Sing it Away

Wie der Eurovision Song Contest die Flüchtlingskrise meistert

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Am 14. Mai findet in Stockholm das große Finale des diesjährigen Eurovision Song Contests statt. Die Kandidaten stehen fest, auch die Favoriten sind bereits nominiert. Zu meiner Enttäuschung hat sich niemand an meine visionäre Afsana-Strategie herangewagt, die ich nach wie vor für sehr erfolgsversprechend halte (Mission: Germany 12 Points). Stattdessen treten viele Länder mit Titeln an, die auf frappante Weise die aktuelle politische Lage zu kommentieren scheinen.

Ich habe mir das mal durchgesehen und komme zum Schluss: Obwohl sich die meisten Teilnehmer um völlige Beliebigkeit und Austauschbarkeit der Inhalte bemühen, scheint die Flüchtlingskrise und die europäische Antwort darauf bei vielen Liedermachern doch mehr Spuren hinterlassen zu haben, als sie sich eingestehen wollen.

Ungarn beispielsweise, das mit seinen Stacheldrahtzäunen eine Vorreiterrolle in Europa einnimmt, entsendet wie zur Bekräftigung dieser Tatsache Sänger Freddie mit dem Titel "Pioneer". Österreich, das dem Pionier Ungarn mittlerweile mit Stacheldraht quer durch das Tiroler Herz nacheifert, lässt über die elfenhafte Sängerin Zoe auf Französisch ausrichten, wohin es sich die Flüchtlinge wünscht: "Loin d'ici" - weit weg von hier.

Italien seinerseits reagiert auf die österreichische Abspaltung mit Francesca Michielins Aufruf "No Degree of Separation" - um keinen Grad dürfe man sich trennen. Serbien hat ebenfalls eine klare Vorstellung, was zu den Flüchtlingen zu sagen ist: "Goodbye (Shelter)" heißt der Beitrag von Sängerin ZAA Sanja Vučić. Während Albanien noch an Märchen glaubt (Eneda Tarifa singt "Fairytale"), hat Griechenland die Hoffnung auf europäische Solidarität aufgegeben und träumt mit der Band Argo vom "Utopian Land".

Fast schon zynisch darf man in diesem Kontext die Beiträge von Dänemark und Schweden nennen. Dänemark, das darüber nachdenkt, zur besseren Sicherung seiner Grenzen auch Soldaten einzusetzen, lässt mit Lighthouse X versichern, es handle sich aber wenn, dann lediglich um "Soldiers of Love". Schweden, dessen Politik der offenen Türen ein umstrittenes Ende gefunden hat, singt mit Frans schulterzuckend "If I were sorry".

"Walk on Water"

Nicht minder fragwürdig der maltesische Zuruf an die Flüchtlinge, die angesichts geschlossener Routen nicht mehr wissen, wohin sie sich wenden sollen. Sängerin Ira Losco hat den ultimativen Tipp: "Walk on Water". Das klappt aber höchstens, wenn man, wie Armeniens Sängerin Iveta Mukuchyan, auf einer "LoveWave" unterwegs ist.

Freilich zeigen nicht alle Beiträge eine gleichermaßen ablehnende Haltung. Island mahnt von der (sicheren) Ferne "Hear them calling" und Großbritannien lässt mit Joe und Jake aufhorchen, die versichern "You Are not Alone". Damit sind aber möglicherweise nur die Unterstützer einer Abschottungspolitik gemeint, die in Europa tatsächlich längst nicht mehr allein sind, weswegen Rykka für die restriktive Schweiz völlig zu Unrecht behauptet "(We're) The Last of Our Kind".

Leider ist ein "Icebreaker", den Norwegens Agnete herbeisingt, außer Sicht. Dennoch gibt es auch konkrete Signale der Hilfsbereitschaft: Kroatiens Nina Kraljic möchte ein "Lighthouse" zur besseren Orientierung auf der Mittelmeerroute aufstellen und Weißrusslands Ivan verspricht "Help You Fly", aber der niederländische Countrysänger Douwe Bob bremst die Begeisterung mit "Slow Down". Die Staaten, die nicht direkt betroffen sind, können sich freilich ganz gelöst ihre Erleichterung von der Seele singen ("Sing It Away", der finnische Beitrag von Sandhja). Ganz so euphorisch wie bei Spanien ("Say Yay!" von Barei) hätte diese Erleichterung freilich auch nicht ausfallen müssen.

Etwas zurückhaltender äußert sich da Australien, das zum zweiten Mal dabei ist und es angesichts seiner eigenen Asylpraktiken offenbar vorzieht, keine Ratschläge zu erteilen: "Sound of Silence" lautet der Titel von Dami Im. Rumänien wiederum schweigt aus anderen Gründen: Das Land wurde kurzfristig von der Europäischen Rundfunkunion EBU vom Wettbewerb ausgeschlossen; interessanterweise hatte Ovidiu Antons Beitrag mit "Moment of Silence" einen nahezu prophetischen Titel.

In all diesem Verstummen, Abschotten und Ausgrenzen ist es kein Wunder, dass auch Deutschland den verblassenden Geist des Gutmenschentums in sich spürt. Statt des mit Spannung erwarteten Auftritts von "Angie and the Refugees" bringt nun Jamie-Lee Kriewitz das aktuelle deutsche Lebensgefühl mit dem Titel "Ghost" auf den Punkt.

Fairerweise muss man aber auch zugeben, dass nicht jedes Lied des diesjährigen ESC auf die Flüchtlingskrise gemünzt werden kann. Frankreich und Belgien etwa führen einen etwas grimmigen Dialog über die schlecht funktionierende Zusammenarbeit bei der Suche nach belgischen Terroristen. "J'ai Cherché" lässt Frankreichs Amir wissen, aber Belgiens Laura Tesoro kontert gelassen "What's The Pressure".

Der große Favorit Russland hingegen hält sich aus dem europäischen Geplänkel heraus und wendet sich dem aus seiner Sicht einzigen Wichtigen zu. Sänger Sergey Lazarev singt die Hymne "You Are the Only One", und wir alle wissen, an wen sie gerichtet ist. Wie "the Only One" wohl darauf reagiert, dass die Ukraine mit dem Lied "1944" der Sängerin Jamala an die Deporation der Krimtataren durch die Rote Armee erinnert?

"1944" ist denn auch das Lied, mit dem sich der Kreis zur Flüchtlingsthematik schließt. Darin heißt es, übersetzt: "Ich konnte meine Jugend nicht dort verbringen, weil ihr mir den Frieden geraubt habt." Aber das ist doch schon eine Spur zu ernst für einen Wettbewerb, der von Herzen, Sternen, Sonnenschein singt und eine Menge Pyrotechnik aufwendet, um so wenig Inhalt wie möglich zu transportieren. "Play", singt Jüri Pootsmann folgerichtig für Estland. Europa spielt weiter. Und am Ende gewinnt womöglich "the Only One". Keine wirkliche Überraschung.