Skandal um Gaza-Todeszahlen: Wer manipuliert hier wirklich die Wahrheit?
Die Todeszahlen im Gaza-Krieg schockieren. Israel zweifelt die Angaben an. Der Blick auf die Angaben beider Lager zeigt krasse Unterschiede. (Teil 1)
Als ich am 1. Januar 2025 den Computer öffnete und die mir von Microsoft ausgewählten Nachrichten überflog, fiel mir eine Überschrift ganz besonders auf: "Mehr als 1.400 Luftangriffe (der israelischen Armee) im Dezember (auf Gaza)." Das sind mehr als 45 solcher Angriffe pro Tag!
Man stelle sich nur vor: 45-mal Silvesterböllerei, und das jeden Tag! Das ist keine Banalisierung der außerordentlichen Leiden der Bevölkerung des Gazastreifens seit 8. Oktober 2023. Es ist der Versuch, mir zu verdeutlichen, was diese Zahlen in meiner unmittelbaren Umgebung des Jahreswechsels bedeuten könnten.
Eine Gesamtübersicht der Todesopfer dieser Angriffe hat die israelische Armee in ihrer Nachricht nicht zur Verfügung gestellt.1 Aber sie behauptet wie gewohnt, sie hätte nur Terroristen getötet und Waffenlager, Tunnel und Ähnliches zerstört.
Behörden: Sechs Prozent weniger Bevölkerung
Das Palästinensische Zentralbüro für Statistik teilt mit, dass Gaza sechs Prozent seiner Bevölkerung im vergangenen Jahr verloren hätte. Das ist etwa das Sechsfache der geschätzten Zahl der Mitglieder des bewaffneten Arms von Hamas vor Oktober 2023. Die Behauptung der israelischen Armee, sie töte in ihrer 15-monatigen "Operation Eiserne Schwerter" nur Terroristen, wurde unlängst durch Mitteilungen israelischer Soldaten in der israelischen Zeitung Haaretz widerlegt.
Sie berichten von wahllosen Tötungen von Zivilisten, die anschließend in den Berichten an die zuständige Armeezentrale als Terroristen bezeichnet werden, egal, wie alt oder welchen Geschlechts sie waren.
Was der Armeesprecher sagt
Ein früherer Bericht in der israelisch-palästinensischen Online-Zeitschrift +972 hat bereits vor Monaten über die hohe Fehlerquote der angeblich präzisen Bombardierungen berichtet.2
Der Sprecher der israelischen Armee Daniel Hagari erklärte schon am 9. Oktober 2023 freimütig: "Der Schwerpunkt liegt auf Schaden, nicht auf Genauigkeit."
Dennoch behauptet die israelische Armee unverdrossen, sie warne und schütze Zivilisten, töte ganz präzise ihr vorher unzweifelhaft bekannte Terroristen, and lehnt die Zahlen des palästinensischen Gesundheitsministeriums in Gaza als übertrieben ab.
Die Haltung israelischer Geheimdienste
Die israelischen Geheimdienste dagegen betrachten zumindest bis Anfang 2024 die vom palästinensischen Gesundheitsministerium ermittelten Zahlen als generell zuverlässig. Ob sie seitdem ihre Meinung geändert haben, ist mir nicht bekannt.
Im Juli 2024 bestätigt ein Artikel im Medizinjournal Lancet, dass den Zahlen des Ministeriums im Wesentlichen Vertrauen entgegengebracht wird.
US-Präsident stützt Zweifler
Andererseits gab es seit Beginn der schweren Bombardierungen Gazas durch Israels Luftwaffe und der etwa drei Wochen später erfolgenden Bodenoffensive immer wieder Behauptungen von Politikern wie US-Präsident Joe Biden und anderen, dass die Todeszahlen des palästinensischen Gesundheitsministeriums gefälscht sind.
Auch die Zahl von Artikeln mit solchen und ähnlichen Vorwürfen ist beachtlich. Sie beziehen sich häufig auf die ersten von zwei Analysen von G. Epstein, Forscher am Washington Institute for Near East Policy.3 Er bestätigt die oft in Abrede gestellten hohen Opferzahlen weitgehend.
Kritik an neokonservativem Thinktank
Er ist zugleich einer von zwei Experten, die harsche Kritik an einem Bericht von Andrew Fox von der Henry Jackson Society geäußert haben. Die Henry Jackson Society ist ein neokonservativer Thinktank mit Sitz in London. Fox wiederum stellt im Namen dieser Denkfabrik die Opferzahlen in Gaza in Abrede.
