"Spiel mir…, aber was?"

Ennio Morricone - Filmmusik heute, damals und in Zukunft. 1.Teil

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Ennio Morricone hat den Oscar 2007 für sein Lebenswerk erhalten. Als Filmkomponist, Orchestrator und Arrangeur. Preis und Preisträger kommen ungefähr so zufällig zusammen wie „Mundharmonika“ und Henry Fondas drei Banditen. Die Preisverleihung fand sozusagen an der kleinen Bahnstation in der Western-Wüste statt. Anlass genug, über den Stand der Filmmusik, nicht nur in Hollywood, nachzudenken. Hier werden zunächst ästhetische und philosophische Grundlangen erörtert: Die Wahrnehmung von Raum und Zeit im Film und in der Musik.

Klappe: Das Windrad fängt mit seiner Quietscharie an. Musique concrète. Kein Zug in Sicht, keine Kutsche, kein Pferd. Ein einsamer Mann, mit wirrem Haar, staubigem Anzug und versandeter Hornbrille, vielleicht ein intellektueller Filmmusiker, gottverlassen von Hollywood und fernab von seinem Schreibtisch, pfeift sich eine kleine Unanständigkeit. Was er da, wie ein Straßenjunge, in den Wind spuckt, reicht noch nicht einmal für eine Melodie. Ist das Ennio Morricone?

Der Mann steht ausdruckslos da und wirft eine Note auf ein staubiges Grab. Auf dem Holzkreuz steht S.L. Im Hintergrund fängt es an zu rumoren. Man erkennt eine riesige Sandwolke. Sie kommt immer näher, angetrieben von einem Cadillac, mit weißen Ballonreifen, die endlos über kleine Steine knirschen und wummern. Die Limousine erreicht die Szene und hält an. Langsam verzieht sich der Staub. Drei Männer lassen beim Aussteigen die Türen sanft zuschnappen. Sie nähern sich Ennio, türmen sich hinter ihm auf. Morricone schaut sich noch nicht einmal um. Die drei feixen in die Stille, einer voran: „Sollten wir tatsächlich noch einen Oscar übrig haben?“ Dazu dreckiges Zischeln, unterlegt mit Fingerknacken. In echt oder aus dem Kopfhörer?

Morricone dreht sich um. Mit stechendem Blick über die Hornbrille hinweg mustert er die Ankömmlinge. „Ihr habt drei Preise zuviel.“ Haben sie sich verhört? Das Grinsen weicht aus den Gesichtern. Hinter den Sonnenbrillen erkennt man John Williams, Klaus Zimmer und Howard Shore. Charles Bronson hatte doch „zwei“ gesagt. Das Duell kann beginnen.

Wenn es in der Filmmusik einen Maßstab, ein modernes Urmeter gibt, so heißt es derzeit immer noch Ennio Morricone und nicht John Williams. Kein geringerer als Clint Eastwood, selbst Pianist, Pistolero, Honkytonk-Man, Schauspieler und Regisseur hat den Preis an Sergio-Leones alten Freund und Partner verliehen. An den Partner jenes Duos, dem er so viel für seine eigene Karriere verdankt. Die Mythen blickten sich in die Augen: Eine Hand voll Dollar, Musik von Morricone, und ein Million-Dollar-Baby, Musik von Clint Eastwood. Und Celine Dion, die Song-Diva, wurde ziemlich nervös.

Lebenswerk-Oscars sind Korrekturmaßnahmen für eine Jurypolitik, die allzu oft kommerzielles und politisch angepasstes Mainstreamkino würdigt. Immer wieder werden interessantere Werke, experimentelle Bilder und schrille Töne außen vorgelassen. Morricone wurde schlichtweg Jahrzehnte übergangen. Wenn Morricone am Ende der Verleihung mit einer bescheidenen Botschaft, einem Dank an alle Kollegen auftrat, dann war auch gemeint: Es ist Zeit, darüber nachzudenken, was gute Filmmusik heute und in Zukunft sein kann. Und zwar nicht nur zufällig, sondern grundsätzlich.

Kleine Philosophie von Filmbild und Filmmusik

Die Funktionen der Filmmusik haben sich im Kreuzungspunkt von Produktion und Rezeption, von analogem und digitalem Kino mächtig verschoben. Filmmusik war und ist eine dynamische, eine intermediale Größe. Sie steht zwischen Bild und Ton, sie balanciert zwischen glaubwürdigem Erzählfluss, einfühlsamer Emotionalität und abruptem funktionalen Schnitt, zwischen Dauerberieselung und Generalpause, zwischen Kontrapunkt und Musac, zwischen realistischer oder phantastisch-assoziativer Montage, sie vermittelt den Übergang Titel-Schrift-Architektur-Handlung-Gestik-Mimik ebenso wie den zwischen Sound-Geräusch-Sprache, sie steht gleichermaßen der Regie, der Technik, dem Design, der Kunst und nicht zuletzt der Ideologie zu Diensten oder überflügelt sie alle. Mit der zunehmenden Ausdifferenzierung des Films in seine verschiedenen Kanäle und Sprachebenen (Codes) verzweigen sich auch die Funktionen der Filmmusik.

Am Anfang ist sie der organische Widerpart, die live vorgetragene Musik, die gegen die mechanisch abgespulten Bilder anspielt, sie begleitet und sie zu beleben versucht. Allein dieser Akt hat schon etwas komisches, solange der neue Bilderstrahl noch mit Überdruck auf den Pianisten hereinprasselt und von ihm mehr oder weniger heftig schwingend ans abgelenkte Auditorium weitergegeben wird. Im Übergang vom Stumm- zum Tonfilm werden Sprache, Sound und Musik als technische Spuren neben den Bildern einverleibt. Noch verzerrt und überlagert vom Knacken und Rauschen des Trägermediums, laufen sie nun unverändert und ohne weitere äußere Hinzufügung und Interpretation ab.

Musik verliert den Charakter der personal aufgeführten Nummern-Improvisation, der Parodie, des Potpourris und des akustischen Slapsticks. Sie wird Teil der filmischen Konstruktion. Sie legt allmählich ihren überschwänglichen Gestus ab, den noch die Varietee-Nummer des Pianisten besaß, wenn er den vor sich hin stolpernden Bildern einen Schwung, einen Elan andichtete, der den Aufnahmen ohne sein Zutun oft einfach fehlte. Dieser Prozess der notwendigen Abkühlung des Tons und der erneuten, gezielten Aufhitzung ist eines der zentralen Themen auch der zukünftigen Filmmusik.

„Filmmusik“ ist, gemessen an den Maßstäben autonomer Klassik, zunächst ein rein dilettantischer Begriff für eine anfänglich billige Ersatzkunst, ein Modell für den geschwätzigen Ausverkauf von Melodien, Motiven und Formen der klassischen und populären Musik an ein neues Medium, für das auditive Zukleistern von dramaturgischen Rissen und optischen Brüchen in Opas Kino und für die Animierung von Plots und Charakteren, denen es an psychologischer Differenzierung und Vertiefung fehlt.

