"Sie töten uns! Diese Teufel killen unsere Träume!"

Seite 2: "Ich sage den Europäern: Kämpft für das Leben! Es gibt nichts Schöneres …"

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Aber was ist denn bitte Hoffnung wert, wenn es kein Brot gibt? Und selbst, wenn es Brot am Tage gäbe … auch die Nächte brauchen Wein, oder konkret: In der Welt scheint sehr vieles verarmt an Sinnlichkeit, an Leben, an Wahrnehmung, auch im Wohlstand, oder nicht?

Renata Avila Pinto: Naja, also den perfekten Moment, den gibt es ja im Leben nie. Das weiß man, oder? Weder gesellschaftlich, noch politisch, noch privat. Mit dem Leben ist es nicht so, wie wenn man ein Steinway-Piano spielt, hahaha … man findet ja eh nie die perfekten Tasten, weder auf dem Klavier noch im Leben. Aber man kann es versuchen. Und wenn man jetzt sagen würde, es ist eh alles zu spät, die Gesellschaft ist so weit weg von Menschlichkeit, ja, dann stimmt das, da hast Du Recht, aber wollen wir aufgeben? Jetzt schon etwa? Never. Die Welt ist verstörend. Aber was heißt das für uns, die wir uns zwingen müssen, die Hoffnung nie aufzugeben, nie? Ich sage, es heißt: Go for it! Verzweifelt nicht! Holt euch euer Leben zurück!

Diese Notsituation jetzt mit Corona, die bedeutet ja auch: Es geht nicht um Einzelfälle, um kleine Fehler, um kleines Versagen. Es geht um Strukturen. Es ist ein globale state of emergency. Diese Ausmaße jetzt verdeutlichen, in welcher Welt wir eigentlich leben. Es zeigt uns die ach so sauberen, normalen Strukturen in ihren mörderischen Höhepunkten auf, in ihrem wahrem Charakter. Die Corona-Krise zeigt die Strukturen, die unvernünftig, die mörderisch sind.

Genau so wenig wie Auschwitz vom Himmel fiel, fielen Corona und die jetzigen Toten vom Himmel, auch wenn die jetzigen body counts, auf CNN beiläufig eingeblendet im screen-on-screen, fast so menschenverachtend wirken wie wohl die Zählappelle von Auschwitz ...

Renata Avila Pinto: … verändern müssen wir die Strukturen aber deshalb, weil sie auch schon vorher unvernünftig waren. Sind das denn alles nur Kalamitäten, die jetzt passieren und jetzt so drastisch zu sehen sind? Nein, wohl kaum, oder? Nicht der Notfall und der Notstand jetzt sind das große Problem, die zuvor schon vorhandenen Strukturen und Hierarchien von Macht und Ohnmacht, von Gewinn zu Lasten von Ausbeutung, diese Strukturen, die zwar nicht Covid-19 in die Welt brachten, aber die jetzt das tausendfache Sterben zulassen und einfach nicht aufhören lassen, die sind das Problem. Die tödlichen Strukturen von Macht und Ohnmacht müssen beseitigt werden. Die Welt braucht sie nicht. Kein vernünftiger Mensch braucht sie.

In Südamerika und bei mir in Mittelamerika haben wir damit Erfahrung. Ausbeutung, Faschismus, Vernichtung - all das ist nicht so weit voneinander entfernt. Es geht um das Leben. Der Widerstand bei uns war immer lebendig. Ich sage den Europäern: Seid lebendig! Kämpft für das Leben! Es gibt nichts Schöneres. Oder willst Du etwa widersprechen? Oder rede ich zuviel? Sag es ruhig! Unterbrich mich ruhig …

"Nehmen wir den Kampf an!"

Keine Sorge … Aber bereitet euch bei der PI nicht Sorgen, wie sich die Situation hier in Europa entwickelt. Du bist ja gerade in Berlin, was besorgt Dich? Polen ist nicht weit von hier, es vollzieht sich dort ein Demokratieabbau, in Ungarn kann man eigentlich gar nicht von Demokratie sprechen, die Regierung betreibt Judenhass-PR, spricht in Nazi-Vokabular über Muslime, über Roma, über Queere, über selbstständige Frauen, über Langhaarige, über andersartige junge Leite, über Bücherleser und Musikhörer, für die die Welt weiter ist als zwischen Buda und Pest zwischen der Donau. Sind die Pläne der PI denn überhaupt realistisch, in solche Zustände überhaupt noch intervenieren zu können?

