Soziale Demokraten?
41 % hatte die SPD unter Gerhard Schröder erzielt und den Kanzler gestellt. 14 % sind trotz der durchaus positiven Bilanz der Mitarbeit in der Regierung geblieben. Gründe für diesen dramatischen Verfall?
Es ist wohl die unbeantwortete Grundsatzfrage: Wie sozial ist diese SPD?
Denn das definiert sich heute anders als vor 100 Jahren. Die klassische Umverteilung stößt an ihre Grenzen. Die Steuern der Besserverdienenden sind am gesetzlich zulässigen Anschlag und der Spitzensteuersatz trifft heute durch die Progressionsregeln bereits weite Teile der bürgerlichen Mitte und auch der klassischen SPD-Wähler. Wobei das Steueraufkommen in den letzten zehn Jahren von 500 Milliarden auf fast 800 Milliarden stieg! So konnte das Sozialbudget des Bundeshaushalts mit 100 Milliarden neue Rekorde erreichen.
Und auch die schwarze Null ist da keine Kunst, lässt aber die Frage offen, wofür all das Geld ausgegeben wurde und nicht genügend Finanzmittel für so wichtige Dinge wie für Infrastruktur und für Bestandspflege der öffentlichen Bausubstanz vorhanden sind.
Generationengerechtigkeit
Vor diesem Hintergrund wirkt die Idee, hierfür weitere 400 Milliarden neue Schulden aufzunehmen, weltfremd. Jeder weiß, dass Schulden auch in Null-Zins-Zeiten zurückgezahlt werden müssen. Dass dies primär die nächste Generation trifft, widerspricht offensichtlich sozial ausgewogener Generationengerechtigkeit. Ein "Weiter so", also ein Regieren mit laufend steigenden Steuern und zusätzlich steigender Verschuldung, hat schlicht keine wirkliche Glaubhaftigkeit mehr hat. Es braucht neue Antworten.
Kaum überzeugend sind auch Ideen, wie zum Beispiel Wohnungen zu enteignen. Jeder weiß, dass das das knappe Wohnungsangebot in den Großstädten nicht löst. Gebraucht werden Investitionsanreize, also vereinfachte Genehmigungsverfahren, preisgünstigeres Bauen, preisgünstiges Bauland durch mehr Baulandausweis und vielleicht auch Enteignungen, weniger Vorschriften und mehr steuerliche Förderung. Also die Voraussetzungen für Investitionen in den Wohnungsbau verbessern und nicht Investoren verschrecken. Auch für die Verbesserung der Energiebilanz unserer Bausubstanz wäre das eine wichtige Priorität.
Sie ist eine Teilmenge des Umbaus von einer sozialen in eine ökosoziale, eine Generationen übergreifende Sozialauffassung. Ja, die Emissionen müssen gesenkt werden. Dazu aber Benzin besteuern? Jeder weiß, dass Benzin bereits kräftig besteuert ist und dass die teils erheblichen Schwankungen der Treibstoffkosten keine wesentliche Steuerungswirkung hatten. Die Bedürftigen wohnen zwangsweise eher entfernt von den großen Zentren, da sie sich dort die Wohnungen nicht leisten können. Den Klimawandel also mit erhöhten Treibstoffkosten zu bekämpfen, ist eine normale Steuererhöhung, eher also unsozial. Den Ausgleich zu suchen durch eine Rückvergütung wäre ein Bürokratiemonster, dem der normale Bürger genauso misstrauen wird.
Dazu ein CO2-Preis von nur zehn Euro. Es liegt auf der Hand, dass dieser geringe Wert keine Steuerungswirkung hat. Es ist nur ein Erfolg der Industrielobby. Genauso wie das weitgehend wirkungslose EEG unter dem Einfluss der Konzerne so verdünnt wurde, dass es schließlich wirkungslos war, aber dennoch den Verbraucher 30 Milliarden € jährlich kostet, im krassen Gegensatz zu der inzwischen wieder hohen Ertragskraft der Energiekonzerne.
Kohleausstieg in 20 Jahren? Zu offensichtlich ist, dass die betroffenen 8000 Arbeitsplätze für diese lange Zeitstrecke nicht der Maßstab sein können. Es ist der Schutz der Investitionen der Energiekonzerne, die in dieser Zeit bequem abgeschrieben werden können - und es ist die Angst, dass der Widerruf von Schürfrechten zu Schadenersatzklagen führen könnte.
Verdrängte Demokratie
All die Beispiele zeigen die großen Schwierigkeiten der SPD, nicht nur sozial, sondern auch ökologisch Maßstäbe zu setzen. Bei all den aktuellen Beispielen fühlt sich der Bürger für dumm verkauft. Dies vor dem Hintergrund immer wieder gerade von der SPD betonter "Bürgernähe". Die aber widerlegt sich in der langjährigen Verweigerung echter Mitbestimmung auf Bundesebene, also von Volksinitiativen und Volksentscheiden, wie sie auf Landesebene schon seit langem Standard sind. Der Volksentscheid zum Artenschutz in Bayern war ein typisches Beispiel. Wo aber bleibt ein Analogon auf Bundesebene?
