Situational Awareness für die Polizei
Militärische IT-Systeme zur "vernetzten Operationsführung" werden zunehmend im Bereich der "inneren Sicherheit" implementiert
Unter dem Primat der "Sicherheit" werden polizeiliche Großlagen zunehmend durch komplexe IT-Anwendungen unterstützt. Proteste gegen Gipfeltreffen oder zuletzt die regierungskritischen Demonstrationen im Iran werden dabei aus polizeilicher Sicht als "Störung" betrachtet, die fortan technisch unterstützt gehandhabt werden soll. Die Industrie für "Homeland Defense" versorgt Polizeien hierfür mit "Einsatzführungssystemen" oder "Monitoring Centres".
Alle größeren europäischen Rüstungskonzerne haben inzwischen IT-Anwendungen im Sortiment, um die ursprünglich für den militärischen Bereich entwickelte "Vernetzte Operationsführung" auch für Polizeien, Rettungsdienste und zur Sicherung "kritischer Infrastruktur" nutzbar zu machen.
"Vernetzte Operationsführung" meint die Zusammenführung aller verfügbaren Führungs-, Informations- und Überwachungssysteme, um ein genaueres Lagebild zu erhalten und so die Entscheidungsfindung und Führungsfähigkeit zu verbessern. Bekannt unter dem militärischen Akronym C4ISR ("Command and Control, Communications, Computers, Intelligence, Surveillance and Reconnaissance") hatte die "Vernetzte Operationsführung" zuerst bei US-Militärs Einzug gehalten. Als Weiterentwicklung der militärischen Strategieplanung gilt indes C4ISTAR als Schnittstelle des "Führungsinformationssystems" C4I (Command, Control, Computers, Communications, Information) und dem "Aufklärungssystem" ISTAR (Intelligence, Surveillance, Target Acquisition, Reconnaissance).
"Wir kommen vor die Lage"
Im zivilen Bereich häufig als "integriertes Führungssystem" bezeichnet sollen die Plattformen die "Lage" visualisieren, Befehlsketten verkürzen und Nachschub effizienter organisieren. Einsätze würden dadurch optimiert, ihre Planung erleichtert, aufgrund der gespeicherten Vorgänge können zukünftige Großlagen simpel simuliert werden. Wie beim Militär geht es um "Situational Awareness", also der taktischen Überlegenheit ("Full-spectrum dominance") zu jeder Zeit und an jedem Ort. Proteste degradieren hier zur "Störung" oder zum "Gegner".
Die Anwendungen von SELEX oder RUAG unterstützen den polizeilichen Trend, bei Großlagen wie Gipfeltreffen die Region in geografische Bereiche zu unterteilen, die einem abgestuften Konzept von Betretungsverboten unterliegen bzw. in denen unterschiedliche Hierarchien von Polizeieinheiten operieren. Auf deutscher Seite waren etwa beim NATO-Gipfel die Städte Kehl und Baden-Baden in verschiedene Zonen eingeteilt, beim G8-Gipfel 2007 rund um Heiligendamm hatte die Polizei sogar ein generelles Demonstrationsverbot weit außerhalb des damaligen Zauns rund um den Gipfelort erlassen. Prioritäres Ziel ist jeweils, den "Staatsgästen" sowohl den Anblick von Protest als auch jegliche akustische Störung zu ersparen. Der polizeiliche Erlass für Heiligendamm war vom Bundesverfassungsgericht entschieden zurückgewiesen worden - für die Protestierenden jedoch zu spät (Versammlungsverbote verfassungswidrig, aber notwendig?).
Während SELEX, Ableger des italienischen Rüstungskonzerns Finmecchanica, sein Intergraph Security Incident Management bei G8-Gipfeln oder der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland untergebracht hatte, buhlt die Schweizer Rüstungs-Holding RUAG um Beschaffungsabteilungen deutscher Länderpolizeien. Unter dem internen Projektkürzel "LageZH" hat RUAG "PantherCommand" entwickelt, das die Firma als "Kräftevisualisierungssystem" bezeichnet.
