"Sie starten eine Rakete, wir schießen sie ab"

Eilig richtet das Pentagon die ersten Stützpunkte des Raketenabwehrsystems vor der Präsidentschaftswahl ein, ein weiterer Test des unausgereiften, aber teuersten Rüstungsprojekts wurde lieber auf das Ende des Jahres verschoben

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Das Raketenabwehrsystem, das aus den SDI-Plänen der Reagan-Zeit und entsprechenden Projekten der Bush I-Zeit hervorgegangen ist, war schon vor dem 11.9. ein Kernstück der vom Pentagon unter Verteidigungsminister Rumsfeld gewünschten neuen Waffensysteme. Das unter Clinton geringer geförderte, von den Rebublikanern aber geforderte Projekt ließ es aber dann auch notwendig werden, aus dem ABM-Vertrag auszusteigen. Zudem ist es das wohl teuerste Rüstungsprojekt, das überdies technisch nicht ausgereift ist und von vielen Kritikern als teures, aber wertvolles Spielzeug gilt, das mit prinzipiellen Mängeln behaftet ist. Auch wenn gegenwärtig als Bedrohung der USA oder der amerikanischen Verbündeten allenfalls noch Nordkorea, in Zukunft möglicherweise auch der Iran gelten könnte, hat es die Bush-Regierung eilig gehabt, erste Elemente des Raketenabwehrsystems noch vor den Präsidentschaftswahlen zu installieren, wohl um möglichst irreversible Tatsachen zu schaffen und das bei der letzten Wahl gegebene Versprechen einzulösen, die USA durch einen Raketenschild vor Angriffen von Langstreckenraketen zu schützen, die "Schurkenstaaten" oder Terroristen abfeuern.

Eine Abfangrakete wird in Alaska in einem Silo stationiert.

It's the beginning of a missile defense system that was envisioned by Ronald Reagan. We want to continue to perfect this system, so we say to those tyrants who believe they can blackmail America and the free world: You fire, we're going to shoot it down.

US-Präsident Bush im August, nachdem die erste Rakete stationiert wurde.

Anfang des Monats wurde bereits die zweite Abfangrakete des Abwehrsystems in Fort Greely, Alaska, installiert, demnächst sollen zwei weitere Raketen auf dem Luftwaffenstützpunkt Vandenberg in Kalifornien in unterirdische Silos gebracht werden, um die USA, so wird versprochen, gegen "einen begrenzten Angriff mit Langstreckenwaffen" zu schützen. Jetzt habe das System zwar noch eine "begrenzte Kapazität", aber Verteidigungsminister Rumsfeld versichert, dass das National Missile Defense (NMD) System Schritt für Schritt beim Aufbau auch verbessert und zum geplanten Ballistic Missile Defense System (BMDS) System ergänzt werde, weswegen Mängel akzeptiert und Kritiken, nicht nur von Politikern, sondern auch von Experten, missachtet werden können (Das Raketenabwehrsystem: das Toll-Collect-Projekt der Bush-Regierung). Zu erwarten ist, dass das System vor den Wahlen auch dann als einsatzbereit erklärt wird, wenn nicht einmal die eigentlich vorgesehenen 10 Abfangraketen stationiert wurden.

Viele Tests wurden für das Raketenabwehrsystem nicht durchgeführt, auch wenn bereits weit über 100 Milliarden Dollar in es investiert worden sind. Allein für 2005 werden über 10 Milliarden für das teuerste Waffenprojekt ausgegeben. Eine Gesamtkostenschätzung gibt es nicht vom Pentagon. Neben dem landgestützten System sollen als nächstes auch die ersten seegestützten Abfangraketen installiert werden. Neben den Raketen mit ihren exoatmospheric kill vehicles (EKV) gehören zum System Kontrollzentren, Radar-Frühwarnzentren, Radarsysteme und Satelliten zum Verfolgen der feindlichen Raketen und Kontrollzentren. Beschlossen wurde die Installierung des Systems Ende 2002 in der National Security Presidential Directive (NSPD)-23, ausgerechnet nach dem letzten Test, der daneben ging.