„Filmmusik“ ist sodann ein technischer Begriff: Eine festgelegte Spur auf Zelluloid oder ein Track auf dem digitalen Speichermedium, neben dem bewegten Bild von bestimmter Dauer. Technisch genommen ist Filmmusik von nun an nur noch das auf den Film hin verarbeitete, geschnittene und auf den medialen Träger fixierte Material. sie verläuft nun unabänderlich und dauert so lang, wie die parallelle Bildfolge/Einstellung/Sequenz, oder der Anfangs-, Zwischen- und Schlusstitel es erlauben. Übertrifft das (zitierte) komplette Stück die visuelle Passage, dann ist genau genommen nur derjenige Ausschnitt (Fragment), der zu einer Bildfolge/Sequenz (oder zum Vor- oder Nachspann) real eingesetzt wird, als „Filmmusik“ zu bezeichnen, der Rest nicht.

Der rein technische Begriff aufgenommener und eingeschnittener Musik (egal ob aus fremder Quelle oder eigens produziert) impliziert die dritte Dimension der Filmmusik, die Ästhetik ihrer Produktion und ihrer Wahrnehmung:

Nur wenige Takte, Rhythmen, Klänge, Augenblicke oder Sekunden(bruchteile) einer beliebigen Filmmusik A können bereits eine völlig andere Wahrnehmung der korrespondierenden Kinobilder bewirken, als die Filmmusik B oder der musiklose Ablauf der Bilder.

In der Urzeit des Kinos befindet sich an den Pianos und Pianolas (Klavierautomaten) in den Kneipen und in den Orchestern der Theater die Wahrnehmungsästhetik zwischen Bild und Film in einem brodelnden Urzustand, zwischen wunderbaren Momenten und banaler Beliebigkeit. Die technische Fixierung und Verbreitung des Tons zum entsprechenden Bild dagegen unterstützt den Aufbau von Normen und unterschiedlichen, relativ festen Stilen und Gattungen.

Filmmusik ist nie völlig autonom, man produziert, arrangiert oder hört sie nicht um ihrer selbst willen. Das gilt für eigens komponierte Stücke ebenso wie für Werke, die aus der Klassik und Unterhaltung übernommen werden. Sie überspannt den Ablauf der Bilder, hat ihn zu unterstützen, einzuhüllen oder zu widersprechen. Sie ist aber auch Teil der allgemeinen multimedialen Zerstreuung, sie übernimmt ein Stück weit die Lenkung der Aufmerksamkeit, bevor sich diese wieder einer anderen Medienspur zuwendet.

Die raumzeitliche Dynamik der Filmbilder

Musik ist in sich real oder virtuell ein vielstimmiges Gebilde. Auch das visuelle Medium Film ist kein eindimensionaler Kanal. Bereits von Haus aus ist Film ein polyphones Gebilde: Während die Fotografie durch die Unbewegtheit des Bildes eine ikonische Einheit suggeriert und selbst noch im digitalen Zeitalter eine Affinität zu Realismus, Sachlichkeit und Dokumentation hat (selbst dort, wo sie subjektivierende Inszenierung, ästhetische Differenzierung, ausgefeilte Kunst oder offen Simulation betreibt) ist der Film immer schon ein hyper- und transrealistisches, mehrdimensionales Medium, das die Einzel-Abbildung von „Wirklichkeits-Ausschnitten“ bereits in der ersten Einstellung überwindet.

Bei einer Einstellung im Film handelt es sich um eine komplexe Art der Bilddarbietung:

Eine filmische Einstellung ist:

  1. 1. formal ein aus analogen Einzelbildern oder digitalen Daten technisch zusammengesetztes und beschleunigtes Gesamtbild, das sich selbst verändert oder „bewegt“ (Moving Picture), aber in seiner Veränderung beliebig wiederholt werden kann,
  2. 2.die dynamische Abbildung eines unverfälschten oder inszenierten Ereignisses und seines Verlaufs in der Zeit, die dadurch oft genauer als durchs bloße Auge studiert werden (Muybridge),
  3. 3. die auf begrenzte Dauer eingestellte Präsentation eines visuellen Phänomens in der Zeit als fundamentale Größe der Aufführung,
  4. 4. die überdimensional projizierte Größe eines Kino-Bildes im Aufführungsraum,
  5. 5. eine auf TV-, PC- und Handy-Monitoren verkleinerbare visuelle Spur, die eine Abstraktion des Kinobildes darstellt

Das sich selbst verändernde Bild, das eine bestimmte Zeitspanne andauert, begegnet dem Zuschauer räumlich überdimensional im Aufführungssaal, reißt diesen Saal mit in die Dynamik hinein, um dann doch „abzutreten“ und einer anderen Bildeinheit und ihrem Kraftfeld den „Auftritt“ zu überlassen. Dieser Prozess fordert eine halluzinatorische Wahrnehmungsform beim Zuschauer heraus, die weniger durch das Tempo der dargestellten Ereignisse und Geschichten, sondern durch die Eindringlichkeit der Motive, durch Tempo und Rhythmik der großen, aber flüchtig bewegten Bilder bestimmt wird.

„Kinofilme anschauen“ bedeutet, in anspruchsvoller und umfassender Rezeption, sich im dynamischen Kontext einer flüchtig visualisierten Zeit einer augenblicksweisen, spontanen, kreativen Lektüre hinzugeben, einer sehr sportiven Art der Meditation zwischen äußerster Konzentration und stärkster Ablenkung, im Spagat zwischen extremer Veräußerung und Verinnerlichung.

Im Kinosaal werden inszenierte und dokumentierte Weltausschnitte und Ereignismomente in knapper, ja kürzester Zeit (Schnitt, Sprung, Zeitraffer) und in riesigen, architektonischen Projektionen (und ihrem Äquivalent, der Zeitlupe) dargeboten und wieder entzogen. Welt-, Ereignis-, Erfahrungs- und Gedankenbilder verdichten sich in der Bilderzeit zum sinnlichen oder zum mentalen Zeitbild. Die dramatisierende oder erzählende Inszenierung der Bilderabfolge ist dagegen nur eine vordergründige, oft biedere Schicht für den breiten Konsum. Dahinter gibt es feinere Adern zu entdecken, die bestimmten Motiven subtilere Funktionen der Darstellung, Beschreibung und des Kommentars zuweisen.