In einem Online-Game sollen interessierte Polizeieinkäufer vom Nutzen der Technik überzeugt werden. Die Spielszenarien machen deutlich, dass die Aufgabe der Polizei längst nicht mehr in der Umsetzung des verfassungsrechtlich verankerten Demonstrationsrechts besteht, sondern vielmehr in der reibungslosen Abwicklung von Staatsbesuchen. Im Szenario "Gipfeltreffen" soll der Spieler den französischen Präsident Sarkozy vom Flughafen zum Gipfeltreffen lotsen. Als Protest gegen den Staatsbesuch bewegt sich eine Demonstration durch die "Hochschulstraße". Die Stadt ist vollgestopft mit "zivilen Fahndern", um die Leitstelle mit Lageinformationen versorgen. Ein "Abfangkommando" der Polizei soll die Demonstration stoppen, nach Auseinandersetzungen mit der Polizei müssen zwei Verletzte von einem Krankenwagen versorgt werden.
Die Plattform von RUAG ist konzipiert für "Konferenzen, Großanlässe, Demonstrationen oder Entführungen", Einsätze können vorher mittels Animationen durchgespielt werden. Bei Bedarf können andere Sicherheits- und Rettungsorganisationen in die "dynamische Gesamtlage" eingebunden werden. Einsatzfahrzeuge sind mit Trackern ausgerüstet und können Informationen sowohl zügig übermitteln als auch selbst dargestellt bekommen. Hierdurch soll vor allem der Funkverkehr entlastet werden. Verdeckte Ermittler sind ein zentraler Bestandteil der Systeme.
Angeschlossen sind neben den "zivilen Fahndern" auch optische Sensoren, darunter Kameras oder, soweit verfügbar, Bilder aus der Satellitenaufklärung. Das "Einsatzführungssystem" erzeugt Organigramme, elektronische Formulare und "redigiert Einsatzbefehle". Gruppen- oder Zugführern können "Einsatzbefehle einfach per Knopfdruck" erteilt werden. Sämtliche Einsatzelemente ("Personen, Fahrzeuge, Hundestaffel"), die "zu schützenden Personen" und Demonstranten werden auf einer Karte als Gesamtlage in Echtzeit visualisiert. Die Einsätze werden protokolliert, um sie für Auswertungen und Schulungen verfügbar zu machen und damit wiederum Kosten zu sparen. Die Daten könnten aber auch "für Medien zur Beweiserbringung" dienen, wenn etwa über die Einschränkung des Demonstrationsrechts zu kritisch berichtet würde.
Laut Produktinformation wurden mit "PantherCommand" bereits mehrere Großlagen gehandhabt, darunter der NATO-Gipfel 2009 in Baden-Baden und Kehl oder die Fußballeuropameisterschaft EURO08 in Zürich. Für den NATO-Gipfel wurde die damalige "Besondere Aufbauorganisation Atlantik" der Freiburger Landespolizeidirektion innerhalb von 4 Wochen nach Bestellung mit dem System beliefert. Die deutsche Polizei hatte PantherCommand angeblich bereits 2008 beim World Economic Forum in Davos kennengelernt, als Hundertschaften der Bundespolizei Amtshilfe in der Bekämpfung einer Großdemonstration in Graubünden geleistet hatten.
Auch das Frankfurter Polizeipräsidium will sein Einsatzmanagement mit PantherCommand verbessern. "Wir kommen vor die Lage", freut sich die Befehlsstelle im Polizeipräsidium unisono mit dem BKA-Präsidenten, der die gleiche Losung 2008 auf einer "Sicherheitskonferenz" der Softwarefirma rola Security Solutions ausgegeben hatte. Laut rola kämen der "Beschaffung und zielführenden Auswertung von Informationen" eine zentrale Bedeutung zu, "Informationen über kriminelle Gruppen und Vorgehensweisen, über geplante Aktionen müssen möglichst zeitnah möglichst vielen Sicherheitsbehörden zur Verfügung stehen".
Die Polizei will mit Anwendungen wie "PantherCommand" vor allem ihre Entscheidungshoheit bei Demonstrationen zurückgewinnen und etwa "ausbrechende Gruppen" schneller zurückdrängen oder einkesseln. Das Vokabular erinnert dabei immer wieder an die Herkunft der Plattformen aus dem militärischen Bereich: "Ihre Kräfte an der Front können das Bildmaterial auf Notebooks und PDAs empfangen und vor Ort Entscheidungen treffen."
"Integrierte Einsatzführung" ist Lieblingsthema bei Polizei und Industrie
Der Markt für "Integrierte Einsatzsysteme" ist umkämpft. Firmen wie EADS, Finmecchanica, Thales oder BAE Systems können durch ihre breite Produktpalette ganze Komplettsysteme für Grenzüberwachung, polizeiliche Großeinsätze oder die Sicherung kritischer Infrastruktur anbieten.
