"Sie müssen auch Hauptschülern wieder bessere Chancen geben"

Dauerklagen über nicht ausbildungsreife Jugendliche der Unternehmen steht die Kritik über die mangelnde Ausbildungsbereitschaft der Betriebe entgegen

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Der demografische Wandel läßt grüßen. Immer mehr Ausbildungsplätze buhlen um immer weniger Jugendliche. Laut Deutschem Industrie- und Handelskammertag (DIHK) blieben im vergangenen Jahr 70.000 Ausbildungsplätze unbesetzt. Für das Jahr 2014 rechnet der DIHK damit, dass 65.000 junge Menschen weniger die Schule verlassen und dann eine Ausbildung beginnen. Achim Dercks, Hauptgeschäftsführer des DIHK, zeigt sich alarmiert: "Die fehlenden Auszubildenden von heute sind die fehlenden Fachkräfte von morgen."

In einer Pressemeldung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) heißt es:

Wer jetzt noch ernsthaft einen Ausbildungsplatz sucht, motiviert und flexibel ist, hat beste Chancen: Die Zahl der unbesetzten Ausbildungsplätze übersteigt die Zahl der noch unversorgten Bewerber.

Die deutsche Wirtschaft, so heißt es weiter, engagiere sich wie in kaum einem anderen Land für die Ausbildung junger Menschen. Über einen mehrjährigen Zeitraum betrachtet würden rund acht von zehn ausbildungsberechtigten Betrieben regelmäßig ausbilden.

Sinkende Ausbildungsquote

Dass die Situation jedoch nicht ganz so rosig ist, wie sie derzeit von Arbeitgeberseite dargestellt wird, zeigt ein genauerer Blick auf die Zahlen. Markus Fels, Sprecher beim Bundesministerium für Bildung und Forschung, sagte auf Anfrage von Telepolis: "Über lange Jahre verlief die Entwicklung der Zahl der Ausbildungsbetriebe und der Betriebe insgesamt weitestgehend parallel. Die Ausbildungsbetriebsquote lag relativ konstant bei rund 24%."

Seit 2009 habe sich dies jedoch geändert. Die Gesamtzahl der Betriebe sei weiter gewachsen, die Zahl der Ausbildungsbetriebe ginge jedoch stetig zurück. 2011 habe die Ausbildungsbetriebsquote bei nur noch 21,7 % gelegen.

Auch die DGB-Jugend sieht die Entwicklung auf dem Ausbildungsmarkt deutlich kritischer als die Arbeitgeber.

So sind laut des Ausbildungsreports 2013 der DGB-Jugend, 2012 etwa 260.000 Jugendliche in Maßnahmen im Übergangsbereich zwischen Schule und Ausbildung stecken geblieben. Rund 273.000 bei der Bundesagentur für Arbeit registrierte Ausbildungsbewerber hätten keinen Ausbildungsplatz bekommen. Darüber hinaus seien immer noch etwa 1,4 Millionen junge Menschen im Alter zwischen 20 und 29 Jahren ohne einen qualifizierten Berufsabschluss.

Die Ausbildungsquote der Betriebe sei auf dem niedrigsten Stand seit 1999. Jedes Jahr gingen rund 13.000 Ausbildungsbetriebe verloren. Auch die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge sei 2012 weiter gesunken und befinde sich nun auf dem zweitniedrigsten Wert seit der Deutschen Einheit. Matthias Anbuhl, Pressesprecher des DGB, sagt gegenüber Telepolis:

Die lautstarken Klagen über den Fachkräftemangel und die sinkende Ausbildungsbereitschaft der Wirtschaft passen nicht zueinander.

"An eine Bestenauslese gewöhnt"

Insbesondere beklagt der DGB, dass Jugendliche, die nur einen Hauptschulabschluss vorweisen können, kaum Chancen auf dem Ausbildungsmarkt hätten. "Die Unternehmen müssen ihr Ausbildungsverhalten verändern. Sie müssen auch Hauptschülern wieder bessere Chancen geben", fordert Anbuhl. Nur 7% der Betriebe würden überhaupt noch Hauptschüler ausbilden. Die Unternehmen hätten sich in den guten demografischen Zeiten "an eine Bestenauslese gewöhnt".

Geht es nach dem BDA, so gibt es für diese Entwicklung eine einfache Erklärung: "Trotz vielfältiger Vermittlungsaktivitäten drohen, wie im Vorjahr, zahlreiche Ausbildungsplätze unbesetzt zu bleiben, weil immer noch zu viele Schulabgänger nicht ausbildungsreif sind." Den Jugendlichen empfiehlt der BDA "mehr Offenheit bei der Wahl ihres Ausbildungsberufes" und auch "regional etwas flexibler werden".

Offensichtlich scheinen Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungsmarkt, nicht ohne weiteres zusammenzupassen. Wenn angenommen wird, dass ein großer Teil der Jugendlichen heutzutage nicht ausbildungsreif ist, stellt sich die Frage, warum Betriebe ihre Ausbildung nicht entsprechend anpassen. Konzepte dazu gäbe es. Beispielsweise das baden-württembergische Projekt Carpo.

Modelle der assistierten Ausbildung

Mit einer breiten Palette von Fördermöglichkeiten werden benachteiligte Jugendliche bei ihrer betrieblichen Ausbildung gefördert. Ziel ist eben nicht eine weitere außerbetriebliche Ausbildungsmöglichkeit anzubieten, sondern die Ausbildung dort zu unterstützen, wo sie stattfindet, in den Betrieben. Diese assistierte Ausbildung stellt den Jugendlichen und Betrieben eine umfassende Unterstützung zur Seite.

92 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Carpo sind Altbewerber. Davon sind über die Hälfte länger als zwei Jahre und ein Fünftel sogar über fünf Jahre nach Abschluss der Schule ohne Ausbildungsplatz geblieben. Über die Hälfte der Projektteilnehmer verfügt über einen Migrationshintergrund, fast ein Viertel sind junge Eltern mit Kindern. 600 junge Menschen haben seit Projektbeginn 2008 auf diese Weise eine Ausbildung begonnen und die ersten 100 davon haben inzwischen erfolgreich abgeschlossen.

Der DGB fordert daher einen flächendeckenden Ausbau der assistierten Ausbildung. "Gerade kleine und mittlere Unternehmen könnten davon profitieren und wieder für die Ausbildung gewonnen werden", sagt Anbuhl. Warum sich vom BDA bislang noch niemand für solche Projekte stark macht, ist unklar.

Wer jedoch auch zukünftig über ausreichend Fachkräfte verfügen möchte, wird sich langfristig Gedanken machen müssen, wie auch sogenannte "nicht ausbildungsreife" Jugendliche zu einem qualifizierten Berufsabschluss geführt werden können. Andere Jugendliche zumindest gibt es nicht und permanentes Klagen über die desolate Situation, ohne zu handeln, wird irgendwann nicht mehr ernst genommen.