unterschied zu den Erdölvorkommen sind die Quellen der Angst noch lange nicht erschöpft. In der anhaltenden Wirtschaftskrise, dem unentrinnbaren Ölmangel, der Klimaerwärmung und weltweiten Bevölkerungsexplosion wird sie weiteren Nährboden finden. Da angesichts des dringenden Handlungsbedarfs demokratische Legitimierung großzügig durch Tätigkeit ersetzt wird, können sich Unternehmen und Institutionen, die ein "Mehr an Sicherheit" verkaufen, hemmungslos und oft mit staatlicher Unterstützung in das Geschäft mit der Angst stürzen.

So formiert sich unter dem Vorwand einer unberechenbaren Gefahr eine weltweite Sicherheitsarmada, deren schnelles Zusammenwachsen den Pariser Soziologen Denis Duclos vermuten lässt, dass hier eine neue Ausprägung des Kapitalismus im Entstehen ist: “Ein Kapitalismus der Angst” (Alle unter Kontrolle. Vier miteinander verquickte Entwicklungen sollen diesen Wandel kennzeichnen:

Erstens der beschleunigte Austausch der Innovationen in den verschieden Segmenten des Angstmarktes (Identifizierung, Überwachung, Schutz, Festnahme und Verwahrung); zweitens die Verbindung zwischen der Neuausrichtung von Rüstungsindustrie und Militärorganisationen (was sowohl die Ausbildung ihrer Leute als auch die Ausrüstung der Streitkräfte anbelangt) und der Militarisierung der zivilen Sicherheitskräfte; drittens das Zusammenspiel zwischen den Organen der Staatsgewalt und mächtigen Privatunternehmen (sowohl hinsichtlich der Personenkontrolle als auch der Befugnis, Zwang auszuüben und Verbote zu erlassen) und schließlich viertens der in Justiz, Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Medien verbreitete ideologische Schub, der die 'abzusichernde' Angst festklopfen und die Bevölkerung an die Generalisierung vorbeugender Kontrolle als neue Normalität gewöhnen soll.

Die Erfassung von Vorabinformationen über Fluggäste, die Registrierung persönlicher Merkmale, die systematische Speicherung digitaler Fingerabdrücke – wie das geplante Schengener Informationssystem SIS II zur Erfassung von Ausländern aus Nicht-EU-Staaten – stellen einen lukrativen Markt für Unternehmen dar. Die Produktpalette dieses neuen Sicherheitsmarktes ist groß. Sie reicht von GPS und RFID über Programme zur Auswertung von Videoaufnahmen hinsichtlich verdächtiger Verhaltsmuster von Personen, koffergroße Mini-Drohnen, die auf keinem Radar erscheinen, aber gleichermaßen Aufklärungsflüge unternehmen können, wie Sprengstoff transportieren, bis hin zu Implantaten, die es, unter der Haut eingesetzt, ermöglichen, Personen jederzeit zu orten. Die Frage des Preises regelt dabei die Auswahl der Kunden.

Für persönlichen Schutz wird gezahlt – überall auf der Welt. Der Jahresumsatz der vier größten in einem Konsortium verbundenen Sicherheitsfirmen Wackenhut, Serco und Group 4 Falk beträgt fünf Milliarden Dollar. Mit 360.000 Mitarbeitern und Vertretungen in mehr als 100 Ländern haben sie den Staat längst aus der Unterhaltung sensibler Sicherheitsbereiche verdrängt. Ihr Dienstleistungsangebot reicht von der Verwaltung privater Haftanstalten (63 Gefängnisse mit ca. 67.000 Inhaftierten allein in den USA) über Privatpolizeien jeglicher Art bis hin zu Trainingsprogrammen für das Militär. In vielen Städten haben sie die Polizei im Stadtbild fast völlig ersetzt. Kommt in Deutschland auf jeden Polizisten ein Angestellter privater Sicherheitsdienste, sind es in den USA schon drei bis vier. In Estland und Lettland, wo dieser Artikel entstand, ist in den größeren Städten nicht nur nahezu jedes Haus und jeder Platz mit oft schwenkbaren Videokameras ausgestattet, an jedem Fenster klebt auch das Logo der zuständigen Sicherheitsfirma; allen voran Falk und Dussmann.