Nur wenige werden sich erinnern, dass der bundesweite Volksentscheid im aktuellen Koalitionsprogramm steht, wie auch im vorangehenden, beides unter SPD-Beteiligung. Aber die im aktuellen Vertrag festgelegte Expertengruppe ist immer noch nicht bestimmt. Der Volksentscheid auf Bundesebene ist offensichtlich unerwünscht. Man beschränkt sich darauf, Bürgernähe zu versprechen. Wahre demokratische Grundhaltung sieht anders aus.
Bleibt noch die Frage nach der Europapolitik. Die Europa-Verträge sehen vor, dass bei der Wahl des EU-Kommissars bzw. der Kommissarin die Wahlergebnisse zum europäischen Parlament berücksichtigt werden müssen. Bindend ist das nicht. Wenn dann die SPD-Fraktion die einzige ist, die Frau Ursula von der Leyen die Zustimmung verweigert, verblüfft das. Wegen des knappen Zustimmungsergebnisses im Europäischen Parlament hätte diese Lücke übrigens dazu führen können, dass Deutschland die Kommissarin nicht gestellt hätte. Es kam nicht zu dieser Blamage, aber der informierte Bürger weiß das und wendet sich ab.
Nicht besser sieht es mit der Teamfähigkeit aus. Erstaunt konnte man beobachten, dass der Vorschlag von Annegret Kramp-Karrenbauer, in Syrien eine Schutzzone einzurichten, vom Außenminister der SPD nicht nur nicht aufgegriffen, sondern mit verächtlichen Worten in Gegenwart seines türkischen Kollegen lächerlich gemacht wurde. So kann eine Zusammenarbeit in einer Koalition nicht funktionieren.
Die aktuelle Bilanz zeigt also die SPD als nicht wirklich regierungsfähig. Vor allem aber fehlen die Antworten auf die großen Fragen, es fehlt ihr ein Zukunftsmodell.
Das Zukunftsmodell
Aus meiner Sicht muss ein Zukunftsmodell eine SPD drei Fragen beantworten:
- Ein Arbeitsmodell der Zukunft im Zeitalter fortschreitender Digitalisierung und Rationalisierung, auch durch Elektromobilität. Aus meiner Sicht müsste das Modell vor allem die Weiterbildung und Umschulung in den Mittelpunkt stellen und flexible Freiräume schaffen wie beispielsweise die Einführung von "Sabbaticals", also Freijahren, zur Regelung der Gesamtkapazität und zur Vollzeit-Weiterbildung.
- Eine Antwort auf die Arm-Reich-Schere, die anders aussieht als nur die Vermögensteuer. Es könnte bei den großen Erbschaften und den sogenannten Familienstiftungen beginnen. Unter dem Titel "Enterben statt Enteignen" habe ich an anderer Stelle dazu Vorschläge gemacht, die die gemeinnützige Stiftung und vor allem die Zweckbindung von Erbschaftsvermögen zur Förderung der nächsten Generation in den Mittelpunkt stellen, und die Erbberechtigung weitgehend auf direkte Nachkommen beschränkt.
- Nur grün ist wirklich sozial. Der Generationengerechtigkeit ist eine logische Konsequenz jeder sozialen Haltung, gleich ob es die Klimaproblematik oder die Verschuldung betrifft. Wo aber war die SPD in den sechs Jahren des Mitregierens? war es notwendig, den heute in allen Bevölkerungsschichten dominanten Wunsch dem grünen Konkurrenten überlassen?
Im Fazit wäre die SPD gut beraten, sich nun aus der Regierungsarbeit zurückzuziehen und die Antworten zu diesen drei Grundsatzfragen zu finden, also zur Arbeitswelt von morgen, zur fortschreitenden Arm-Reich Schere und zu einer Marktwirtschaft, die generationengerecht und zukunftsfähig ist.
Wenn da neue und überzeugende Antworten kommen, wird die SPD wieder gebraucht. Denn andere Parteien werden diese Antworten nicht bringen, auch wegen ihrer völlig anderen Ideologien. Die SPD könnte sich hier deutlich unterscheiden. Sie muss dabei nur berücksichtigen, dass der heutige Wähler wesentlich besser informiert ist als noch vor Jahren - und dass er sich nicht für dumm verkaufen lässt.
Dr. Peter H. Grassmann studierte Physik in München, promovierte dort bei Werner Heisenberg und ging ans MIT. Bei Siemens baute er die heute milliardenschwere Sparte der Bildgebenden Systeme auf. Als Vorsitzender von Carl Zeiss (bis 2001) sanierte er das Stiftungsunternehmen in Jena zusammen mit Lothar Späth. Er ist Kritiker einer radikalen Marktwirtschaft und fordert mehr Fairness und Nachhaltigkeit. Grassmann erhielt zahlreiche Auszeichnungen und engagiert sich bei der Münchner Umwelt-Akademie, bei "Mehr Demokratie e.V.", der Carl-Friedrich-von-Weizsäcker-Gesellschaft und dem Senat der Wirtschaft.
Von Peter Grassmann ist im Westend Verlag das Buch erschienen: "Zähmt die Wirtschaft! Ohne bürgerliche Einmischung werden wir die Gier nicht stoppen".
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