Es kommt darauf an, dass alle Elemente und Dimensionen zu einer geschmeidigen und dynamischen Komposition der zeitlichen Struktur zusammengefügt werden können. Andernfalls merkt der Zuschauer schnell, wenn der Film sich nicht recht von der mechanischen Addition isolierter und bedeutungsschwacher Abbildungen löst, die intendierte Abfolge nicht in Fluss kommt, das Schauspiel der Personen z.B. in Schuss und Gegenschuss zerhackt wird, Kamera und Objekte nicht in die nötigen Interaktionen oder Gegenbewegungen eintreten, für jede einzelne und für das Ensemble der Aufnahmen, und Handlungsepisoden phantasielos abgeklappert werden, so dass keine umgreifende filmische Gestaltung visualisierter Zeit entsteht, die die erzählerischen Inhalte, dargestellten Figuren und Ereignisse kreativ modifziert.

Zeit in und an den Kinobildern – Die Magie der Dauer I

Nach der traditionellen Handwerkslehre erscheint die Wahrnehmung im Kinofilm durch die einzelnen „Einstellungen“ in den Dimensionen von Raum und Zeit quantifiziert und dosiert: nach Dauer, Dynamik, Größe: „kurz – lang; starr – bewegt; nah-mittel-weit…“. Erstaunlich, wie oft in der Kinoliteratur, in der Theorie und bei der Analyse prominenter Filme zwar von der Einstellungsgröße, ihren Raum-Bezügen und der räumlichen Bewegung die Rede ist, kaum aber von ihrer dynamischen Dauer und der zeitlichen Organisation. Auch von typischen oder außergewöhnlichen Rhythmen, die durch sanft geschnittene oder im Beat gecuttete Einstellungsabfolgen entstehen, ist selten zu lesen. Die Frage nach der Logik von Raum und Zeit als innerem und äußerem Ordnungssystem der Bilder scheint fast nur die Philosophen unter den Theoretikern, vor allem im Umfeld von Gilles Deleuze, zu interessieren.

Alle Rede von den räumlichen und zeitlichen Strukturen großformatig projizierter Bilder im Kinosaal und ihrer ästhetischen Wahrnehmung und Bedeutung ist heillos metaphorisch. Denn es geht hierbei immer um vielfältige Überlagerungen und Überschneidungen: zwischen der in den filmischen Einstellungen gespeicherten „immanenten“ Räumlichkeit und Zeitlichkeit sowie den „externen“ Parametern des Kinoraumes und Aufführungszeit. Wenn man so will, treten Zuschauer und Film immer schon in eine „prä-holografische“ Interaktion ein. In der „kontinuierlichen“ oder mosaikhaften, linear-kausalen oder irregulär-assoziativen Abfolge der bewegten Bilder, entsteht der Zauber der Kinosprache, in der Achse eines zugleich realen und fiktiven, medialen und mentalen Zeiterlebens.

Unterschiedliche Gangarten

Das filmische Zeiterleben beruht auf unterschiedlichen Gangarten. Je nach Tempo der Bilder erhält es einen anderen raumzeitlichen Rhythmus und ein anderes zeiträumliches Relief. Es gibt die anhaltende, eindringlich beschreibende und darstellende Präsenz einzelner Einstellungen. Und es gibt den dramatisch beschleunigenden Wechsel vieler Aufnahmen, zwischen intimer nachbarschaftlicher Berührung und dem denkbar größten logisch-zeitlichen Sprung der Perspektiven. Dies sind nur zwei Grundmodi der Stabilisierung und Destabilisierung. Beide Gangarten entsprechen in etwa den klassischen musikalischen Unterscheidungen von (entwickelndem Sonaten-) Thema und variierender, zerlegender Durchführung.

Durch diese Alternative, aber auch in zahllosen anderen Misch- und Zwischenformen moduliert das filmische Medium Raum und Zeit in voller dynamischer Visualität. Subjektive und kollektive Wahrnehmung werden ständig zu anderen Einschätzungen und weiteren Interpretationen provoziert, mal im Einklang mit dem Gewöhnlichen, in gleichgültiger Zerstreuung, sentimentaler Affirmation und unterhaltsamer Belustigung, mal im Zwiespalt zwischen Realität und Illusion, durch triviale Überraschung, raffinierte Spannung, affektive Beschwörung, phantastische Illumination, oder gar in reflexiver Brechung einer komplexen cineastischen Lektüre.

Fährten und Bewegungen in Raum und Zeit

Als visuelles Medium mit befristeten und bewegten Aufnahmen im Wechsel zwischen Totale und Detail, Panorama und zerstückelter Montage ist jeder gute Film voll von mehrdeutigen, oft ins Leere gehenden Anspielungen und irreführenden Fährten in der Sphäre des dargestellten Raums. Film zerlegt die Präsenz des dargestellten, angeblich objektiven und doch fiktiven Raums in die spannungsvoll aufgeladene Zeit einer rhythmischen Abfolge einander ergänzender oder widersprechender, aufbauender oder auflösender Bildzustände.

Die Zeit im Film ist vor jeder inhaltlich möglichen Handlung die Dimension der dynamischen Konstruktion der Struktur einer oder mehrerer raumzeitlicher Welten, Kontraste und Übergänge im Geflecht einer sukzessiven Wahrnehmung, Darstellung und Beschreibung.

Der Film saugt in der Abfolge seiner Bilder den aktuell verfilmten Raum in die Zeit auf. Der Film hat analytischen Charakter, auch dort, wo er sich synthetisierend gibt. Der Film ist eine Bildbehauptungs- und Bildvernichtungsmaschine, die Zeit verbraucht. Das Kinobild hat in seiner jetzigen Form eine typische Subjekt-Objekt-Struktur, mit der Abspaltung des Beobachter/Zuschauers vom zweidimensional präsentierten Bildinhalt. Die Dramaturgie des Perspektivenwechsels versucht die Subjekt-Objekt-Trennung imaginär, durch Positionswechsel in der Bildabfolge zu überwinden. Der hierbei und auch sonst anfallende Zeit-Verbrauch muss in sinnvollen, überzeugenden und verblüffenden Rhythmen organisiert werden, die nur zum geringeren Teil visueller Natur sind. Alle reden vom Bild, aber die Bilder sind nur die hauchdünne Oberfläche des gesamtfilmischen Kinoerlebnisses und der dahinter stehenden Konzepte, Strategien und Apparaturen.

Dieser Vorgang kann unterschiedliche Formen und Qualitäten annehmen. Im idealen Fall hält die Spannung zwischen dem „imaginär“ oder „objektiv“ vorausgesetzten Raum und dem jeweiligen „subjektiv“ exponierten Bildausschnitt von der ersten bis zur letzten Minute an.

Der Film geht dann mit der raumzeitlichen Gesamtdynamik höchst ökonomisch und bedeutungsvoll um, er konstruiert den insgesamt erfahrbaren Raum in verschiedenen zeitlichen Phasen immer weiter aus oder unterwirft ihn schlagartiger Veränderung.