Renata Avila Pinto: Ja, gut, das sind zwei verschiedene Dinge … We need to elevate. We need unity. Vernünftige Menschen kennen keine Grenzen zwischen verschiedenen Gesellschaften … Die Mächtigeren versuchten immer in der Menschheitsgeschichte, die Ohnmächtigen gegeneinander auszuspielen, um deren Interessen zu unterminieren, zu diskreditieren, sie gegeneinander in Stellung zu bringen, um von berechtigter Kritik an ihnen selber abzulenken, um ihre eigene Macht nicht aufteilen oder gar abgeben zu müssen. Verzweifeln wir nicht. Suchen wir Alternativen. Was wollen wir im Leben? Vernünftige Menschen auf allen Kontinenten müssen sich verbünden, um die Welt zurückzuerobern für das Leben. Wer braucht Streit, Differenzen, Gräben? Nur die, denen es nutzt.

Deshalb ist ja unser Versuch mit der Progressiven Internationalen gewesen, Menschen durchaus verschiedener Überzeugungen zusammenzubringen. Unser Nenner aber ist: Bitte, eine andere Wirtschaftspolitik! Aber wir bitten nicht, wir fordern. Es ist unser Recht. Je national und vor allem international. Nicht jedes Land für sich und solchen alten Kram, wen interessiert das, oder? Daher unser "Open Call" zur Mitarbeit aller progressiven Kräfte, egal von wo … who cares? Boundaries kill us! Der Kampf für eine lebenswerte Welt findet für mich in Europa statt und in Mittelamerika, in Indien, nicht nur mit Varshini Prakash und natürlich auch in Brasilien, ein phantastisches Land.

Was man in Polen sehen kann: Das ist fast Faschismus. Es macht mir Angst, es macht mich oft traurig, so etwas zu hören aus vielen Ländern in Europa und in der ganzen Welt. Aber ich will nicht traurig sein, deshalb kämpfe ich … Menschen mit Würde gehen aufrecht durch dass Leben, auch wenn es oft schwerfällt. Wir alle haben uns unseren Kampf nicht ausgesucht, er wurde uns aufgezwungen. Durch diese Welt. Nehmen wir den Kampf also an! Und verzweifeln wir nicht an der Traurigkeit …

… sondern verwandeln sie in Schönes? Aber man sollte nur die Kämpfe führen, die man gewinnen kann.

Renata Avila Pinto: Ach, weißt Du, wenn ich mit meinen Schwestern zu Hause in Guatemala in der Küche beim Gemüseschneiden spreche, da reden wir immer über Politik. Es ist ja nicht so, dass wir nichts Wichtigeres zu tun hätten bei Frauengesprächen, aber Politik ist es nun mal, die die Regeln unseres Lebens gestaltet. Das, was wir aus uns machen können. In Mittelamerika sind wir alle sehr politisch … Es sind wundervolle Länder - mit falscher Politik. Wir tun es, weil wir uns selber so lieben, unsere Länder lieben. Nicht, weil sie besser sind als andere Länder. Sondern, weil wir es lieben, in ihnen zu leben. Und wenn man schon einmal in Brasilien war zum Beispiel, dann weiß man, dass …

… Du arbeitest ja auch in Rio de Janeiro für politische Netzwerke und für Bürgerrechte vor Ort und im Alltag gegen Behörden …

Renata Avila Pinto: Ja, ich mag Rio und die Menschen dort. Wir sollten fröhlich sein, aber auch das macht mich traurig. Die Frauen dort sind wundervoll, sie kämpfen jeden Tag um Geld für ihre Kinder … Und sehen wir uns die Situation aber genauer an, auch und gerade jetzt unter Corona: Die Sterblichkeit für Covid-19 ist am höchsten in den favelas, den Armenvierteln an den Hängen vor Rio. Überrascht mich das? All die Toten? Nein, leider nicht. Das sind die Strukturen, die töten. Das ist die Welt, die mordet. Die Ärmsten. Es trifft immer die Ärmsten.

Und soll ich noch was sagen? Auch, wenn ich zu viel rede? Die größte black comunity, ja, gibt es die in den USA? Nein, die größte schwarze community außerhalb Afrikas, die lebt in Brasilien. Und natürlich leidet diese community nun, die Menschen sterben. Kriegen die Leute da draußen das eigentlich gar nicht mit? Ich bin sowas von wütend und könnte mich schon wieder so aufregen.

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