Sind unsere Rechtsnormen tatsächlich mit den neuen wissenschaftlichen Funden unvereinbar?

Klaus Günther über die naturalistische Herausforderung des Schuldstrafrechts

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Glaubt man der Meinung mancher Hirnforscher, so ist es um die Freiheit des Menschen schlecht bestellt. Auch wenn wir uns ständig als frei handelnde erlebten, auch wenn wir das überzeugende Gefühl hätten, die Urheber unserer Gedanken und Taten zu sein, so müssten wir dies alles als eine geschickte Täuschung unseres Gehirns auffassen. Ein perfektes Theater, gespielt auf der neuronalen Bühne in uns selbst, den dynamischen Gesetzen der ziellosen Selbstorganisation folgend, noch unhintergehbarer als die Matrix.

Das häufig vorgebrachte Argument ist dabei einfach und kurzsichtig zugleich: Die Wissenschaft zeige, die Welt sei determiniert. Somit müsse auch das Gehirn determiniert sein. Da nun weiterhin der Geist vollständig vom Gehirn abhänge, müsse folglich auch der Geist determiniert sein. Schließlich sei es unvorstellbar, dass ein determinierter Geist frei sein könne, also müssten wir alle unfrei sein. Einfach ist das Argument, da es auf den ersten Blick einleuchtend erscheint. Kurzsichtig ist es, weil es mögliche Verständnisse eines freien Willens unabhängig davon, ob die Welt nun deterministisch ist oder nicht, so genannte kompatibilistische Positionen, außen vor lässt. Auch wenn man das Determinismus-Argument in jedem seiner Zwischenschritte aushebeln könnte, findet es doch immer wieder Anhänger. Regelmäßig wird ihm von manchen eine hohe Überzeugungskraft beigemessen. Dabei ist es noch nicht einmal neu, sondern kehrt vielmehr periodisch wieder, seitdem die Menschen die Natur erforschen.

Wolf Singer, einer der Direktoren das Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt und einer der prominentesten Vertreter eines „harten“ Determinismus in jüngerer Zeit, forderte nicht nur die Abschaffung des Schuldbegriffs, sondern entwickelte eine Position, die nur noch scheinbar von Verantwortung spricht, vielmehr aber Gefährlichkeit meint. Das heißt, im Strafrecht solle man nicht mehr von Schuld und Strafe sprechen, sondern von Gefährlichkeit und Prävention. Das würde bedeuten, Verbrecher würden heutzutage aus den falschen Gründen inhaftiert. Nicht deshalb, weil sie schuldig seien, sondern allein um die Gesellschaft zu schützen, müsse man sie wegsperren – so stellen es sich manche „harte“ Deterministen jedenfalls vor, wenn sie eine Revolution unseres Rechtssystems fordern.

Wenn es um so eine folgenreiche Änderung geht, dann lohnt es sich, etwas genauer hinzuschauen. Am besten vom Standpunkt eines Strafrechtlers aus, der die neurowissenschaftlichen Funde und ihre philosophischen Implikationen kritisch beäugt. Mit Klaus Günther von der Universität Frankfurt, Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht, haben wir einen solchen Experten auf die Tagung „Von der Neuroethik zum Neurorecht?“ geladen und wollten mehr darüber wissen, wie das Schuldstrafrecht auf die naturalistische Herausforderung vorbereitet ist.

Freiheit oder gar kein Recht?

Günther macht zunächst deutlich, dass diese Schlussfolgerung des „harten“ Deterministen nicht auf das Strafrecht beschränkt bleiben dürfe: Das Recht insgesamt setze nämlich voraus, dass die Menschen durch ihre eigenen Abwägungen und Entscheidungen geleitet das Recht befolgen könnten – oder eben auch nicht, wenn sie sich zu verbotenen Taten entschließen. Außerdem ergebe sich auf höherer Ebene für die Jurisprudenz ein Problem, da folglich die Urteile der Richter nicht deren freien Willen entspringen könnten, sondern allein durch kausal determinierte neuronale Prozesse entstünden. Anders, als es das Recht vorsehe, dürften dann auch die Richter nicht für ihre Urteile zur Verantwortung gezogen werden.

Beschäftigt man sich mit Günthers eigenem Fachgebiet, so fällt zunächst auf, dass auch innerhalb der Strafrechtswissenschaft der Schuldbegriff nicht unumstritten ist. Erstaunlich ist vor allem, dass es nach deutschem Recht – ebenso wie in den meisten anderen Ländern – keine positive Definition dessen gibt, was Schuld eigentlich bedeutet. Versuche einer Definition seien letztlich alle nicht von Erfolg gekrönt worden. So sei es auch einem Urteil des Bundesgerichtshofs den 1950er Jahren ergangen. Die Richter hätten als eine Voraussetzung für den Schuldvorwurf angesehen, dass „der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, sein Verhalten nach den Normen des rechtlichen Sollens einzurichten und das rechtlich Verbotene zu vermeiden“ (BGHSt 2, 200). Diesem höchstrichterlichen Urteil zum Trotz habe sich keine positive Bestimmung für den Schuldbegriff durchgesetzt. Die Strafrichter seien nicht dazu übergegangen, in jedem Einzelfalle die genannten Voraussetzungen für den Schuldvorwurf anzunehmen und zu prüfen.