Modi des filmischen Sehens

Auch das Sehen (der Zuschauer und der im Film auftretenden Akteure und Figuren) ändert ständig seinen Charakter bei diesem dynamischen Aus- und Umbau der temporal vermittelten Raumstruktur. Es bleibt nicht bei der kontemplativen Reserve des distanzierten Zuschauens und ruhigen Betrachtens, bei der Trennung von Subjekt und Objekt bzw. Kinobesucher und Leinwand.

Das Sehen wird in den zeitlichen Fluss und die (a-)logische Schrittfolge der Bilder involviert, es steigert sich, im Durchsuchen und Durchmustern, im Aufnehmen und Verbinden, zum aktiven Lesen und Entziffern der Situation, es springt vom Beobachten über das Erkunden und Verfolgen hin zum Modus eines komplexen cineastischen Erlebens, einer medialen selbstreflexiven Form der technikgestützten Wahrnehmung von Knotenpunkten und Fluchtlinien des vom Film produzierten raumzeitlichen Bild-Gewebes.

Doch in vielen Fällen wird das filmische Versprechen einer komplexen und miterlebbaren Konstruktion von Welt nicht eingelöst. Der Film verbraucht und vernichtet die Dynamik der Zeit (und des Raumes) dann einfach so, in einem belanglosen Bilder-Spektakel von leeren Synthesen, Klischees, sattsam bekannten Ansichten, Szenen und Figuren. Er langweilt, und der niedergeschlagene Zuschauer hat das sprichwörtliche Nachsehen.

Raum in der Musik – Die Magie der Dauer II

Musik verfährt umgekehrt zum Film. Sie hat positiven, an der Synthesis von Zeit, Erleben und sukzessiver Wahrnehmung und Erinnerung teilnehmenden Charakter. Sie verbraucht die Zeit nicht wie die elementar analytische Bildermaschine Kino, sondern gestaltet und verdichtet sie in reflexiver Hinsicht durch die Organisation von Klängen in Strukturen der erfüllten oder der stillen Dauer. Die Musik ist ein soziales, intersubjektives Medium. Es schöpft seine Kraft aus dem inneren Zeiterleben der Subjekte, verbindet diese in einem dynamischen Raum, im rhythmischen Vernehmen und Aussenden von Stimmen, Artikulationen und Klängen und schafft im Grenzfall der Ekstase sogar den gesamten sozialen Raum neu.

Dies wäre die revolutionäre Utopie einer populären Musik jenseits von E- und U-Musik. Jeder hartnäckige Konzertbesucher kennt dieses vereinzelte, oft historische Power-Jubel-Erlebnis und weiß es von der Mehrheit seiner Konzert- und Kinobesuche sehr wohl zu unterscheiden.

Musik ist, selbst in den „entfremdeten“ Formen der Partitur, der neuen Musik und der medialen Konserve, immer schon Teil der sozialen Welt. Wer Musik hört oder spielt, ist Teil und nimmt Anteil an einer Welt aus Klang. Der Musik ertönt jenseits Subjekt-Objekt-Spaltung (Sloterdijk), mit der der analoge Filmmacher, wenn auch grenzwertig und grenzüberschreitend (durch Perspektivenwechsel) spielt. Der soziale Raum ist keine Leerform, sondern das hochbewegliche Innenleben von Architektur, Landschaft und Kosmos.

Er ist Resonanzboden, Speicher, Leiter und Verstärker für Gewohnheiten, Rituale, Bewegungen, Ströme und Umbrüche. Die Musik konsumiert die individuelle und kollektive Zeit nicht, sie kümmert sich um die Gestaltung der Dauer, sie schafft rhythmische und klangliche Intensitäten, Pausen und Stille, setzt Einteilungen, harte Schnitte, sanfte Ein- und Ausblendungen, baut Achsen, Ebenen, Steigerungen, Treppen, kreist Höhe- und Wendepunkte ein, produziert Varianten, Schleifen, Erinnerungen und Wiederkehr, in denen sich die Zeit als unmittelbares oder reflexives soziales Erlebnis in einer „temporalen Architektur“ stabilisiert. Mit Deleuze kann die Funktion der Musik noch weiter als nomadischer Prozess der Deterritorialisierung und der Reterritorialisierung gedacht werden.

Die temporale Architektur ist ein ästhetisches Kondensat einer konzentrierten Zeitwahrnehmung, zwischen Präsenz und Absenz, Erinnerung und Antizipation. Während der Film von Haus aus den Raum der Bilder in den Projektionsraum der Aufführung wirft, und sie gleichsam verbrennt und verbraucht (in Analogie zu Virilios Dromologie von Krieg und Kino), erzeugt die Musik gerade in der erklingenden Zeit eine andere Art von pulsierendem Raum, in variablen Intensitäten, durch das anhaltende Erlebnis von Rhythmen, Tönen, Melodien, Dis-/Harmonien, Passagen und Kontrasten. Erst durch die Dechiffrierung ihrer temporalen Architektur wird die Musik und die Klang-Um-Welt aus verschiedenen Epochen und Kulturen verstehbar als Kunst, Zeit in mannigfaltiger Weise als reflexive Wahrnehmungs-, Erlebnis- und Handlungsformen für Individuen und Gesellschaften zu reorganisieren.

Musik ist seit Urzeiten ein spirituelles Medium ausdrucksstarker Präsenz und expressiver Enthüllung. Ausdruck und Expression hängen mit der Entdeckung, Bemeisterung und Reorganisation von Zeit eng zusammen. Musik synchronisiert und desynchronisiert die Menschen, stabilisiert ihre Gewohnheiten und gräbt sie um, treibt ihre Erinnerung und ihre geistige Fantasie an, entfacht oder lähmt die kollektive Ekstase, aber initiiert auch die individuelle Meditation. In archaischen Momenten wirkt Musik wie ein dampfender Chor, wie eine Versammlung von heftigen Lebewesen, schreienden und grunzenden Tiermenschen, die maskiert und anonym auf den Geburts-, Kampf- und Opferplatz schleichen.

Der tragische Chor duldet die Einzelwesen mit ihren schönen, schlauen, eitlen, wagemutigen und verzweifelten Arien im Vordergrund nur, um sie später zu zerreißen oder von ihren inneren Konflikten zerrissen zu sehen. Für den modernen, auf Bilder und Objekte fixierten Menschen ist die Musik in ihrer absoluten Hörgestalt ein Stück blanke Anarchie, ein rätselhafter Hinter- und Untergrund des Un-/Sichtbaren: hinter dem Augen-Medium öffnet sich der Abgrund, in dem das Orchester sein aggressives Unwesen treibt und aus dem die künstlich zusammengesetzte und doch oft eindringlich zur Einheit verschmolzene Stimme eines seltsamen Orakels der eigenen Existenz dringt.

