Sigmar Gabriels neuer Wilhelminismus
Der kommissarische Außenminister will, dass die EU und ihre Führungsmacht Deutschland weltpolitisch selbstbewusster agieren
Der seit 24. Oktober nur noch kommissarisch amtierende deutsche Außenminister Sigmar Gabriel ließ auf dem Siebten Außenpolitikforum der Körber-Stiftung in Berlin durchblicken, dass er nicht die Absicht hat, diesen Posten in einem neuen schwarz-roten Kabinett von sich aus zu Verfügung zu stellen. Sein Hinweis, das Grundgesetz garantiere, dass Deutschland bis zur Bildung einer neuen Regierung handlungsfähig bleibt, deutet zudem darauf hin, dass er ebenso wenig Willens ist, sich bis dahin politisch zurückzuhalten.
In seiner Grundsatzrede forderte Gabriel, dass die EU und deren Führungsmacht Deutschland weltpolitisch selbstbewusster agieren sollten, weil die Vereinigten Staaten nach der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten als weltpolitische Gestaltungskraft geschwächt seien. Da eine Welt ohne Führungsmacht seinem Manuskript nach "brandgefährlich" wäre, gibt es ihm zufolge "keinen bequemen Platz an der Seitenlinie internationaler Politik mehr" - und zwar "weder für uns Deutsche noch für uns Europäer". "Deutschland", so Gabriel, müsse deshalb "mehr tun und wagen". Und dazu, so der SPD-Politiker, der im Wahlkampf mit einer vermeintlichen Gegnerschaft zur Erhöhung des Rüstungsetats geworben hatte, müsse man mehr "investieren".
Wähler anderer Meinung
Bei den Wählern hat diese Positionen keine Mehrheit, wie eine parallel zum Außenpolitikforum veröffentlichte Umfrage der Körber-Stiftung zeigt. Höhere deutsche Rüstungsausgaben werden darin von einer Mehrheit von 51 Prozent abgelehnt. Gegen eine gemeinsame europäische Armee hätten aber 58 Prozent nichts - möglicherweise auch in der Erwartung, dass sich dadurch wie beim "Merging" von Unternehmen Kosten einsparen ließen. Mit 52 Prozent plädiert eine deutliche Mehrheit von neun Punkten außerdem für eine außenpolitische Zurückhaltung Deutschlands - nur eine Minderheit von 43 Prozent ist für mehr "Engagement", wie Gabriel es vorschwebt.
Obwohl für 90 Prozent der Befragten Frankreich der wichtigste Partner Deutschlands ist, hält eine Mehrheit von 54 Prozent nichts von den (von Gabriel und seiner SPD übernommenen) Forderungen des derzeitigen französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron nach einem EU-Finanzminister und einer gemeinsamen europäischen Steuer- und Wirtschaftspolitik (vgl. Macron fordert Schulz auf, mit Merkel zu koalieren).
Außenminister Seehofer?
Noch deutlich mehr - nämlich 59 Prozent - glauben, dass die EU überhaupt in eine falsche Richtung marschiert. Der gleiche Prozentsatz spricht sich dafür aus, zur Begrenzung des Migrantenzustroms auch dann mit afrikanischen Staaten zu kooperieren, wenn diese keine Musterknaben sind.
Drei Prozentpunkte weniger halten - anders als Gabriel und die SPD - eine Migrationsobergrenze für sinnvoll. Die vertrat im Wahlkampf der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer, der nach seinem am Montag angekündigten Abgang als bayerischer Ministerpräsident als neuer Bundesminister gehandelt wird. Auf dem Außenministerposten könnte er sich in Herkunfts- und Transitländern von Migranten kamerawirksam darum bemühen, dass sich der Zuzug verringert und die Rücknahme besser klappt.
Sein designierter Nachfolger Markus Söder meinte zu den Nürnberger Nachrichten mit Bezug auf die Verhandlungen für eine erneute Große Koalition: "Natürlich müssen die Rechtsgrundlagen in Berlin verändert werden. Dazu gehören eine Begrenzung der Zuwanderung, eine weitere Aussetzung des Familiennachzugs und konsequente Abschiebungen." Ob diese Forderung Folgen haben wird, bezweifelt man in Sozialen Medien allerdings insofern, als der Politiker in der Vergangenheit schon viel gefordert hat. Vor zehn Jahren beispielsweise, dass "ab dem Jahr 2020 […] nur noch Autos zugelassen werden, die über einen umweltfreundlichen Antrieb verfügen".
Verlangt Seehofers CSU den Posten des Außenministers, könnte sie nicht nur damit argumentieren, dass der Posten heute (anders als zu Hans-Dietrich Genschers Zeiten) nicht mehr der zweitwichtigste im Kabinett ist, sondern auch mit der in Gabriels kurzer Amtszeit geschehenen Verschlechterung des Verhältnisses zu Ländern wie Israel und den USA (vgl. Gabriel und die selbstbewusste Nation). Die SPD könnte dann den nach Schäubles Abgang frei gewordenen Posten eines Finanzministers beanspruchen, den auch der Erste-Wahl-Koalitionspartner Christian Lindner für wichtiger hielt als den des Außenministers und den Martin Schulz braucht, um Macrons europapolitische Ziele zu verwirklichen, wie er angekündigt hat.
Ob Seehofer als Außenminister eine andere Politik macht als Gabriel, oder ob er dann (wie zahlreiche andere Unionspolitiker) eine "höhere Verantwortung" postuliert, ist ebenso offen wie die Frage, ob er tatsächlich dafür sorgen kann und wird, dass die Rücknahme von Migranten besser klappt. CSU-Entwicklungshilfeminister Müller wollte dazu in der letzten Legislaturperiode ebenso wenig Druckmittel einsetzen (vgl. Entwicklungsminister propagiert "more for more") wie der damalige SPD-Wirtschaftsminister Gabriel (vgl. Wirtschaftsministerium könnte Druck auf rücknahmeunwillige Maghreb-Länder ausüben).