Sicherheitsforschung für den "westlichen Lebensstil"
Bundesregierung hat ein wissenschaftliches Kooperationsabkommen mit den USA, Frankreich und Israel unterzeichnet. Im Mittelpunkt steht der "Schutz kritischer Infrastrukturen" und "Krisenmanagement"
Mitte März diesen Jahres hatten Bundesforschungsministerin Annette Schavan und US-Heimatschutzministerin Janet Napolitano in Berlin ein Regierungsabkommen über die "wissenschaftliche und technologische Zusammenarbeit" in der Sicherheitsforschung unterzeichnet. Gegenstand des Vertrages war die "Abwehr und das Aufspüren von Bedrohungen der zivilen Sicherheit und die Reaktion auf diese Bedrohungen", "Kriminaltechnik und Einstufung in Bezug auf Sicherheitsbedrohungen", der "Schutz von kritischen Infrastrukturen und Schlüsselressourcen" und "Krisenreaktion und Folgenmanagement sowie Schadensbegrenzung bei folgenschweren Ereignissen". Vergangene Woche wurden nun vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ähnliche Vereinbarungen mit Frankreich und Israel geschlossen.
Unter dem Motto "Anstrengungen bündeln und Aktivitäten verstärken" fördert das BMBF zusammen mit der französischen Agence nationale française de la recherche (ANR) die bilaterale Kooperation zum "Schutz vor Terrorismus, organisierter Kriminalität, Naturkatastrophen und Großunfällen". Die Sicherheitsforschungsprogramme beider Länder sollen verschränkt und einander zugänglich gemacht werden. Besonderes Augenmerk angesichts zunehmender Risiken von Staatsbankrotten gilt der "Sicherung der Warenketten". Französische und deutsche Forschergruppen sollen im Rahmen von Ausschreibungen des BMBF und der ANR gemeinsam Anträge einreichen und damit einen "Beitrag zur europäischen Sicherheitsarchitektur leisten".
Mit dem Projekt "ChipSenSiTek" (Chip-basierte photonische Gassensoren für die Sicherheitstechnik) wurde zudem die erste offizielle Zusammenarbeit deutscher und israelischer Forschungsgruppen begonnen. Ziel ist auch hier die "Entwicklung innovativer Lösungen insbesondere zum Schutz der zivilen Bevölkerung und der kritischen Infrastrukturen" sowie Krisenmanagement. In den nächsten Jahren sollen die "wissenschaftlichen, technologischen und industriellen" Kooperationen zwischen Deutschland und Israel weiter ausgebaut werden. Das BMBF fordert zusammen mit dem israelischen Ministerium für Wissenschaft, Kultur und Sport (MOST) und dem Ministerium für Industrie, Handel und Arbeit (MOITAL) Antragsteller beider Länder zur Einreichung von Vorschlägen auf. An dem Gesamtprojekt ist auch die israelische Industrie beteiligt.
Know-how-Transfer zwischen Polizei, Geheimdiensten und Militär
Federführend im Bereich deutscher Sicherheitsforschung ist das Fraunhofer Institut, in dem 2002 eigens ein Verbund Verteidigungs- und Sicherheitsforschung (VVS) aus sechs Fraunhofer-Instituten eingerichtet wurde, der eng mit dem Verteidigungsministerium zusammenarbeitet. Karlsruhe bzw. Baden-Württemberg werden damit zu einem zivil-militärischen Zentrum für Grundlagen- und Projektforschung. Hauptaufgaben sind das "Sicherstellen der Dual-Use-Forschung und des Know-how-Transfers zivil/militärisch" sowie "Unterstützung der wehrtechnischen Industrie". Die forschungsstrategische Ausrichtung gilt der "Führungsfähigkeit, Nachrichtengewinnung und Aufklärung". Der VVS sieht sich als Wegbereiter einer "zukünftigen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik".