Inszenierung und Zerstreuung, Meditation und Ekstase

Film und Musik, die technischen Voraussetzungen für visuelle Inszenierung und Zerstreuung von und in Bildern, sowie für die auditive Meditation und Ekstase in Tönen lassen sich prinzipiell unendlich fein oder grob kombinieren.

Im heutigen Mainstreamkino zwischen Multiplex-, DVD-, TV- und zukünftig voller Internet-Verwertung ist die mögliche Mischung von Bild und Ton, von rational vorsortiertem Konsum und wild um sich greifender Erregung in eine völlig entropische Phase getreten. Sämtliche Kinogenres mit all ihren durchgenudelten Klischees werden derzeit rekombiniert und weiter ausgelaugt. Filmregisseure flüchtigen zu anspruchsvollen Auftragsarbeiten als TV-Regie, Tarantino meets CSI.

Wir befinden uns heute am anderen Ende eines digitalen Kintopps und toben als passive „Idioten“ vor uns hin, Lars von Trier, sei für diesen Titel Dank. Wenn man so will, hat die gereinigte visuelle Transparenz der neueren Kinoproduktion, die Hochauflösbarkeit der schicken Blue-Screen-Bilder fast alle Widerborstigkeit aus dem Feld des Sichtbaren und Unsichtbaren geräumt, aber auch den auditiven Widerstand aus dem Reich der vorgesampelten Töne und Klänge heraus gesogen.

Das von Haus aus mächtige Medium Musik schwächelt vor sich hin. In der scheinbar komplett durchvisualisierten Ära der digitalen Informationsverbreitung und -verarbeitung ist die Musik in die digitalen Postproduction und multimediale Verwertung abgewandert.

Ausgerechnet die Option der exakten rhythmischen Fein-Verzahnung von Bild und Musik und der entsprechenden frühzeitigen Kooperation von Regie und Musik wird nur in Ausnahmefällen im Kino besorgt. In der Literatur und beim Drehbuch geht es kaum anders zu: Geschichten werden zurechtgekürzt und in seichten Bildern und Tönen vorgetragen. In den meisten Hörbüchern tragen einsam schneidige oder betont schöne Stimmen ihre abgeflachten Stories ausdrucks- und interpretationslos vor, um jeder Überraschung oder feineren Abtönung auszuweichen, und über bemerkenswert vieldeutige Stellen wie über Terminkiller hinwegzueilen.

Zur Kritik der populären digitalen Kultur

Die heutige populäre digitale Kultur feiert im „Audiovisuellen“ vor allem das Instantane, das unmittelbar Operative, das Regelmäßige, das Ordentliche, das Berechenbare, das Graphisch-Mathematische, das Banal-Ikonische. Sie verbannt die Anarchie und die Irregularität aus ihrem programmierten Design, ebenso das Schwierige, Langwierige und Komplexe.

Warum nicht auch die eingespeicherten Bild- und Tonwelten vereinfachen? Der Digitale Pop stellt die Fiktion eines leeren Ego-Raums vor den Widerstand der realen Dinge, den immergleichen Takt über den lebendigen Rhythmus, die vorhersehbaren Ergebnisse im Ablauf der Verfahren vor die platte Überraschung plötzlich eintretender Ereignisse.

Man versucht das Auditive und das Visuelle im Universum eines fiktiven Archivs verschmelzen. Bloß kein lästig verzweigtes Labyrinth, kein Mantra und kein Mandala, keine verstreuten Provinzen und zerklüfteten Landschaften für Ohr und Auge. Verlangt wird ein statisches, null-räumliches, zeit- und ereignisfreies „Konstrukt“ sofortiger Koexistenz aller verfügbaren Daten, ein globales Jetzt am Nullpunkt des eigenen Ichs. Die populäre digitale Kultur steht unter dem besonderen Bann einer Fernbedienungs-Religion, die das Jenseits ins Diesseits geholt hat.

Es geht um die imaginäre und scheinbar voraussetzungslose Kontrolle über Raum und Zeit, um den Zwang zur beliebigen Fragmentierung und instantanen Rekombination von historisch, kulturell und geographisch weit auseinander gedrifteten Elementen. In ihren Cuts, Kopien und Simulationen tendiert die populäre digitale Kultur dazu, die Ereignishaftigkeit, den Fluss, Strom und Prozess der Dinge aufzuheben und zu beseitigen. Nur so kann sie sich ihrer vermeintlichen Totalität versichern und außerhalb ihres Kreises die Existenz einer komplexeren Wirklichkeit leugnen.

Der Film ist insofern in seiner älteren Gestalt der bewegten, selbst zeitlich begrenzt dargebotenen, aber jederzeit wiederholbaren Aufnahmen ein historisches Doppelphänomen: durch und durch analog im unhintergehbaren immanenten und strukturellen Verlauf der Sichtung und Erzählung des Bewegt-Visuellen und zugleich digital in seiner technischen Wiederholbarkeit und Zerlegbarkeit. Die manifeste und latente Vernichtung des Films in den Formen der heutigen digitalen Produktion und Rezeption besteht darin, seine analoge zeitliche Spur auszulöschen und die reproduktiven Elemente und Dimensionen gewinnbringend voranzutreiben.

Das Einfallstor für diese Operation ist die digitale Speicherung, Bearbeitung und der Konsum von eigenen und vorproduzierten Fotografien und Filmen, vor allem aber die professionelle digitale Produktion, Bildbearbeitung und Postproduktion, in der das beim Dreh gewonnene Bildmaterial nur noch als Fragment und Rudiment benutzt wird. Das Material kann im Extremfall völlig entzeitlicht und beliebig neu zusammengesetzt und animiert werden.

Auf diese Weise hat sich der Begriff der filmischen „Aufnahme“ und des filmischen „Erzählens, Darstellens und Inszenierens“ entwirklicht. Die analoge Auffassung bestand darin, ein Stück Welt fotografisch und filmisch zu reinszenieren. Innerhalb der von der Regie und Kamera ausgewählten Ausschnitte und Einstellungen sollte das Stück Welt als lebendiger Vorgang (mit Realpersonen oder selbstständigen Schauspielern) in seinen Bestandteilen eingehend, Bild für Bild festgehalten werden, um das gewonnene Material später in eigenwilliger, künstlerischer Sprache von Schnitt und Montage wieder neu und doch respektvoll, authentisch zusammenzusetzen. Dieses für reale Eindrücke und Perzeptionen offene Konzept wird nun verabschiedet.

