Spiel mit dem Feuer

Der in der Ukraine erzielte Kompromiss über vorgezogene Parlamentswahlen dürfte mit dem zu erwartenden harten Wahlkampf die Fronten weiter vertiefen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Nach einer fast zweimonatigen Krise einigten sich in der Nacht von Samstag auf Sonntag der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko und sein innenpolitischer Widersacher Viktor Janukowitsch auf einen Termin für die vorgezogenen Parlamentswahlen - am 30. September dieses Jahres sollen die Ukrainer erneut über die Zusammensetzung des Parlaments entscheiden. Durch diesen Schritt erhoffen sich die Rivalen ein "Ende der politischen Krise", wie es Juschtschenko formulierte. Doch es bleibt fraglich, ob die Neuwahlen tatsächlich die innenpolitische Lage in der Ukraine stabilisieren, denn durch die Art und Weise, wie dieser Kompromiss zustande gekommen ist, besteht die Gefahr, dass sich die Fronten zwischen den politischen Kontrahenten und der gespaltenen Nation noch mehr verhärten.

Nach dem Willen des ukrainischen Präsidenten Viktor Juschtschenko, hätten am letzten Sonntag die Bürger des zweitgrößten Landes Europas ihre Stimmen an den Wahlurnen abgeben sollen. Nach einem monatelangen Machtkampf mit dem Parlament löste Juschtschenko Anfang April die Werchowna Rada auf und kündigte für den 27. Mai Neuwahlen an. Doch für das Staatsoberhaupt kam es anders als erwartet. Die Partei der Regionen und ihre Koalitionspartner währten sich gegen den Beschluss, indem sie die Gelder für die Neuwahlen nicht bewilligten. Gleichzeitig demonstrierten Tausende Anhänger des pro-russischen Ministerpräsidenten Viktor Janukowitsch auf den Straßen Kiews gegen die Auflösung des Parlaments (Revolution Reloaded).

Über Wochen dauerte dieser Streit, der das Land politisch immer mehr lähmte. Weder das Verfassungsgericht, welches auf Anordnung Juschtschenkos drei Richter verlor, noch die Konfliktparteienparteien selber waren zu einer Lösungsfindung fähig. Anfang Mai schien der Streit zwar beigelegt, da sich die Rivalen auf vorgezogene Parlamentswahlen einigen konnten, doch bei der Frage nach einem genauen Wahltermin brachen die Fronten zwischen den Kontrahenten erneut aus. Während Präsident Juschtschenko für einen Termin im Juni oder Juli war, wollte Ministerpräsident Janukowitsch die Wahlen im Oktober oder November stattfinden lassen. Nicht ohne Grund beharrten beide auf ihren Wahlterminen. Wie aktuelle Umfragen ergaben, würden momentan die Koalitionspartner von Janukowitsch nicht mehr den Wiedereinzug ins Parlament schaffen, was eine Koalitionsregierung unter der Führung Janukowitsch’ unmöglich machen würde.

Militär wird eingeschaltet

Letzte Woche erreichte nun der Streit einen neunen Höhepunkt, da sich beide Seiten nicht scheuten, im wortwörtlichen Sinne mit dem Feuer zu spielen. Angefangen hatte alles am Donnerstag mit der Absetzung des ukrainischen Generalstaatsanwalts Swjatoslaw Piskun. Nach Meinung des Präsidenten verstieß dieser gegen die Verfassung, da er neben seinem Amt noch für Janukowitsch’ "Partei der Regionen" im Parlament sitzt. Wie zu erwarten, erkannte Piskun seine Absetzung nicht an und warf im Gegenzug Juschtschenko selber vor, gegen die Verfassung verstoßen zu haben. Unterstützt wurde Piskun dabei von Janukowitsch und seiner Regierung, wobei es sich nicht unbedingt nur um eine verbale Unterstützung handelte. Unter der Führung des Innenministers Wassilij Zuschko besetzte eine Sondereinheit des Innenministeriums das Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft und verhaftete dabei alle Sicherheitsleute.

Die Reaktion Juschtschenkos, dem laut Verfassung nur die regulären Truppen des Landes unterstehen, ließ nicht lange auf sich warten. Am Freitag gab der Präsident die Anordnung, alle Amtsgebäude durch Sondereinheiten bewachen zu lassen, gleichzeitig unterstellte er per Dekret die Truppen des Innenministeriums seinem Befehl. Als Verfassungsbruch bezeichnete darauf Janukowitsch die Anordnung seines Widersachers, da nach einer aus alten Sowjetzeiten übernommenen Regelung die militärähnlichen Einheiten allein dem Innenministerium unterstehen und, zusätzlich zu den regulären Polizeikräften, nur zum Schutz der inneren Sicherheit eingesetzt werden dürfen. Auch der betroffene Innenminister wehrte sich gegen den Erlass Juschtschenkos und gab an die Truppen die Anweisung, den präsidialen Befehl zu ignorieren.