2006 veranstaltete das Fraunhofer Institut erstmals die Konferenz "Future Security". Als prominenter Gast verkündete die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Annette Schavan (CDU), die grundsätzliche Neuausrichtung deutscher Sicherheitsforschung. Wie im gesamten Feld europäischer Innenpolitik verschmelzen Institutionen innerer und äußerer Sicherheit unter der Rechtfertigung des Beitrags zum Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität. Europaweit findet eine Neubewertung von innerer Sicherheit statt:
Bei den Überlegungen zur Sicherheitsforschung zeigt sich, dass eine zu enge Interpretation von terroristischer Bedrohung nicht zielführend ist. Organisatorische und technologische Leistungsfähigkeit der Rettungs- und Sicherheitskräfte, geringe Verletzlichkeit von technischen Systemen oder Infrastrukturen und die Früherkennung entstehender Bedrohungen sind wesentliche Schritte auf dem Weg zu einem breitenwirksamen Schutz vor Bedrohungen der zivilen Sicherheit.
Bundesministerin Annette Schavan
2007 gab das BMBF die Leitlinien einer neuen "nationalen Strategie zur Sicherheitsforschung" bekannt. Das "multidisziplinäre" Projekt soll Ingenieurwissenschaften, Naturwissenschaften, Gesellschafts- und Geisteswissenschaften vereinen, das Militär soll mehr von den Sozialwissenschaften profitieren. Weitreichende wehrtechnische Forschungsprogramme werden zukünftig aus dem Haushalt ziviler Ressorts bestritten.
Die Zusammenführung ziviler und militärischer Forschung soll "zersplitterten Ansätzen" entgegenwirken. Wie auch in dem letztes Jahr vorgelegten NATO-Strategiepapier Towards a grand strategy for an uncertain world wird ein "ganzheitlicher Ansatz" (NATO: "comprehensive approach") gefordert, der alle Kräfte der Zivilbevölkerung (nötigenfalls mit einer "hearts and minds"-Kampagne) im Kampf gegen den Terrorismus mobilisiert. Wie die NATO-Strategen ("defend the member states’ territorial integrity and protect their citizens’ way of life, including their values") fordert Schavan mehr Anstrengungen zur Sicherung europäischer Werte:
Sicherheitsforschung im bisherigen Verständnis konzentrierte sich auf militärische Anwendungsbereiche. Die Herausforderung der Zukunft liegt jedoch mehr und mehr darin, die zivile Sicherheit zu gewährleisten. Dort müssen wir neue Wege suchen, um unsere Freiheit und Rechtsstaatlichkeit und den damit verbundenen freiheitlichen Lebensstil zu sichern.
Annette Schavan
Bis 2012 stehen rund 123 Millionen € für das Programm bereit. Ziel ist die Steigerung der Markt- und Exportchancen ("der Markt sicherheitstechnischer Produkte und Dienstleistungen verspricht hohe Wachstumsraten"). Allein in Deutschland gibt es bundesweit 1 Million Feuerwehr-Angehörige, 280.000 Polizisten, 170.000 private Wachdienste.
Das Pooling der Forschungsinstitutionen findet in enger Abstimmung mit dem Innen- und Verteidigungsministerium statt, deren Vertreter im Lenkungsgremium repräsentiert sind. Profitieren sollen neben Sicherheitsindustrie, Militär, Geheimdiensten und Polizei auch Feuerwehren, das technische Hilfswerk und Katastrophenschutz sowie "private Betreiber sicherheitsrelevanter Infrastrukturen" wie Energieversorger, Transport- und Kommunikationsunternehmen. Partner und Zielgruppen der zivil-militärischen Forschung sind die Industrie, Operatoren kritischer Infrastruktur, Universitäten und alle Sicherheitskräfte. Die "nationale Strategie zur Sicherheitsforschung" ist, wie auch der Tenor des NATO-Strategiepapiers, auf die frühzeitige Erkennung von Gefahren und Prävention bzw. frühzeitiger Intervention ausgerichtet.
Als besonders risikoträchtige Sektoren gelten "Grenzsicherung", "Personen-Screening", "Crowd-Control" auf Großveranstaltungen ("mayor events" wie etwa Gipfeltreffen oder Sportereignisse), Warenströme, Logistikketten, Versorgungsinfrastrukturen und Verkehrssysteme sowie Internet und Telekommunikation. Geforscht wird etwa zum Einsatz von Satelliten und Drohnen, Robotik, Körperscannern, Gift- und Bombendetektoren, biometrischen Erkennungssystemen, IT- und Kommunikationstechnik.