Anstelle einer positiven Bestimmung würden lediglich die gesetzlichen Möglichkeiten eines Schuldausschlusses angewendet, die an besondere Umstände gebunden seien. Hier seien vor allem fehlende Reife (Alter unter 14 Jahren) oder die krankheitsbedingte Unfähigkeit, das Unrecht einer Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, zu erwähnen. Andere Beispiele seien der entschuldigende Notstand und der Notwehrexzess. Richter in Deutschland müssten dann im Einzelfall prüfen, ob solche die Schuld ausschließenden Umstände vorgelegen hätten. Diese gesetzlichen Bedingungen wiederum seien aber im Strafrecht nicht haarscharf formuliert, sondern allgemein gehalten. Das lässt den Richtern Entscheidungsspielraum und es kann passieren, dass die Meinungen dazu auseinandergehen, ob ein Täter für seine Tat schuldfähig ist oder nicht. Tatsächlich sei dieser Spielraum, so Günther, auch historischen und kulturellen Schwankungen unterlegen. Das heißt, was man heute als einen Grund für eine Schuldunfähigkeit zulässt, kann morgen schon ganz anders bewertet werden.

Damit ist festzustellen, dass nach deutschem Recht die Schuldfähigkeit erst einmal prinzipiell angenommen wird und nur ganz besondere Umstände – die jedoch nicht genau definiert sind – eine Ausnahme von dieser Annahme rechtfertigen. Günther macht deutlich, dass darin eine Normalitätsunterstellung enthalten sei: Weil sich die überwiegende Mehrheit der Personen rechtstreu verhalte, würde sie es auch vom Einzelnen erwarten, sich ebenfalls an die Gesetze zu halten. Nun sei die Frage, wie hoch man die Hürde für die Anwendung des relevanten § 20 des Strafgesetzbuches – Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen – setze. In der rechtlichen Debatte habe man schon diskutiert, ob die Regelung „ein Nadelöhr oder eine Eingangspforte“ sein solle. In letzterem Falle bestehe das Risiko, zu viele Delinquenten von ihrer Schuld zu befreien, eine Art Dammbruch der Schuldunfähigkeit. Ein derartiger Dammbruch würde aber ohnehin kein Eldorado für Kriminelle bedeuten: Im Falle der Anwendung des Paragraphen für die Schuldunfähigkeit kann ein Delinquent nicht automatisch aufatmen. Von einer verordneten Entziehungskur über den Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt bis hin zur Sicherheitsverwahrung lässt das Recht auch für nicht schuldfähige Täter Möglichkeiten der Freiheitseinschränkung offen. Besonders heikel an einer solchen Verwahrung ist, dass ihr im Unterschied zu einer verordneten Freiheitsstrafe kein Ende gesetzt wird: Für die ersehnte Freiheit muss der Täter erst als unbedenklich eingestuft werden.

Hirnforschung, Willensfreiheit und das Strafrecht

Mit einem Blick auf die aktuelle Debatte zur Frage des Determinismus und der Willensfreiheit betont Günther zu Recht, dass es derartige Diskussionen seit der Aufklärung immer wieder gegeben habe. Folglich gebe es im Strafrecht verschiedene Positionen, die sowohl mit einem Determinismus als auch mit einem Indeterminismus vereinbar seien sowie sogenannte agnostische Positionen, welche die Frage der Determination schlichtweg offen ließen. So könne man gegen eine Position, die Willensfreiheit an den Indeterminismus kopple, beispielsweise vorbringen, dass unsere Entscheidungen ohne jegliche Determinanten letztlich dem Spiel des Zufalls überlassen blieben. Gerade für zufälliges Geschehen würden wir Personen in der Regel aber nicht verantwortlich machen. Dem Argument, das Determiniertheit mit Unfreiheit kurzschließt, muss man als Jurist also nicht unbedingt folgen.

Welche Optionen bestehen aber nun für das Strafrecht, mit den Funden der Hirnforschung umzugehen? Günther zeigt hier drei Möglichkeiten: Erstens könnten empirische Ergebnisse allenfalls Einflüsse darauf haben, unter welchen Umständen man im Rahmen der bestehenden Gesetze – man erinnere sich an den § 20 – von Schuldunfähigkeit spricht. Dass könnte bedeuten, dass man die Beurteilung von Gründen, welche die Schuld ausschließen, vermehrt unter Berücksichtigung neurologischer und neurowissenschaftlicher Untersuchungen vornimmt. Mit einer Revolution des Strafrechts wäre in diesem Falle aber nicht zu rechnen.

