Somalia: ein zweites Afghanistan?
Krieg und Piraterie in dem ostafrikanischen Staat nehmen zu. EU reagiert mit militärischen Plänen und erwägt eine Intervention
Wird Somalia der nächste internationale Kriegsschauplatz nach Irak und Afghanistan? Während der Bürgerkrieg in dem ostafrikanischen Land eskaliert, drängen mehrere NATO-Staaten und auch der Generalsekretär der Organisation der Vereinten Nationen, Ban Ki Moon, auf ein stärkeres militärisches Engagement. Die Bundesregierung weitet derweil den Armeeeinsatz gegen moderne Piraterie vor der ostafrikanischen Küste aus. Andere Mitgliedsstaaten der Europäischen Union fordern eine Truppenentsendung auf das somalische Festland. Damit droht die EU sich nicht nur in einen weiteren chaotischen Waffengang zu verstricken. Die außenpolitischen Strategen Brüssels ignorieren auch die Mahnungen von Friedensgruppen, die Gründe des Konfliktes und der Piraterie zu bekämpfen.
Unbestritten ist, dass der bewaffnete Konflikt in Somalia dringend beendet werden muss. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (ICRC) warnte erneut vor einer "dramatischen Verschlimmerung" der Lage in dem von Bürgerkrieg geplagten Land. Die wenigen funktionierenden Krankenhäuser seien permanent überlastet, sagte ICRC-Sprecher Florian Westphal. Angesichts der eskalierenden Kämpfe zwischen Truppen der "Übergangsregierung" unter dem Anführer Sharif Sheikh Ahmed (Somalia: Vom Terroristen zum Retter der Nation) und islamischen Milizen seien tausende Menschen aus der Hauptstadt Mogadischu und anderen Orten geflohen. Seit Januar seien alleine in den beiden vom ICRC betriebenen Hospitälern rund 1500 Menschen behandelt worden.
Seit dem Sturz des vier Jahre später verstorbenen Autokraten Mohamed Siad Barre im Jahr 1991 befindet sich Somalia im Bürgerkrieg. Im Jahr 2000 wurde in Dschibuti eine "Übergangsregierung" gebildet, die international Anerkennung fand, im Land aber kaum Einfluss hat. Sie sieht sich den erstarkenden Milizen islamistischer Gruppierungen gegenüber (Abenteuer Somalia). Eine Folge des brutal geführten Krieges ist auch eine Zunahme der Piraterie vor den Küsten Somalias: Verarmte Fischer entern in zunehmendem Maße internationale Handelsschiffe, um an die Fracht zu gelangen.
Deutschland Vorreiter bei Militarisierungsplänen
Die Übergangsregierung forderte in den vergangenen Monaten immer wieder eine internationale Intervention, um die eigene Position zu stärken. Somalia werde von ausländischen Kämpfern "überschwemmt", beklagte der Chef der Pseudoregierung, Sharif Sheikh Ahmed, vor wenigen Tagen erneut. Islamisten wollten das Land zu einem zweiten Afghanistan machen. Deswegen brauche seine Regierung internationale Hilfe.
In der EU stoßen solche Appelle offenbar auf offene Ohren. Am Freitag erst beantragte die Bundesregierung im Bundestag eine Ausdehnung der deutschen Marinemission vor der Küste Somalias. Dies sei notwendig, weil moderne Piraten ihr Aktionsgebiet ausgeweitet haben, hieß es in der Begründung des Antrags, über den Mitte Juni entschieden werden soll.
Schon Ende der ersten Maiwoche hatte Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) von Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) einen Einsatz der Kommandospezialkräfte beantragt. Sie sollten dauerhaft auf deutschen Kriegsschiffen im Indischen Ozean stationiert werden. Schäuble begründete seine Initiative mit der gescheiterten Anti-Piraten-Mission der Elitetruppe GSG-9. Sie sollte in der Nacht zum 1. Mai den entführten deutschen Frachter "Hansa Stavanger" befreien. Der Einsatz war in letzter Minute abgebrochen worden, weil die somalischen Kidnapper ihre Kräfte an Bord verstärkt hatten.
Derzeit ist Deutschland mit zwei Fregatten und rund 650 Mann an der EU-Mission Atalanta vor der Küste Somalias beteiligt. Nach dem aktuellen Bundestagsmandat vom vergangenen Dezember können die deutschen Kräfte auf maximal 1400 Mann verstärkt werden. Das Mandat reicht bis zum 15. Dezember 2009. In Deutschland muss der Bundestag einer Verlängerung oder Veränderung des Einsatzes zustimmen.