Neben Epstein hat dem nun M. Spagat widersprochen.4 Spagat hat sich mit den Problemen auseinandergesetzt, mit denen das Gesundheitsministerium in Gaza ab Ende Oktober 2023 konfrontiert war. Auch er sieht die Qualität der Analyse von Fox kritisch.
Lancet widmet sich dem Thema
Ein unlängst in Lancet erschienener Artikel einer international zusammengesetzten Forschergruppe berichtet, dass die Zahl der infolge von traumatischen Verwundungen erheblich höher angesetzt werden müsse (um 41 Prozent), als dies das Gesundheitsministerium in Gaza getan habe.
In diesem Kontext ist der Bericht von Andrew Fox von der Henry Jackson Society angesiedelt, der am 13. Dezember in Englisch veröffentlicht worden ist und über den auch auf Deutsch berichtet wurde, offenbar ohne weitere Prüfung der Quelle und ihrer Arbeitsmethoden, wenn es etwa heißt:
Neue Studie zum Gaza-Krieg: 98 Prozent der Medien veröffentlichte manipulierte Opferzahlen.
Im Untertitel nennt der Verfasser des Artikels, Len Sander, einen weiteren zentralen Vorwurf von Herrn Fox an das Gesundheitsministerium von Gaza: Es hätte die Opferzahlen systematisch manipuliert, und selbst Krebstote aufgeführt.
Fox freute sich am 21. Dezember über das immense Aufsehen, das sein Bericht erfahren hätte. Den Kritikern warf er vor, in der Hauptsache ihn als Person zu attackieren und in der Sache nicht in der Lage zu sein, seine Hauptpunkte zu widerlegen.
Die Haltung des lautesten Kritikers
Er muss selektiv gelesen haben, denn die beiden kritischen Berichte, die ich kenne, gehen keineswegs so vor.5 Der Unterschied zwischen dem Stil der beiden Kritiker und der Art und Weise, wie Fox ihm unsympathische Organisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch oder Ärzte ohne Grenzen angeht, ist beeindruckend.
Action on Armed Violence (AOAV)6 und Lee Mordechai schreiben zwar kritisch, aber in sachlicher Form. Fox dagegen ist arrogant, zynisch, beleidigend und vor allem voller Anwürfe, für die er sich keine oder nur sehr wenig Mühe gibt, sie zu belegen.
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Epstein und Spagat von AOAV schätzen ein, dass die Vorwürfe von Fox, das palästinensische Gesundheitsministerium würde die Todeszahlen manipulieren, indem es unter anderem Männer als Frauen ausgäbe oder zu Kindern mache, die genannten Krebstoten aufnähme, und unterschlage, dass die größte Zahl der Toten junge Männer sei, von ihm nicht ausreichend belegt würden.
Sie bestätigen die einzelnen Beispiele, schreiben aber, dass ihre Anzahl viel zu klein ist, um eine systematische Fälschung zu bestätigen. Es handele sich vielmehr um zufällige Fehler.
Selektive Auswahl
Das sei ersichtlich, wenn man nicht wie Fox nur jene Beispiele herauspicke, die seine Ausgangsthese von der gezielten Datenmanipulation durch das Gesundheitsministerium beweisen wolle, sondern eine umfassende Auswertung der letzten, im Oktober vorgelegten Liste des Ministeriums anstrebe.
Dann zeige sich nämlich, dass in nur 116 von über 21.000 Fällen (diese Zahl erfasst 53 Prozent der angeführten getöteten Palästinenser und Palästinenserinnen) eine Geschlechtsvertauschung vorkäme.
67 der falsch klassifizierten Toten seien Männer und 49 Frauen. Zusammen betragen sie ungefähr 0,5 Prozent der untersuchten Stichprobe.
Etwas mehr als 95 Prozent der "jünger gemachten" Toten in der Juni-Liste waren nur ein Jahr älter als in der älteren April-Liste angegeben. Sie treten sowohl bei Männern als auch bei Frauen und Kindern auf.
Begründung von falschen Altersangaben
Epstein und Spagat erklären diese kleine Altersverschiebungn mit einem methodischen Fehlansatz des Ministeriums bei der Berechnung der Zeit von Geburt bis zum Tod.