Oftmals gibt es nicht einmal gesetzliche Grundlagen für die Videoüberwachung, noch seltener für die Tätigkeit privater Sicherheitsfirmen. Deswegen berufen sie sich auf Haus- und Notwehrrecht, wenn sie Menschen nötigen, verprügeln, nicht selten schwer verletzen oder sogar töten; oftmals besser ausgerüstet als ihre Kollegen im öffentlichen Dienst und im Namen des privaten Eigentumsschutzes.

Auch bei der Übernahme öffentlicher Aufgaben ist dies kaum anders. Wackenhut ist wegen der Mißhandlung von Häftlingen in die Schlagzeilen geraten (Public Services International Research Unit (PSIRU): Prison Privatisation Report Internationa) und Mitarbeiter von CACI International und Titan Corporation waren – vom CIA gedeckt – an den Folterungen in Abu Graib und Guantánamo beteiligt (The danger of market forces).

Wenn Hobbes in dem staatlichen Verzicht der zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung notwendigen Macht nicht nur die Unkenntnis des Souveräns über die Voraussetzungen seines Amtes sieht, sondern auch die Befürchtung hegt, dass einmal abgegebene Gewalt nicht ohne weiteres wieder erlangt werden kann, so hat dies sicherlich etwas für sich. Werden die öffentlichen Haushalte und damit auch die Möglichkeiten zur öffentlichen Aufgabenwahrnehmung weiterhin zugunsten des durch Steuersenkungen belohnten „privaten Engagements“ trocken gelegt, kann der Staat auch nicht mehr ohne weiteres intervenierend einspringen. Zudem wird er sich dabei irgendwann nicht mehr nur finanziellen Problemen gegenüber sehen, sondern auch einer hoch gerüsteten Lobby von Sicherheitsnetzwerken. Beispiele aus Lateinamerika und Afrika sind dafür ebenso augenfällig wie die Existenz einer privaten italienischen Geheimpolizei, die behördeninterne Informationen und Recherchen an die Höchstbietenden verkauft.

Wenn die Sicherheit der Bürger aber erste Aufgabe des Staates sein soll, dann muss er diese auch staatlich – d.h. öffentlich-rechtlich – organisieren und seine Akteure den selben Grundrechtsverpflichtungen unterwerfen, die für ihn selbst gelten. Die Anerkennung des Gewaltmonopols des Staates mag dem Bürger als Voraussetzung für das Funktionieren des Gemeinwesens zugemutet werden, die Willkürherrschaft des privaten Eigentumsschutzes in einer privatisierten Welt sicherlich nicht.

Die gefährliche Theorie vom „Grundrecht“ auf Sicherheit

Was immer wir aber von Hobbes lernen können, es findet sein Ende in der Vorstellung, dass die souveräne Gewalt als ein Monopol aller Macht auf eine Person oder Versammlung vereint werden müsse und alle Bürger ihr allein Gehorsam schulden. Es ist die Machtteilung, die ihr “rechtes” Funktionieren garantieren soll und es ist die Bevölkerung, von der jede Form von Macht übertragen wird. Letzteres ist freilich schon bei Hobbes' Leviathan der Fall. In einer Welt der Angst nehmen solche Ermächtigungen im “Namen des Volkes” inflationär zu, während die Gewaltenteilung abnimmt. Militär übernimmt Polizeiaufgaben, die Polizei wird militarisiert, Richtervorbehalte werden gestrichen. Ein neues Grundrecht wird aus dem Vertragsgedanken gezogen und über die anderen gestellt: das “Grundrecht” auf Sicherheit.

Unzweifelhaft gibt es eine Pflicht des Staates, für die Sicherheit der Bevölkerung zu sorgen. Indem sich die Bürger darauf berufen können, gibt es auch ein (An-)Recht auf staatlichen Schutz. Auf was aber die Idee von einem Grundrecht auf Sicherheit in der aktuellen Debatte hinausläuft, ist ein Grundrecht auf Entrechtung. Denn dieses “Grundrecht” bedeutet im Kern nichts anderes, als dass zu seiner Durchsetzung originäre Freiheitsrechte wie Menschenwürde, freie Entfaltung der Persönlichkeit, Gleichheit, Glaubens-, Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, das Recht zur informationellen Selbstbestimmung, das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, die Unverletzlichkeit des Wohnraums und die Justizgrundrechte eingeschränkt werden. Das aber ist der Wolf im Schafspelz, die Pervertierung des Grundrechtsgedankens schlechthin.