Die Entzeitlichung der Bilder

Für das digitale Bildverstehen gilt der Triumph der simulierten Fotoikone und der reinen Studioproduktion über das Zeitfenster der alten Fotografie und des alten Films mit ihren nicht domestizierbaren Bildwelten. Der günstige fotografische Augenblick draußen, die äußere Dauer und der innere Bewegungsablauf des Realfilmbildes werden nun der Macht absoluter Gestaltbarkeit am PC unterstellt. Die Transformation der an den Schauspielern und Objekten abgesteckten digitalen Daten zu digitalen Modell-Körpern mit Idealverhalten führt zur internen Restrukturierung und Fiktionalisierung der Darstellung von Bewegung,

Handlung und Entwicklung. Ambivalent ist die Bullett-Time-Ästhetik, da ikonische Aspekte beliebig anwählbar und ausfilterbar sind, unter Vernachlässigung und Unterdrückung des traditionellen cinematografischen Zeitflusses mit seiner typischen Irregularität. Die unwägbaren Details der Objekte und Ereignisse machen immer wieder den Sprung der Bilder und der Perspektiven nötig. Die digitale Codierung und Manipulation des Visuellen führt eine Reihe von Funktionen mit sich, die die Transformation des Temporalen herbeiführen: Anwählen, Heranzoomen, Scannen, Zerlegen, Aussondern, Reduzieren, Betonen, Kopieren, im Kontext Multiplizieren und Potenzieren, Indexikalisieren.

Aus der Sicht der analogen Filmsprache und ihrer Einheit, der bewegten, in der Zeit andauernden und doch begrenzten Bildeinstellung, bedeutet dies: Die filmische Zeit als Verlauf von zugleich formal eingegrenzten (kadrierten), aber im Bildfeld nur bedingt kontrollierbaren und im hohem Maße erfahrungsoffenen Darstellungsprozessen wird immer stärker eingegrenzt, in Teiloperationen zerlegt oder sogar abgeschafft. Damit wird die Voraussetzung einer real, in der Außenwelt erlebbaren Zeit mit ihren prozessualen und realen Eigenrhythmen infrage gestellt. Ebenso werden die Ästhetik und die Kunst bedroht, in Einzeleinstellungen einen fruchtbaren Rhythmus für lebendige Bildabläufe zu finden.

Die digitale Kontrolle und Bearbeitung der (analogen) Daten impliziert die Reduktion des Filmbildes von seiner komplexen räumlichen und temporalen Zusammensetzung auf eine erfahrungs- und erlebnisarme Datenmenge. Die Beschleunigung und Zerlegung der digitalen Produktion, Bearbeitung und Simulation verdrängt die Arbeit am möglichen visuellen Rhythmus und an der temporalen Syntax der Filmbilder und transformiert sie zu industriellen, leeren Ikonen, die jederzeit als reine Daten auf der Oberfläche des Monitors erscheinen und verschwinden können.

Natürlich kann man umgekehrt argumentieren, dass die arbeitsteilige Zerlegung und digitale Zusammensetzung des nach-analogen Filmbildes eine Fortschrittsoption gerade auch für progressive Filme sei. Während im analogen Film das temporale Element vor allem in der Spannung von Bogen und Unterbrechung, durch die zeitliche Dauer, die interne Bewegung/Veränderung und die darauf folgende kontrastive und erzählerische Abfolge der Bilder und Perspektiven wirksam ist, könnte man die Idee der zeitlich-musikalischen Dynamik jetzt stärker in die Paradoxien einer verfeinerten digitalen Bildkomposition und Bildrhythmik verlegen, in den immanenten Bildzustand, der zwischen Black Box und White Cube, theatralischer Bühne, potenzieller Benutzeroberfläche und fiktiver, digi-realistischer Bildtiefe changiert und auch permanenten Split-Screening und die heutige videoästhetische Beschleunigung kennt. Solche Filme würden dann widersprüchliche Zustände im wechselhaften Fluss der Daten liefern.

Aber eine solche Ansicht braucht gute Drehbücher und massive Überlegungen zu unkonventionellen Storyboards. Solange es Kino in seiner jetzigen zweidimensionalen Form gibt, wird die weitere zeitliche Dynamisierung des Kinobildes in der Anpassung und Ausbalancierung von analogen und digitalen Verfahren liegen. Der tosende Digischrott in den durchaus gut gemeinten Super-Helden-Mix-Filmen wie „Van Helsing“ und „Die Liga der außergewöhnlichen Gentleman“ führt keinen Milimeter weiter. Es geht nicht nur um Rechnerkapazitäten und Rotoscope-Modelle, sondern um klare Diskursmodelle für die Wechselwirkung von dynamischen Abläufen, Parallelereignisssen und sinnvollen Schnitt-und-Montage-Konzepten.

Insofern sind die Zuschauer schnell übersättigt, wenn sie die gleichen düsteren planetaren Tönungen von „Star-Wars-Herr-der-Ringe-Matrix-Finalen“ wieder erkennen und in dieselben disneyförmigen, aufgeweichten Bildideen von Vorsprüngen und Abgründen starren, auf denen sich die einsam ausgesandten Helden tummeln oder schlagen müssen. Offensichtliche Schwächen, wie die weniger dynamisch wirkende Flugbewegung des neuen Superman gegenüber der alten analogen Figur sprechen für sich. Ang Lees sparsamerer Einsatz der digitalen Technologie bei der Kreation von „Hulk“ hat einen durchaus wegweisenden Sinn.

Die ins Unmögliche gesteigerten Karate-und-Kung-Fu-Einsätze in Filmen wie „Matrix“ sind eine Metapher für das neue digitale Ballett interaktiver Avatare im virtuellen Raum, und doch nutzen sich diese Rituale als Schauwerte irgendwann ab, bei aller Brillanz der auch netzphilosophisch gekonnt eingesetzen und multiplizierten Effekte. Es könnte sein, dass wir auf „Matrix“ bald wie auf eine frühe Stummfilmära zurückschauen und uns über die Hilflosigkeit amüsieren, mit der Architekt und Orakel, Mr. Smith und Neo, das System von Zion und Matrix endlich wieder produktiv in Schwung zu bringen versuchen.

Die atemporalen Tendenzen zur digitalen Glättung und Selektion greifen die mögliche Dynamik der jetzt schon verfügbaren und weiterhin produzierbaren Klänge und Bilder sowie ihrer medialen Arrangements an. Dieser Umstand sorgt dafür, dass dem jüngeren Publikum die „klassischen“ Erfahrungen von Meditation und Ekstase, wie sie die analogen Ära im musikalischen und filmischen Bereich vermittelte, nicht mehr unverstellt zugänglich sind, sondern nur als jämmerliche Restposten in Archiven oder als Karikaturen und unfreiwillige Parodien in den Rubriken von Unterhaltung und Show-Spektakel.