Zweitens könne man sich, so Günther, auf Kontroversen um den Determinismus einlassen und aufzeigen, dass die besonders komplexe Form der Determination des Menschen freies Handeln zulasse. Inwiefern sich das auf den Schuldbegriff im Strafrecht auswirke, bleibe dann jedoch abzuwarten. Wolle man hier den Ansichten der harten Naturwissenschaften folgen, bedürfe es nicht zuletzt begrifflicher Alternativen in Form einer Beobachtersprache, welche unserem sozialen Umgang miteinander Rechnung trage.

Drittens könne man die Konsequenzen aus den harten Thesen mancher Neurowissenschaftler ziehen und den Schuldbegriff schlichtweg abschaffen. Folglich müssten jedoch neurowissenschaftliche Kategorien als Ersatz dienen und auch die Strafe durch Schutzmaßnahmen ersetzt werden. Diese Alternative hält Günther jedoch für problematisch, da dann auch die Legitimität des Schutzbedürfnisses nicht mehr ersichtlich sei – es würde darum gehen, eine Mehrheit von Gehirnen gegen eine Minderheit „gefährlicher“ Gehirne zu schützen. Mit Gerechtigkeit hätte das nichts mehr zu tun: „Gerecht wäre das, was der sich durchsetzenden Gruppe nützt, indem es sie schützt – gerecht wäre das Recht des Stärkeren“, bringt er es auf den Punkt.

Eine Dystopie für das Strafrecht

Günthers eigener Meinung zufolge steht auch dem von manchen Vertretern der Hirnforschung prophezeiten Umbruch des Menschenbildes zum Trotz keine Revolution des Strafrechts und der Praxis des Kriminaljustizsystems bevor. Gleichzeitig weist er aber auf einen „beschleunigten Veränderungsprozess“ des aktuellen Strafrechts hin, der zwar nicht von der Neurowissenschaft ausgehe, interessanterweise aber von ihren Argumenten gestützt werde. Gemeint sind kriminalpolitische Sicherheitsinteressen, welche den strafrechtlichen Schuldbegriff schrittweise überflüssig machten. Als Beispiele nennt Günther den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel in der Strafverfolgung – man denke an verdeckte Ermittler und die Lauschangriffe –, verstärkte Kooperationen zwischen Polizei- und Verfassungsschutzbehörden, auch auf transnationaler Ebene, sowie die Ausdehnung der Sicherheitsverwahrung für „gefährliche“ Täter. Dieser Trend sei etwa durch die Bekämpfung organisierter Kriminalität, schwerer Sexualdelikte und des internationalen Terrorismus bedingt und habe dazu geführt, die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit in Richtung der letzteren zu verschieben.

In einer Welt, in der man dies mit aller Konsequenz durchsetze, würde die Frage nach Schuld und Strafe durch die nach Gefährlichkeit und Sicherheit ersetzt. Das könne dazu führen, einen Verbrecher nur noch als eine Gesamtheit von Ursachen und Wirkungen anzusehen, auf den aus Schutzbedürfnissen wiederum von Seiten des Staates kausal eingewirkt werden solle. Man würde nicht mehr nach der Verantwortung des Täters für seine Tat fragen, sondern im Voraus versuchen, möglichst gefährliche Individuen ausfindig zu machen und dann verhindernd einzugreifen. Im Gegensatz zu Tatvorwürfen, die sich auf einen konkreten Sachverhalt in der Welt – das Verbrechen – beziehen, könnte so ein „Gefährlichkeitstest“ aber nur im diffusen Raum der Wahrscheinlichkeitsaussagen stattfinden. In Günthers Worten:

„Um Sicherheit herzustellen, bedarf es der frühzeitigen Intervention – beispielsweise durch einen verdeckten Ermittler, der als agent provocateur einen Menschen wie in einem Experiment testet, ob es sich bei ihm um eine sicherheitsrelevante Gefahrenquelle handelt, oder durch einen Spezialisten für Rettungsfolter, der einen Menschen durch kausale Einwirkungen als Informationsquelle auspresst, um drohende Schäden zu verhindern.“

Bleibt noch die Frage, was mit einem derart als Risiko für die Allgemeinheit eingestuften Individuum zu tun wäre. Eine Ausdehnung der Sicherheitsverwahrung erscheint da fast noch als harmlose Möglichkeit. Mit einem Blick auf die Hirnforschung mag man spekulieren, eines Tages gleich in Form von Psychopharmaka oder anderen Interventionen im Gehirn staatliche „Hilfe“ zu verordnen. Um ein solches Zukunftsszenario zu vermeiden, scheint es daher wichtiger, die aktuellen kriminalpolitischen Trends kritisch zu reflektieren, als seine Aufmerksamkeit allein auf die Determinismus-Debatte zu lenken, die tatsächlich nur eine ewige Wiederholung im Voranschreiten von Kultur und Wissenschaft ist.

Textgrundlage: Klaus Günther, Hirnforschung und strafrechtlicher Schuldbegriff, Kritische Justiz 2/2006, S. 116-132.