Dadurch wäre ursprünglich das Alter um ein Jahr zu hoch angesetzt worden. Da sich diese Korrektur von der April-Liste zur Juni-Liste quer durch alle Altersgruppen und Geschlechter fände, handele es sich um einen systemischen Fehler, nicht um eine Manipulation, für die eben eine gleichartige Verteilung über den gesamten Datenbestand keinen Sinn habe.
Auffällig für diese beiden Fehlertypen ist, dass ihr prozentualer Anteil an der Gesamtzahl der Toten verschwindend gering ist. Epstein und Spagat heben das auch für andere Vorwürfe hervor. So hat Fox nur zwei Fälle gefunden, in denen Erwachsene als Kinder verzeichnet worden sind und drei, in denen eine Krankheit (Krebs) die Todesursache war.
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Epstein und Spagat haben für ein Sample von 5.004 Einträgen nur 16 gefunden, bei denen Krankheiten die unmittelbare Todesursache waren. Inwieweit aber das von der israelischen Armee immer wieder angegriffene und umfassend beschädigte System der medizinischen Versorgung in Gaza direkt zum Ableben dieser Menschen geführt hat, kann aus den Unterlagen des Ministeriums natürlich nicht entnommen werden.
Fox baut also auch in diesen Fällen seine hochgradigen Verallgemeinerungen zum Zwecke der Delegitimierung der aus Gaza kommenden zivilen Todeszahlen auf wissenschaftlich unhaltbaren Samplegrößen auf.
Die Geschlechtergruppen
Ein weiterer Angriffspunkt, von Fox mit Nachdruck vorgetragen, betrifft den überproportionalen Anteil von männlichen Todesopfern zwischen 15 und 45 Jahren im Vergleich zu weiblichen Toten (zwei bis viermal höher).
Hier argumentieren Epstein und Spagat, dass diese Unterschiede aus zwei unterschiedlichen Methoden zur Datenerhebung resultieren. Zum einen sammelte das Gesundheitsministerium Sterbedaten aus den Krankenhäusern, solange sie noch zur Übermittlung solcher Informationen in der Lage waren.
Diese Möglichkeiten schrumpften aber in zunehmendem Maße aufgrund der umfassenden Zerstörung dieser Einrichtungen durch die israelische Luftwaffe und die Bodentruppen. Also wurden parallel dazu Daten aus betroffenen Familien erfragt.
Unterschiedliche Erhebungsmethoden
In der Monatsliste, die Fox benutzt hat, sind die von Familien berichteten Todeszahlen für männliche Familienmitglieder zwischen 15 und 45 Jahren deutlich höher als die über die Krankenhäuser mitgeteilten Daten.
Fox schlussfolgert daraus eine gezielte Verschleierung der Struktur der Todeszahlen und damit eine Absicht, den Anteil von Mädchen und Frauen an den Todesopfern absichtlich zu erhöhen. Allerdings liegt auch hier auf seiner Seite ein problematischer Umgang mit dem verfügbaren, veröffentlichten Material vor, da Fox kein Wort über die Oktoberliste, die das Gesundheitsministerium am 23.10. veröffentlicht hat, verliert, sie offenbar also nicht zur Kenntnis genommen hat, was an seiner Professionalität als Forscher zweifeln lässt.
In dieser Liste ist laut Epstein und Spagat der Unterschied in den Anteilen an den getöteten Menschen in Gaza nach Geschlecht und Alter zwischen den beiden Erhebungsmethoden weitgehend verschwunden.
Sie wissen nicht, wie diese Verschiebung entstanden ist, glauben aber nicht, dass demografische Unterschiede zwischen unterschiedlich erhobenen Daten Antworten über die "wahren" Verhältnisse liefern können. Ähnliches betrifft die Angabe der israelischen Armee, wonach 17.000 Kämpfer der Hamas und weiterer palästinensischer militärischer Verbände in Gaza getötet worden seien, da die zuständige Stelle der Armee bislang keine detaillierten Angaben veröffentlicht hat, um ihre Behauptungen zu belegen.
Dabei ist es für die Armee oder etwaige Regierungsstellen in Israel keineswegs schwierig, eine solche detaillierte Darstellung zu erarbeiten und zu veröffentlichen, da sie eine weitgehend aktuelle Liste des palästinensischen Bevölkerungsregisters besitzen sowie detaillierte Unterlagen der Hamas und anderer Gruppen erbeutet haben. Dass sie es nicht tun, lässt Zweifel an der Richtigkeit ihrer Angaben zu.