Ekstase und Meditation werden derzeit als Störfaktoren und Grenzzustände am Rande des digitalen Laboratoriums traktiert, man versteht sie als naturalistische Entartungen zwischen Suff und Sucht miss, als Formen der äußersten Hitze und Kälte bleiben sie am Rand der lauwarmen Unterhaltungsbäder und Gewohnheitsmuster, während die neuere Kunst in den Treppen und Terrassen einer komplexeren literarischen, visuellen oder mystischen Wahrnehmung noch letztes, aber unerkanntes Sprengmaterial für das Außersichsein oder die innere Versenkung enthält.

Temporale Architekturen

Durch die Kunst des Innehaltens wurde aus dem dionysischen Lärm der Töne das rhythmische Konzentrationsmedium Musik. Musik als Medium kontrolliert die Ekstase in den Formen einer „weichen mathematischen“ Komposition oder der temporalen Architektur. Es verwandelt das Potential des heftigen körperlichen Ausbruchs in nuancierten Ausdruck und in die zeitliche Gespanntheit einer bestimmten Klang- und Zeitstruktur, in ein erfülltes und deshalb wiederholbares Ritual, in das Erlebnismuster einer differenzierten Partitur.

Auch das gesamte Spektrum der Unterhaltung zehrt von dieser Balance. Nuancierter Ausdruck zieht seine Energien aus der Bewegung hin zur reinen Ekstase, kontrolliert diesen Prozesss aber über meditative Verinnerlichung und mathematische Kontrolle in der temporalen Architektonik, - mit ihren typischen Alternativen, Pausen, Einschnitten, Abschwächungen und Steigerungen, um gegebenenfalls in die musikalische Form einer kompletten Komposition oder eines sozial akzeptierten Klangzeremoniells überzugehen. Wenn man so will, spiegelt sich in dieser Nuancierungspalette die Urgeschichte des Zivilisationsprozesses wieder.

Verfeinerbarer Ausdruck, strukturelle Objektivation und Unterhaltung sind keine Widersprüche, sondern miteinander zusammenhängende Kategorien der anthropologischen Entlastung von Angst, Terror, Leben, Bewusstwerdung, Produktivität und Tod, die für klassische Musik ebenso gelten wie für die zwischen Vitalität, Größenwahn und Schwindsucht pendelnde Pop-Musik.

Zur Konkurrenz zwischen Bild und Ton im Film

Im gewöhnlichen Kino findet ein merkwürdiger Verdrängungswettbewerb um die Ressource Aufmerksamkeit statt, eine Konkurrenz zwischen Bild und Musik, wobei der normale Ton/Sound meist auf die Seite des Bildes geschlagen wird. In (fremdsprachlich) nachsynchronisierten Filmen entsteht mit dem oft isoliert und regiearm hinzugefügten Ton bereits eine dritte Zuordnungsebene.

Regie, Kameraführung und Schnitt können Handlung, Dialog und Ton über das platt abbildende und Eindrücke zusammen mischende Kino hinaus in ein Kunstmedium verwandeln, in raumzeitlich durchkomponierte Bild- und Tonfolgen. Entweder entsteht stures Gattungstheater, an das sich viele heutige Produktionen auch im Gattungsmix weiter festklammern, oder im anderen, besten Falle die aggressive, poetische oder surreale Traumsprache eines filmischen Meisterwerkes.

Im Gattungstheater wird die Konkurrenz von Bild und Musik relativ starr ausgetragen, ein wenig wie in der Oper durch Arie und Rezitativ: Musik steht entweder auf dem kulinarischen Präsentierteller oder kuscht und säuselt im Hintergrund, weil die Handlung weitergeht. Ganz stimmt dies nicht. Denn auch im billigsten Actionfilm muss ein monströses Syntheziser-Gewummere dafür herhalten, dass das Angriffs- und Fluchtverhalten von Helden und Schurken jenseits der Crashs und Explosionen beeindruckend wirkt. In den Meisterwerken des Kinos ist die Musik auf höherer Ebene in produktiven Spiralen aufgehoben, die sich solchen binären Ordnungen zwischen Bildern und Tönen widersetzen.

Die Konkurrenz von Bild und Musik ist in vielen historischen Schichten angelegt und hängt mit der Archäologie der Medien und ihrer Technik zusammen. Sie liegt in dem mechanischen oder organischen Tempo der Filmbilder und dem (funktionalisierbaren) Eigengewicht der Musik begründet. Gelegentlich haben die Bilder (selbst stumm oder mit Eigengeräusch) den Vorrang: Die Musik kommt dann als akustischer Untertitel, als atmosphärische lllustration des Bildes oder als Animation der Handlung daher.

Manchmal verhält es sich umgekehrt: Musik dominiert in Rhythmus, Lautstärke, Tempo und Thematik. Jetzt ist sie in der Position, ihren gedanklich-konzeptuellen, affektiven oder massiv handlungsantreibenden „Kommentar“ über die Bilder zu werfen: wortreich schwelgt sie im Inhalt der Bilder, sie schmiegt sich identifizierend an Personen und Dinge, wandert von einem zum anderen Detail, oder zergliedert in strenger Unparteilichkeit unbarmherzig die visuelle Ordnung und schafft Distanz, sie belauert eine Szene und fährt mit lauter Fanfare zwischen die hochbewegten Einstellungen, sie verweist in die räumliche Tiefe, sie durchweht geisterhaft einen Korridor, sie deutet ins unsichtbare Off, sie tickt beharrlich, bis zum Schnitt der zeitbegrenzten Einstellung, sie galoppiert auf eine raumzeitliche Grenze zu, um sie flugs zu überspringen, sie hält andächtig den letzten Eindruck eines ausblendeten optischen Motivs fest, sie gleitet souverän über das Raumzeitmuster der Gesamtsequenz hinweg, mit einem gekonnten Signal-Feuerwerk (Norman Jewisons „Thomas Crown“ mit den delikaten Split-Screen-Tricks zu Michel Legrands lässig klangintensiven 60er-Beats), sie artikuliert, als Überbrückung und Transformation, den Übergang zwischen den Epochen, von der zweidimensionalen Welt der Filmleinwand schwebt sie in die Welt des Filmsaals, rauscht über das Kinopublikum und wächst zu einem Engel der Geschichte (Benjamin) heran.

Im Kraftfeld von Gleichgültigkeit und Anziehung. Der Ursprung des Besonderen

Man stelle sich vor: Fall 1: „Mittelmäßige“ Filmbilder treffen auf eine „magische“ Musik. Oder umgekehrt Fall 2: „Mittelmäßige“ Musik trifft auf „magische“ Filmbilder. In beiden Fällen soll es nicht um Qualität gehen, sondern um das formale Gefälle der Aufmerksamkeit und die Wechselwirkung zwischen Zurückhaltung und Hervorstechen, Gleichgültigkeit und Anziehung. Jedes Mal existiert ein doppeltes Spannungsverhältnis. Das Triviale kennt letztlich weder Respekt noch Gnade. Das Triviale ist der selbst der Macht des Vorübergehens, des Beiläufigen und der Vergänglichkeit unterworfen, aber es übt diese Macht auch selbst aus, wenn man ihm zu viel filmischen Platz lässt.

