Sozialneid nach unten

Seite 2: Bürgergeld – eine Belohnung fürs Nichtstun?

Seit die Ampel-Koalition ihr "Bürgergeld", mit dem sie Hartz IV am 1. Januar 2023 ablösen will, auf den parlamentarischen Instanzenweg gebracht hat, geistert erneut das Gespenst paradiesischer Zustände für Sozialleistungsbezieher:innen durch die (Medien-)Öffentlichkeit der Bundesrepublik.

Schon am Tag, bevor das Bundeskabinett am 14. September 2022 den Referentenentwurf des Arbeits- und Sozialministeriums mit unwesentlichen Änderungen beschloss, erschien ein Bild-Artikel von Albert Link unter der Überschrift "Wer arbeitet, ist künftig der Dumme", der eine Aussage von Hans Peter Wollseifer, Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, in der Rheinischen Post (12.9.2022) aufgriff, wonach das Bürgergeld das Nichtarbeiten für mehr Menschen lohnender als das Arbeiten macht:

Es sorgt für Demotivation bei denjenigen, die mit einem geringen Gehalt regulär arbeiten. Am unteren Ende verschwimmen immer mehr die Grenzen zwischen regulärer Arbeit und dem Bürgergeld.

Dass dies gerade wegen der gegenwärtigen Energiepreisexplosion und der Inflation eher für die Erhöhung von Löhnen als für eine Beibehaltung (zu) niedriger Transferleistungen des Staates spricht, kam dem Unternehmer, vielbeschäftigten Verbandsfunktionär, Mehrfach-Aufsichtsrat und CDU-Politiker Wollseifer gar nicht in den Sinn.

Wie allgemein üblich illustrierte Link seine Behauptung mit einem Rechenbeispiel, das erhebliche Mängel aufweist: Eine vierköpfige Familie mit zwei Kindern zwischen sechs und 13 Jahren erwarte ein Bürgergeld in Höhe von 1.598 Euro im Monat, während einem verheirateten und sozialversicherungspflichtig beschäftigten Berliner Maler mit zwei Kindern bestenfalls 1.967,12 Euro netto blieben, hieß es.

Weil dieser davon im Unterschied zu den Bürgergeld-Bezieher:innen noch Miete und Heizkosten tragen müsse, lohne sich für ihn das Aufstehen künftig nicht mehr, behauptete Link.

Auch von ihm wurden Sozialleistungen, die der Familie des Malers vorbehalten bleiben, also der Vergleichsfamilie im Bürgergeld-Bezug gar nicht gezahlt oder sofort wieder abgezogen würden (Kindergeld und Wohngeld), einfach weggelassen.

Zudem fand die Tatsache, dass der Maler und ggf. seine Angehörigen später eine Rente bzw. eine Hinterbliebenenrente erhalten können, weil er und sein Arbeitgeber paritätisch Beiträge in die Gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, wohingegen die Mitglieder der Familie im Bürgergeld-Bezug leer ausgehen, keine Erwähnung.

Einen Tag nach dem Kabinettsbeschluss ging die Bild-Kampagne gegen das Bürgergeld weiter. Unter dem Titel "Der große Stütze-Streit: Ist Hartz IV zu hoch oder (sind) unsere Löhne zu niedrig?", gab das Boulevardblatt eine falsche Antwort auf eine richtige und wichtige Frage.

Daneben war ein Artikel mit dem Zitat "Wer arbeitet, darf nicht der Dumme sein" als Überschrift platziert. Es wurde einem Leipziger Maler namens Thomas Liederwald in den Mund gelegt, dessen Nettolohn mit 1.600 Euro angegeben war und der fortfuhr:

Warum müssen wir uns Pullover für den Winter kaufen und diejenigen, die das System ausnutzen, sitzen auf Kosten der Allgemeinheit im Warmen?

Unter der Überschrift "CDU-Expertin warnt: Das neue Hartz IV macht Clans noch reicher!" behauptete Gitta Connemann, Bundesvorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion, in der Bild-Zeitung (v. 17.9.2022), wer es geschickt anstelle, könne "sich in die Hängematte legen – und das in der schön beheizten Wohnung".

Die beiden Verfasser des Artikels kritisierten insbesondere, dass man das Schonvermögen erhöhe und eine größere Wohnung zulasse, was "den berüchtigten Clan-Familien in Großstädten wie Berlin und Köln" zugutekomme.

Allenthalben mutmaßt der Boulevardjournalismus, die im nächsten Jahr für Alleinstehende um 53 Euro erhöhte Transferleistung (Arbeitslosengeld II: 449 Euro im Monat; Bürgergeld: 502 Euro im Monat) sei derart großzügig gemessen, dass ihre Bezieher:innen nicht mehr arbeiten zu gehen bräuchten und trotzdem mehr Geld erhielten, als wenn sie es täten.

Es gibt jedoch ein schlagendes Argument gegen die These der "arbeitsscheuen" Erwerbslosen: Trotz eines unterhalb oder nur wenig oberhalb des staatlich garantierten Existenzminimums liegenden Einkommens befinden sich fast eine Million Menschen im Hartz-IV-Bezug, die gar nicht arbeitslos sind, sondern deren Lohn oder Gehalt so gering ausfällt, dass sie den Sozialtransfer als sog. Erwerbsaufstocker:innen ergänzend in Anspruch nehmen müssen, um leben zu können.

Noch immer übersteigt die Zahl der registrierten Arbeitslosen diejenige der offenen Stellen, was darauf verweist, dass sich die Massenerwerbslosigkeit schon rechnerisch nicht durch eine größere Arbeitswilligkeit von Bürgergeld-Bezieher:innen beseitigen ließe.

Zudem sind viele (Langzeit-)Erwerbslose aufgrund ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigungen und psychosozialen Probleme überhaupt nicht in der Lage, einer Arbeit nachzugehen, die unter den heutigen Konkurrenzbedingungen erhebliche Leistungsanforderungen an sie stellt.

Allerdings rationalisieren viele Dauererwerbslose ihre Unfähigkeit, den gestiegenen Erwartungen der Personalchefs gerecht zu werden, indem sie so tun, als wollten sie mittlerweile gar nicht mehr arbeiten.

Die den öffentlichen Armutsdiskurs seit dem Spätmittelalter durchziehende Unterscheidung zwischen "würdigen" und "unwürdigen" oder sogar "nur scheinbar" Armen dürfte sich durch Einführung des Bürgergeldes stärker ausprägen, was angesichts der Stimmungsmache in den Massenmedien nicht verwundert.

Maßgeblich dazu beigetragen hat die Berichterstattung über Leistungsmissbrauch beim Arbeitslosengeld II, den es zweifellos gibt, weil alle – folglich auch soziale – Rechte, die man Menschen einräumt, zum Teil missbräuchlich, d.h. von Unbefugten in Anspruch genommen werden, aber eben nicht massenhaft, wie gemeinhin suggeriert wird.

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