Suchbild des Interceptor

Die wenigen Tests, bei denen die EKVs im Flug Sprengkopfattrappen zerstören sollten, reichten nicht einmal für die Entwicklungsphase aus, da sie, auch wenn sie gelungen waren, nicht unter realistischen Bedingungen stattfanden: zu den Tageszeiten mit den besten Sichtbedingungen, mit Zusatzdaten, die im Ernstfall nicht verfügbar wären, mit nur einer Sprengkopf-Attrappe und ohne den Einsatz von mehreren Spreng- oder von Störkörpern oder den vielen möglichen Täuschungsmittel, die von jedem Feind, der Langstreckenraketen besitzt, leicht eingesetzt werden könnten. Dagegen wäre das jetzt installierte System, ohne die Verfügung über einen X-Band-Radarsystem, völlig hilflos, aber man weiß eben auch noch gar nicht, ob es tatsächlich auch nur dann funktionieren würde, wenn nur eine Langstreckenrakete abgeschossen wird. Daher ist die Bilanz, dass 5 der insgesamt 8 Tests "erfolgreich" waren, nicht besonders überzeugend - zumal keiner der Tests mit den Trägerraketen durchgeführt wurde, die jetzt stationiert werden. Sie fliegen nicht nur schneller, sondern es gibt auch noch eine ganze Reihe von Problemen mit ihnen.

Thomas Christie, der Direktor des Office of Operational Test and Evaluation, musste diese im März bei einer Kongressanhörung bestätigen (Raketenabwehrsystem noch nicht wirklich einsatzbereit). Gefragt, ob man nicht davon ausgehen kann, dass "das jetzige System gegen einen wirklichen Sprengkopf aus Nordkorea" funktionieren würde, sagte Christie: "Ich würde sagen, dies trifft zu."

Vermutlich um nicht weitere Kritik vor den Wahlen zu schüren, wurde ein Ende September geplanter Test, der wegen eines Softwarefehlers schon einmal verschoben worden war, nun auf einen Termin nach November verlegt. General Henry A. Obering III, der Direktor des MDA, erklärt zwar, dass dies nur aus technischen Gründen geschehe, aber man kann, wie demokratische Kritiker vermuten, tatsächlich von politischen Gründen ausgehen. Der demokratische Senator John Reed fragt denn auch perplex, warum denn das System bereits eingerichtet werde, wenn man sich nicht einmal traut, einen Test damit zu machen.

Gleichwohl versucht die Bush-Regierung unter hohem Druck, möglichst viele Partner für das teure Projekt zu gewinnen (Die große Mauer). Trotz der technischen Unausgereiftheit und wahrscheinlich prinzipiellen Nutzlosigkeit kann die Regierung erste Erfolge in Australien, Japan. Großbritannien und Dänemark vorweisen. Mittlerweile beteiligt sich auch der europäische Rüstungskonzern EADS über einen Vertrag mit Raytheon an der weiteren Entwicklung des Raketenabwehrsystems.

Dazu aber kommt, dass das Raketenabwehrsystem gar nicht gegen einen viel wahrscheinlicheren Anschlag mit Massenvernichtungswaffen, beispielsweise mit einer schmutzigen Bombe in einem LKW, einem Flugzeug oder einer Drohne, gar nichts nutzen würde. Ausgerichtet wäre das System sowieso nur gegen einzelne Raketen, nicht gegen einen Angriff, wie ihn beispielsweise Russland oder China ausführen könnten. Nimmt man noch hinzu, dass die US-Regierung deswegen aus dem ABM-Vertrag zurückgetreten ist, die Aufrüstung im Weltall auch über das satellitengestützte Raketen im Abwehrsystem betreibt und auch wieder mit der Entwicklung neuer und taktischer Atomwaffen begonnen hat, so könnte auch bei Nutzlosigkeit und ungerechtfertigtem Vertrauen das System fatale Folgen haben.

Kritiker warnen so auch, dass die USA beispielsweise auch zur Abwehr möglicher iranischer Langstreckenraketen permanente Stützpunkte in der Nähe des Landes (Turkmenistan, Aserbeidschan, Afghanistan, Irak oder Länder im Golf) benötigt, wenn, wie geplant, Sprengköpfe nicht im Flug, sondern bereits während der Abschussphase zerstört werden sollen. Das wird als ideale Phase angesehen, weil die Rakete dann noch am Aufsteigen ist und keine Täuschkörper oder Mehrfachsprengkörper freigesetzt werden können. Diese dauert maximal drei Minuten und erfordert schnelle Reaktion und geografische Nähe. Damit wären diese Stützpunkte auch für iranische Luftangriffe erreichbar und müssten entsprechend geschützt und ausgebaut werden - mit allen geopolitischen Folgen. Offenbar gab es bereits Gespräche mit den Regierung von Afghanistan und Turkmenistan.