Im Augenblick der Intervention von Magie und Bedeutsamkeit hält das Triviale eine kurze Zeit inne. Aber selbst im Kino geht das Triviale rasch zur Tagesordnung über, zersetzt und parodiert das Anspruchsvollere. Das Triviale tendiert zur Unterwanderung der Anspannung, zum Verschleiß der Prätention, zum „Na, und?“, gar zur Komik und zum leisen Gelächter. Umgekehrt treibt das Anspruchsvolle, wenn es stark genug ist, die Spannung gegenüber dem Mittelmäßigen an. Das Anspruchsvolle ist der erste glückliche Haltepunkt einer Suchbewegung des Zuschauers als noch nicht zufrieden gestellter Beobachter. Es muss nicht gleich das Erhabene sein, sondern das Zweifelhafte, das Ausgefallene, das Aufgedrehte, das leicht Verrückte.

Erst später tritt die Verschwörung auf, das Mysteriöse, das Phantastische, das Schreckliche und die offene Katastrophe. Im besten Falle verwandelt das Anspruchsvolle und Merkwürdige die Beobachtung des Durchschnittlichen in etwas Besonderes. Der Betrachter und die Bilder werden plötzlich aus der Reserve des Gewöhnlichen, Trivialen, Erwartbaren, Geläufigen herausgeführt. Die Musik mag dabei zunächst stören und dann Türen in neue Korridore öffnen. Erst mit dem Besonderen beginnt die spezifische und individuelle Filmwahrnehmung eines einmaligen Erlebnisses.

Die Zerstreuung der mehr oder minder zufällig aufeinander folgenden Filmbilder und Einstellungen parodiert die innige Extase der Töne (Fall 1). Dieses Modell muss nicht bei platter Unterhaltung stehen bleiben. Charlie Chaplins hingebungsvoller Tanz mit dem magischen Globus in „Der große Dikator“ zu Wagners einschwebendem „Lohengrin“-Vorspiel liegt auf der Kippe bis zum entlarvenden Hochwippen mit dem Hintern und dem trivialen Zerplatzen des Ballons. Diese Sequenz ist aber auch in sich ein Stück politische Karikatur und Kritik an der totalitär eingesetzten Kunst. Zerstreuung ist der visuelle Virus aller Filmbilder, die in ihnen beschlossene kinokulturelle Halbwertszeit auch noch in den konzentriertesten Aufnahmen und Montagen.

Wo sich die Zerstreuung ungehindert breitmacht, herrscht die leere Unterhaltsamkeit, die das mechanisch Abgebildete nur noch irgendwie hinnimmt. Dieses Glotzen vereitelt Inszenierung und Verständnis differenzierter Erfahrungen, in denen die subjektive Bildabfolge in produktive Spannung mit der objektiven Konstruktion von Welt und Raum tritt. Eine in Wirkung und Wahrnehmung anspruchsvoll-abgehobene, z.B. extrem rhythmische Musik In Alfred Hitchcocks „Psycho“ beginnt Marion Cranes Wochenend-Flucht aus Phoenix mit dem von ihrem Chef anvertrauten Geld eher gemächlich. Spannung entsteht durch die Mischung von Alltag und Drift.

Bernard Herrmanns ruckartige Streicher setzen ein und bewahren als Gegenstimme zu den Bildern die epische Option, dass die zunächst alltäglich zusammengestellten Einblicke und Ansichten sich in der Folge als Fassade, als Konstruktion oder gar als Fiktion erweisen, aus der etwas anderes hervorbrechen wird, was die Musik bereits jetzt in ihrem hysterisch aufschreckenden Puls vorwegnimmt. Dies wird später bestätigt, im heftigen Ineinanderschnitt der überschrill pfeifenden Geigen und der Messerbilder auf dem nackten Frauenkörper beim maskierten Mord in der Dusche in Bates’ Motel. Der frühere Rhythmus der Musik erhält nun ein heftiges visuelles Äquivalent, aber noch als unaufgelöstes Rätsel.

In Fall 2 legt sich eine triviale oder bekannte Musik zunächst wie ein Schleier vor die bildsprachlich extrem auskomponierte Ebene der Bildgestaltung oder Montage/Bildabfolge. Auch dies ist eine Chance, zum Überraschenden und Besonderen weiter vor zu dringen. In George Lucas’ Pubertätskomödie „American Graffiti“ bedient das allgegenwärtige Lokal- und Autoradio (mit ruhigen Balladen und Rock’n Roll) nächtliche Harmoniebedürfnisse und jugendliches Aufbegehren, sogar bei der Vorbereitung zum harten Spaß-Anschlag auf das Fahrgestell des Dienstwagens der nächtlichen Polizeistreife.

Eine scheinbar triviale Musik kann auch über die Hintergrund-Funktion hinaus kritische Aufmerksamkeit für die Bildsprache oder die Ereignisse wecken und sie satirisch einfärben und unterwandern: der alte, knisternde Italienische-Opern-Arien-Sound Carusos als akustischer Ausgangspunkt zum digital scharf eingestellten Tennisball über der Netzkante in Woody Allens „Matchpoint“. Oder die triviale Musik wird von der differenzierten Bild- und Handlungskomposition erfasst und zum Signal der Re/Deterritorialisierung, so dass sich neue intermediale Bedeutungsebenen ergeben: die entgrenzende Perversion von „I’m singing in the rain“ durch Alex’ jugendliche Gewaltperformance; die synthetische Clonierung von „Beethovens Neunter“ durch W. Carlos’ Syntheziser und der Missbrauch durch die staatlich sanktionierte Ludovico Therapie, beides in Stanley Kubricks „Clockwork Orange“. Dagegen Doris Days ängstlich-behütender Lockgesang, die Umfunktionierung ihres halbprivaten Gesangsauftritts mit „Que sera, sera“ auf der Suche nach ihrem entführten Sohn in Alfred Hitchcocks „The Man Who Knew Too Much“.

In beiden Modellfällen erweist sich die Dynamik der Zeit von größter Wichtigkeit. Die Logik des Kinos macht deutlich, dass die Aufzeichnung und Verwendung des Gewöhnlichen und des Alltäglichen, das so genannte Triviale und die Zerstreuung ohne eine latente zeitliche Dynamik nicht differenziert dargestellt werden können. Nichts geht ohne entsprechende minimale Wahrnehmungsrhythmen, in denen das Aufmerksamkeitspotential für das Besondere liegt, an das Bildregie und Musikregie subtil und fruchtbar anknüpfen können, um die raumzeitliche Dynamik des Kinos unerwartet zu entfachen.