2008 hat das BMBF eine neue Förderrichtlinie zur stärkeren Berücksichtigung "gesellschaftlicher Dimensionen der Sicherheitsforschung" aufgelegt. Geistes- und Kulturwissenschaftler sollen sich stärker mit der Entwicklung moderner Sicherheitstechnologien beschäftigen. Zudem sollen Forschung und IT-Sicherheit weiter miteinander verzahnt werden.
Europäische Forschung zur "intelligenten Überwachung"
Auch in anderen Ländern entstanden neue Forschungsverbünde zur Sicherheitsforschung, darunter in Großbritannien (Security and Counterterrorism Science and Innovation Strategy), Frankreich (Concepts, Systèmes et Outils pour la Sécurité Globale), Österreich (Österreichisches Förderprogramm für Sicherheitsforschung) und Finnland (Tekes Safety and Security Programme).
Die nationalen Programme sind eng in das europäische 7. Forschungsrahmenprogramm eingebettet (Milliarden für die Sicherheitsforschung). Ebenfalls 2007 neu aufgelegt wird dort der Bereich Sicherheitsforschung (European Security Research Programme - ESRP) erstmals als eigener Themenschwerpunkt angesprochen. Von deutscher Seite wurde das ESRP von Repräsentanten des BKA, der Fraunhofer Gesellschaft sowie den Rüstungskonzernen Siemens, Diehl und EADS auf den Weg gebracht.
Budgetiert mit 1,4 Milliarden € auf sieben Jahre soll das ESRP helfen, "Technologien zu entwickeln und eine Wissensgrundlage zu schaffen, die dazu geeignet sind, die europäische Gesellschaft und ihre Bürger vor Bedrohungen, wie Terrorismus, organisierte Kriminalität, Naturkatastrophen sowie Industrieunfällen zu schützen". Das ESRP will sowohl die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit aufheben ("Synergien nutzen"), wie auch internationale Kooperation stimulieren. Das Programm ist in Missionen gegliedert:
- Sicherheit der Bürger
- Sicherheit von Infrastrukturen und Versorgung
- Intelligente Überwachung und Grenzsicherheit
- Wiederherstellung der Sicherheit im Krisenfall
sowie drei Querschnittsaktivitäten:
- Integration, Zusammenschaltung und Interoperabilität von Sicherheitssystemen
- Sicherheit und Gesellschaft
- Koordinierung und Strukturierung der Sicherheitsforschung
Auch die europäischen Innenminister fordern in ihrer Wunschliste Freedom, Security, Privacy - European Home Affairs in an open world mehr Anstrengungen im Bereich europäischer Sicherheitsforschung:
The research and development activity on European-level security equipment should similarly be considered a priority. In this context intensified use should be made of means available in the 7th Framework Programme for research and technological development. The entire area of security technology has undergone major developments. Efforts must be made to standardise new materials in order to obtain better interoperability.
Informal High Level Advisory Group on the Future of European Home Affairs Policy ("The Future Group")
Die Innenminister wünschen sich im neuen Fünfjahresplan etwa die Einführung "unbemannter Systeme" in der Polizeiarbeit ("Unmanned Air Vehicles", "Drohnen", in Sichtweite ferngesteuert und mit Kameras ausgerüstet) sowie neue Hard- und Software zur automatisierten Auswertung der umfangreichen Datenbestände ("Daten-Tsunami") europäischer Verfolgungsbehörden.
Vor allem westeuropäische Rüstungsfirmen profitieren von den zivilen Projektgeldern der EU. Forschungsministerin Schavan geht davon aus dass 20% der Mittel nach Deutschland fließen. Das ESRP wurde seit 2002 vorbereitet von einer "Group of personalities" (GoP), von denen ein Drittel als Vertreter der wehrtechnischen Industrie einen militärischen Hintergrund haben (BAE Systems, Diehl, EADS, Ericsson, Finmeccanica, Indra, Siemens und Thales). Seit 2005 wird das ESRP vom European Security Research and Innovation Forum (ESRIF) gesteuert, in dem die vier verschiedenen "stakeholder groups" Nachfrage, Anbieter, Zivilgesellschaft sowie EU-Agenturen repräsentiert sind, darunter Europol und Frontex. Im Vorstand des ESRIF findet sich Jürgen Stock, Vizepräsident des Bundeskriminalamts (BKA).