Dem lukrativen Sektor für "Homeland Defense" werden in einer Studie des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts vierfache Wachstumsraten von 2005 bis 2015 vorausgesagt. Einsatzmöglichkeiten bieten sich unter anderem in für neue EU-Mitgliedsstaaten obligatorischen Grenzsicherungssystemen oder dem von der EU geplanten zentralen Zentrum EUROSUR in dem sämtliche Informationen aller Grenzbehörden der Mitgliedsstaaten zusammengeführt werden sollen.
Zahlreiche EU-Sicherheitsforschungsprogramme bemühen sich um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Sicherheitsindustrie gegenüber ihrer Konkurrenz aus den USA, Indien oder Saudi-Arabien. Unter Federführung von Thales, EADS, Finmeccanica, SAGEM Défense Sécurité und der Lobby-Organisation AeroSpace and Defence Industries Association of Europe (ASD) hatte die EU 2007 das Europäische Sicherheitsforschungsprogramm (ESRP) aufgelegt (Sicherheitsforschung für den "westlichen Lebensstil"). Zusammen mit BAE Systems profitieren die oben genannten Firmen in rund zwei Dritteln der Projekte von den EU-Forschungsgeldern. Projekte wie SAMURAI oder INDECT (Allround-System für europäische Homeland Security) versuchen dabei, noch mehr Informationsquellen in die "Vernetzte Operationsführung" einzubinden (Fliegende Kameras für Europas Polizeien), verdächtige Objekte und Personen mittels biometrischer Verfahren zu klassifizieren und Entscheidungen weiter zu automatisieren.
Zuletzt hatten zahlreiche Firmen ihre Produkte an ihren Pavillons beim Europäischen Polizeikongreß in Berlin beworben. Die jährliche Verkaufs-Messe für "Homeland Defense" wird von der Verlagsgruppe Behörden Spiegel organisiert. Auffällig war die starke Präsenz von Sponsoren aus dem Software-Bereich. In Vorträgen und Podien hatten Vertreter der Industrie für ihre Applikationen geworben. Weitere Veranstaltungen gingen der Frage nach, wie die neuen Technologien am besten in die Polizeiarbeit integriert werden könnten. Als Lobbyist tritt dabei der ehemalige Brigadegeneral Reimar Scherz auf, der nun für den "Behörden Spiegel" tätig ist und dort unumwunden erklärt, die "Integrierte Einsatzführung" sei sein Lieblingsthema.
Die Einsatzmöglichkeiten der Überwachungszentren zur Kontrolle sozialer Bewegungen haben zuletzt die Proteste im Iran gezeigt. Im ZDF-Magazin Frontal21 hat der österreichische Journalist Erich Moechl jüngst die Nutzung "Integrierter Einsatzführung" zur Niederschlagung der Opposition erläutert. Siemens Nokia hatte der Regierung ein sogenanntes "Monitoring Center" geliefert und installiert, das unter anderem Daten aus der Telekommunikationsüberwachung einbindet. Die Plattform registriert und analysiert Standort- oder Verbindungsdaten von Mobiltelefonen und übermittelt sie an ein Lagezentrum. Damit konnten die Behörden leicht erkennen, wenn sich auffällig viele Telefone in einer bestimmten Funkzelle einbuchten. Tatsächlich haben Betroffene im Nachhinein verwundert erklärt, wie schnell die Polizei von spontanen Versammlungen erfuhr. Selbst ohne Mitschnitte der Telefonate verfügen Verfolgungsbehörden damit über ein wichtiges Instrument zur Kontrolle sozialer Bewegungen: Wer hat wen bei welcher Demonstration getroffen?
Unter dem Namen Civil and National Security wirbt Siemens für eine breite Produktpalette, darunter "moderne Simulations- und Managementsysteme, integrale IT-Plattformen, integrierte Grenzkontrollsysteme, Tools zur effizienten Strafverfolgung". Als Einsatzgebiete der Siemens-Plattformen gelten dort "internationaler Terrorismus, Hooliganismus, Schmuggel, organisiertes Verbrechen und Naturkatastrophen".
Laut Produktbeschreibung von Siemens Nokia kann das an den Iran gelieferte "Monitoring Center" auch Datenbanken von Finanz-, Gesundheits- und selbstredend Sicherheitsbehörden einbinden. Zum Lieferumfang gehören Wartung und Update des Systems, als weitere anvisierte Märkte umreißt die Firma "Nahost, Fernost und Europa".