Mit solchen Instrumenten haben Regierungen überall auf der Welt die vom Terrorismus gestellten Herausforderungen angenommen. Dabei geraten Aufgabe und Interesse nicht nur gelegentlich durcheinander, und was oft als ein Kampf um ein “Mehr an Sicherheit” daherkommt, ist selten mehr als ein Kampf um die Macht, der mit den Interessen der Bevölkerung nichts mehr zu tun hat, aber auf deren Kosten geführt wird (z.B. in Tschetschenien oder Kolumbien). Die Frage: “Wer hat angefangen?” mag zwar historisch interessant sein, ist jedoch selten zukunftsweisend. Widerstand und Repression sind eben beides Formen der Reaktion auf einen vom “Anderen” gesetzten Druck.

Wer jedoch den Vertragsgedanken als Grundidee der Gesellschaft ernst nehmen will, muss auch den Freiheits- und Gleichheitsgedanken ernst nehmen. Denn die zum Vertragsschluss notwendige Privatautonomie geht von der Gleichrangigkeit der Vertragssubjekte aus. Weil diese natürlich nicht gleichartig sein können, ist der Staat dazu aufgerufen, bestehende Nachteile abzubauen und Betätigungsfelder für bestehende Stärken zu schaffen.

Anders Antworten

Wenn wir uns fragen, warum Fundamentalisten immer mehr Zulauf haben, so lautet die Antwort sicherlich nicht: Weil wir ihnen zu viel Reisefreiheit gewähren und sie nach Pakistan fahren können, um sich als Dschihaddisten ausbilden zu lassen. Es hat aber damit zu tun, dass gleiche Ausbildung noch lange nicht zu gleicher sozialer Anerkennung und gleicher Beschäftigung führt; geschweige denn Migranten eine entsprechende Ausbildung überhaupt erhalten. Das beweist nur, dass selbst der „nützliche Ausländer“ noch lange nicht in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen ist. Wer aber nicht alle Beteiligten des sozialen Zusammenlebens zu integrieren versteht, muss sich nicht darüber wundern, wenn Parallelgesellschaften mit eigenen Gesetzen entstehen.

Gesellschaft ist mehr als Nation und auch mehr als nur Staat. Eine Gesellschaft, die sich nicht auf einem freien Willensakt konstituiert, bleibt sich fremd und unsolidarisch. Solange sie sich dabei auf die Individualität und Dynamik der als Elite bezeichneten Wenigen als Garant für das Funktionieren des Ganzen verlässt, bleibt sie verlassen, wenn staatliche Institutionen versagen und die Antagonismen der Gesellschaft wieder klar hervortreten, wie dies die Flutkatastrophen in den USA so dramatisch gezeigt haben. Deswegen sind anti-elitäre Konzepte vielleicht weniger innovativ und prosperitätsfördernd, aber in der Stunde der Bewährung einfach effektiver. Wo zivile und staatliche Institutionen für alle gleichermaßen offen stehen, ist ihre Akzeptanz und Unterstützung auch in Krisenzeiten wahrscheinlich. Jedenfalls gibt es in der Geschichte genug Beispiele für das Versagen elitärer Gesellschaftskonzepte, deren Scheitern die Gesellschaft als Ganzes zu Fall brachte.

Der 11. September hat uns (mal wieder) gelehrt, dass es nicht mehr Sicherheit gibt, als wir uns einbilden. Aber wie viel sind wir bereit, für diesen Traum zu bezahlen? Auch für die rationalistische Aufklärungsphilosophie spielte der Begriff Sicherheit eine zentrale Rolle, nur eine ganz andere! Für Wilhelm von Humboldt (1767 – 1835) war Sicherheit die Gewissheit der gesetzmäßigen Freiheit und für Montesquieu (1689 – 1755), dem „Erfinder“ der Gewaltenteilung, gar die „politische Freiheit“ der Bürger. Diesem Sicherheitsbegriff liegt die Einsicht zu Grunde, dass Sicherheit auch eine andere Bedeutung haben kann: die Gewährleistung der Freiheit als Sicherheit vor der Allgewalt des Staates. Und diese Sicherheit wird zur Zeit weniger von Terroristen bedroht als von uns selbst.

Die Aufrüstung des Polizeistaates wird unseren Traum von der Inneren Sicherheit nicht Wirklichkeit werden lassen. Denn Sicherheit ist ohne Freiheit nicht zu machen, und Freiheit ohne materielle und soziale Ressourcen ist ein Sicherheitsrisiko. Keine ganz einfache Antwort.