"Stakeholder" BKA
Das BKA ist in den nationalen und europäischen Sicherheitsforschungsprogrammen sowohl als Nutzer von Sicherheitsforschung als auch Forschungsinstitution vertreten. Ein wesentliches Interesse des BKA an der Sicherheitsforschung liegt in der Evolution seiner Früherkennungsstrategie, im Prinzip eine Fortführung der Rasterfahndung nach Vorbild des Präsidenten von 1971 bis 1981, Horst Herold. Priorität dürften die Bereiche Aufklärung (Satelliten, Geoinformationssysteme, Telekommunikationsüberwachung, Entschlüsselung), Forensik, Dokumentensicherheit, Biometrie und Datamining (und die automatisierte Suche nach Risiken, "Clustern") haben:
In Zusammenarbeit mit Verbänden oder gemeinnützigen Vereinen werden durch das Bundeskriminalamt kriminalpräventive Zielsetzungen thematisiert und Strategien entwickelt, um potenziellen Straftätern den Einsatz neuer Technologien für ihre Zwecke zu erschweren und präventive Konzepte zu entwickeln.
Jürgen Stock, BKA- und Interpol-Vizepräsident
Seit über 10 Jahren ist das BKA beispielsweise Mitglied im Verein TeleTrusT, der "richtungsweisende Entwicklungen für die Sicherheitsarchitektur" von Informations- und Kommunikationstechnik vorantreibt. Mit dem Competence Center for Applied Security Technology arbeitet das BKA mit zwei Fraunhofer-Instituten im Rahmen von IT-Sicherheit zusammen. Zum Ausbau der Strategie der "Früherkennung" kooperiert die Behörde mit der Arbeitsgemeinschaft für Sicherheit der Wirtschaft oder der Consulting-Firma Securicon.
Gegenwärtig haben sich laut Stock "40 Global Player-Unternehmen für die Zusammenarbeit entschieden", "zahlreiche gegenseitigen Informationsbesuche" von Einzelunternehmen nicht mitgezählt. BKA-Verbindungsbeamte treffen immer häufiger mit ausländischen Firmenvertretern zusammen und sammeln "wichtige Informationen, die unsere Erkenntnisse ergänzen und in unsere Früherkennungsstrategien einfließen".
In einem Workshop mit Mitarbeitern des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) lotete das BKA Mitte letzten Jahres neue Möglichkeiten für die polizeiliche Nutzung von Satellitenaufklärung aus. Beteiligt waren zudem mehrere Landeskriminialämter, die Bundespolizei und das Bundesministerium des Innern. Neben dem großen Interesse an der Auswertung von Satellitenbildern wünschen sich die Verfolgungsbehörden auch eine Implementierung neuer Möglichkeiten der Trägheitsnavigation mittels GPS.
Das DLR stellt für das BKA einen wichtigen Kooperationspartner dar, von dessen Unterstützung die Sicherheitsbehörden in vielerlei Hinsicht profitieren können.
Jörg Ziercke, BKA-Präsident
Satellitenaufklärung ist mittlerweile in der Lage, tageslichtunabhängig (allerdings abhängig von der Umlaufbahn) Bilder bis zu einer Pixel-Größe von 50cm zu liefern und damit beispielsweise Bodenveränderungen automatisiert zu erkennen. Damit würden etwa Einsätze von militärischer Aufklärung für die Polizeiarbeit durch diskretere Methoden ersetzt werden können. 2007 hatte die Bundeswehr der Polizei beim G8-Protest in Heiligendamm mittels Tornado-Aufklärern Bildmaterial zur Detektion etwaiger Depots für Material zum Bau von Barrikaden geliefert.
Die in dem Workshop formulierten "Anforderungen" der Verfolgungsbehörden finden Eingang in die Entwicklung des Europäische Programm für Globale Beobachtung von Umwelt und Sicherheit (GMES), der europäische "Kerndienst" im Bereich der Nutzung von Satelliten für zivile Sicherheit.