Diskussion in Brüssel fortgeschritten
Doch nicht nur in Deutschland ist ein Trend zur verstärkten Truppenpräsenz vor Somalia auszumachen. Innerhalb der Fachgremien in Brüssel wurden in den vergangenen Tagen mehrere Vorschläge zu einer Verstärkung der EU-Militarisierung in Somalia gemacht. Die Initiativen unterschiedlicher Mitgliedsstaaten beziehen sich nicht nur auf die Marinemission Atalanta - sie zielen auch auf eine militärische Mission im somalischen Kernland ab. Derweil bereitet die EU-Kommission offenbar eine so genannte Sicherheitssektorreform vor, ein möglicher erster Schritt hin zu einer Truppenstationierung auf dem Festland.
Nach Angaben aus diplomatischen Kreisen hat die EU bei der Regierung der Seychellen um die Nutzung ihrer Häfen für EU-Kriegsschiffe gebeten. Auf dem Inselstaat im Indischen Ozean sollen auch etwaige Gefangene interniert werden. Tatsächlich argumentiert auch die deutsche Regierung in ihrem aktuellen Antrag an den Bundestag mit der notwendigen Ausweitung des Anti-Piraten-Kampfes auf das Gebiet der Seychellen-Gruppe.
Innerhalb der EU drängt nach Informationen aus Brüssel vor allem die spanische Regierung auf eine Ausdehnung der Atalanta-Mission auf das somalische Festland. Dabei könne Kenia tatkräftige Unterstützung leisten, erklärten Vertreter Madrids in Brüssler Fachgremien. Frankreich schlug indes die Stationierung einer EU-Einheit in Mogadischu vor. Ein Positionspapier zu einer möglichen Ausdehnung der EU-Militärpräsenz ist derzeit in Brüssel im Umlauf. Auch aus diesem Dokument geht hervor, dass die so genannte Sicherheitssektorreform-Mission ein erster Schritt zu einer ausgedehnten Intervention der EU oder einzelner ihrer Mitgliedsstaaten sein könnte.
Kritik von Friedensforschern
Bei humanitären Organisationen und Friedensgruppen stößt diese ausschließliche Orientierung auf eine militärische Lösung des bewaffneten Konfliktes in Somalia auf wachsende Kritik. Mitte dieser Woche lehnten fünf führende deutsche Friedensinstitute in ihrem jährlich erscheinenden Friedensgutachten den Rückzug auf militärische Positionen strikt ab. Bei der Präsentation des Berichtes führte Jochen Hippler von Institut für Entwicklung und Frieden nicht nur den laufenden Kriegseinsatz in Afghanistan als Beispiel für diese Strategie an. Auch der Einsatz gegen moderne Piraterie vor dem Horn von Afrika führe in eine Sackgasse.
Offenbar ist die Bereitschaft in der Staatengemeinschaft, militärisch zu intervenieren, ausgeprägter als die, sich an der mühsamen Rekonstruktion von Staaten zu beteiligen. In den seltenen Fällen, wo die Staatengemeinschaft oder der Westen nach einer Militärintervention zu einer langwierigen Konflikttransformation bereit war, stellt sich zudem die Frage, wann und wie die Defacto- Protektorate zu beenden sind. Trotz mancher Fortschritte sind etwa Bosnien und Herzegowina oder das Kosovo nicht befriedet, solange der Widerspruch zwischen Demokratisierung und Fremdbestimmung besteht.
Aus dem Friedensgutachten
Der Kampf gegen die modernen Piraten vor der Küste Somalias belege dieses Dilemma, weil die Ursachen für die Seeräumerei nicht angegangen werden, so der Friedensforscher, dessen Institut an die Universität Duisburg-Essen angegliedert ist. Zu diesen Gründen zähle vor allem die Überfischung der ostafrikanischen Gewässer durch internationale Fischereikonzerne und die Giftmüllverklappung "in großem Maßstab" in den betreffenden Gewässern (Piraten, Flüchtlinge, Fischer ...).
Die Piraterie müsse vor diesem Hintergrund als Gesamtkomplex betrachtet werden, so Hippler, nicht aber als isoliertes Phänomen. Diese Fehlanalyse sehen die Autoren des Friedensgutachtens 2009 im Fall des Anti-Piraten-Kampfes vor Afrika ebenso wie in Afghanistan: In beiden Fällen werde nur auf militärische Lösungen gesetzt; die Armee werde zum Politikersatz.