Doch Zuschkos Worte kamen bei seinen Truppen nicht mehr an. Auf Geheiß ihres Kommandeurs machten sich am Samstag über 2000 präsidententreue Soldaten des Innenministeriums auf den Weg nach Kiew. In der Hauptstadt schürte diese Nachricht Angst vor Ausschreitungen. Bereits im April fürchteten viele Beobachter, dass der politische Konflikt mit Waffengewalt fortgeführt werden könnte. Doch glücklicherweise bewahrheiteten sich die Befürchtungen vom Wochenende nicht, obwohl Polizisten die Busse der Soldaten vor den Toren Kiews stoppten.

Nach dem Kompromiss die nächste politische Krise?

Auf die Konfliktparteien musste diese Entwicklung aber Wirkung gezeigt haben. Noch am Samstagabend trafen sich Viktor Juschtschenko, Viktor Janukowitsch, die Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko und die Vorsitzenden der Sozialisten und Kommunisten, um über einen neuen Wahltermin zu beraten. Nach siebenstündigen Gesprächen traten um 3 Uhr morgens Mitteleuropäischer Zeit die Kontrahenten vor die Presse und gaben bekannt, dass man sich auf den 30. September als Wahltermin geeinigt habe. "Die politische Krise ist beendet", sagte der ukrainische Präsident zuversichtlich. "Wir haben eine Lösung gefunden, die einen Kompromiss bedeutet."

Mit dem letzten Satz dürfte Juschtschenko Recht haben. Schon mit dem Wahltermin kamen die Rivalen einander entgegen und trafen sich terminlich in der Mitte. Und durch die plötzlich schnelle Einigung bewiesen die Rivalen auch so etwas wie Verantwortung. Mit der Mobilisierung der Sicherheitskräfte mussten sie erkannt haben, dass sie das Land in eine gefährliche Lage gebracht haben, die nur noch durch einen Kompromiss gemindert werden kann. Aber ob diese Entscheidung tatsächlich das Ende der politischen Krise bedeutet, bleibt abzuwarten.

Vielmehr kann man in den nächsten Monaten mit einem harten Wahlkampf rechnen, bei dem sich die Fronten noch mehr verhärten. Allein schon durch die Mobilmachung von Soldaten fällt auf die Wahl und damit auf die bei der Wahl antretenden Parteien ein dunkler Schatten. Spannend dürfte auch das Ergebnis der Wahl werden. Wie schon erwähnt, droht den jetzigen Koalitionspartnern von Janukowitsch’ "Partei der Regionen" (www.partyofregions.org.ua) eine herbe Niederlage. Den Sozialisten wird vorausgesagt, den Wiedereinzug in die Werchowna Rada nicht zu schaffen, den Kommunisten dagegen viele Mandatsverluste. Wie eine mögliche Regierung aber dann aussehen soll, ist fraglich. Nach den Geschehnissen der letzten Wochen erscheint es fast unmöglich, dass zum Beispiel eine Regierung aus Unsere Ukraine und "Partei der Regionen" funktionieren kann. Die Gräben zwischen den Kontrahenten sind einfach zu tief.

Dabei bräuchte die Ukraine dringend eine arbeitsfähige Regierung. Schon die Orangene Revolution zeigte, wie gespalten das Land zwischen der nach Russland orientierten Ostukraine und dem nach Westen blickenden restlichem Teil des Landes ist. Eine Spaltung, die in den Jahren seit der Revolution und erst Recht durch die Entwicklung der letzten acht Wochen noch tiefer wurde.

Doch ob die Ostukrainer sich beispielsweise mit einer Regierung ohne einen Ministerpräsidenten Janukowitsch anfreunden, bleibt abzuwarten. Vielmehr dürften sie im Hinterkopf haben, dass ihr Held nur durch einen Erlass und die Mobilmachung von Soldaten aus dem Amt gejagt wurde. Das einzige, was schon heute nur mit Sicherheit gesagt werden kann, ist, dass sich in den letzten Wochen keiner der Beteiligten mit Ruhm bekleckert hat und dass die Ukraine dringend neue politische Köpfe braucht. Aber dass diese aus den vorgezogenen Wahlen hervorgehen, ist sehr unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist eher eine nächste politische Krise, die spätestens nach dem 30. September wieder auf die Ukraine zukommen könnte.