Staat versus Bürger: Wer ist eigentlich der Staat?

Bundesadler an einer Wand vor blauem Himmel

Bild: Christian Lue /unsplash

Wie die unscharfe Definition von Staat in der politischen Debatte zu Missverständnissen führen kann. Analyse der politischen Rhetorik.

Auf die Frage, was gegen Gewalt in Schwimmbädern zu tun sei, antwortete Bundeskanzler Olaf Scholz bei einer Pressekonferenz: "Man muss immer dafür sorgen, dass ganz schnell klar wird, dass wir als Staat das nicht dulden."

Wer empört sich konkret über wen?

Ähnliches ist oft zu vernehmen: Der Staat solle Härte zeigen, der Staat müsse sich kümmern, der Staat dürfe sich irgendetwas nicht bieten lassen. Doch wer genau sollte da tätig werden? Wer empört sich konkret über wen?

Ein Staat ist "eine Vereinigung vieler Menschen, die (freiwillig) in einem bestimmten, abgegrenzten Gebiet leben", schreibt die Bundeszentrale für politische Bildung. Die drei Staatsgewalten sind Legislative, Exekutive und Judikative.

Da sie voneinander abhängig sind, sich aber auch gegenseitig kontrollieren sollen, ist es relevant zu präzisieren, wen davon man meint. Verantwortung tragen wir letztlich alle gemeinsam, mit den Worten des Grundgesetzes: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus."

Politiker: "Wir als Staat"

Politiker sprechen nicht selten von sich selbst als Staat. Scholz sagte beispielsweise dem Spiegel zum Thema Abschiebung: "Natürlich haben wir als Staat das Recht zu definieren, wen wir hier aufnehmen wollen."

Wer genau darf das definieren? Er als Bundeskanzler? Das Parlament als Gesetzgeber? Oder die Bürger in ihrer Gesamtheit, im freien Meinungsaustausch? In einer Demokratie sollte es nicht sophistisch erscheinen, hier sprachliche Exaktheit zu fordern. Denn es geht jeweils um die Frage, wer in welcher Form am demokratischen Aushandeln beteiligt ist.

Als Staat und zugleich Bürger sah Scholz sich am 15. November 2023, als er im Bundestag sagte:

Zunächst mal ist ganz klar, dass wir als Staat die Aufgabe haben, Jüdinnen und Juden und auch jüdische Einrichtungen in Deutschland zu beschützen. (...)

Das ist eine Aufgabe, die klare Gesetze, aber vor allem auch von uns als Bürgerinnen und Bürger verlangt, dass wir uns selbst mit angegriffen fühlen, wenn jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger angegriffen werden, dass wir uns gemeinsam verteidigen gegen diejenigen, die antisemitische Taten und auch Aggressionshandlungen begehen. Es ist eine Bürgerpflicht, hier zusammenzustehen.

Bundeskanzler Olaf Scholz

"Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates"

Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat im April 2021 den Phänomenbereich "verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" eingeführt. Entsprechende Akteure "machen demokratische Entscheidungsprozesse und Institutionen verächtlich oder rufen dazu auf, behördliche oder gerichtliche Anordnungen und Entscheidungen zu ignorieren", wie es im Verfassungsschutzbericht für 2022 heißt.

Auch hier sollte das Abstraktum "Staat" konkretisiert werden. Schließlich handeln überall Menschen, unter von Menschen gesetzten Regeln. Beleidigung ist bereits verboten, Verleumdung ebenso, und natürlich der Aufruf zu Straftaten.

Ein legales Verächtlichmachen konkret von Politikern können wir hingegen regelmäßig öffentlich beobachten: Bei hitzigen Debatte im Bundestag, in denen sich Repräsentanten des Staates gegenseitig Unfähigkeit vorwerfen. Wer delegitimiert hier wen?

Wer soll vor wem geschützt werden?

Anschaulich macht das Problem der auf historischen Tatsachen beruhende Spielfilm "Der Staat gegen Fritz Bauer". Darin ermittelt der Frankfurter Staatsanwalt Bauer gegen den NS-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann, allerdings gegen den deutlichen Widerstand anderer Beamter und Politiker.

Verschiedene Staatsvertreter bekämpfen sich bzw. ihre Arbeit gegenseitig, auch mit unlauteren Mitteln. "Der Staat" sind hier wie immer nur einzelne Menschen.

Wer genau soll also vor wem geschützt werden? "Der Staat" vor "seinen Bürgern", das klänge wohl doch etwas sehr aus der Zeit gefallen. Wenn wir alle gemeinsam "den Staat" bilden, dann kann es diesen Dualismus nicht geben.

Sprachliche Genauigkeit mag mühsam sein. Aber sie würde uns allen helfen, zu wissen, über wen und was wir reden, wer von wem etwas möchte. Das sollte nicht verschleiert werden.

Sehr vermissen ließ Wirtschaftsminister Robert Habeck diese Genauigkeit, als er in einer Videoansprache behauptete, - Zitat - "dass wir als Staat die EEG-Umlage bezahlen und nicht die Bürgerinnen und Bürger." Wer hatte da die Spendierhosen an?

Kritische Begleitung

Ein Parlament kann etwas mit Mehrheit beschließen, der Bundeskanzler kann ein Machtwort in seiner Regierung sprechen, Gerichte müssen Einzelfälle auf Grundlage des geltenden Rechts entscheiden. Wir, die an keiner dieser drei Säulen Legislative, Exekutive und Judikative mitarbeiten, haben die Aufgabe, deren Wirken kritisch zu begleiten und ggf. notwendig erscheinende Änderungen zu diskutieren.

Davon sind übrigens auch Verfassungsänderungen nicht ausgenommen: Das Grundgesetz wurde seit seinem Inkrafttreten 1949 bisher über 60-mal geändert, zum Teil ganz erheblich, man denke an die Gründung der Bundeswehr 1956 oder weitreichende Änderungen des Asylrechts 1992.

Dass in einer Demokratie nur wir alle der Staat sein können, wird vor allem betont, wenn es um (angebliche) Bürgerpflichten geht, etwa bei der Wiedereinsetzung des Kriegsdienstes.

Bei Entscheidungen hingegen sehen sich nicht nur Politiker viel zu oft alleine als Staat - auch im allgemeinen Sprachgebrauch wird dem Bürger gerne ein abstrakter Staat gegenübergestellt, was nicht nur Verantwortlichkeiten verschleiert, sondern auch das Spekulieren über die tatsächlich wirkenden Kräfte befeuert.

Der Staat kann weder lesen noch schreiben noch rechnen

Rudolf Augsteins Leitspruch wird im Journalismus weit überwiegend geteilt: "sagen, was ist". Es ist die Kurzformel der in jedem Lehrbuch beschriebenen sieben W-Fragen: Wer? Was? Wo? Wann? Wie? Warum? Woher?

Dabei kann die Frage nach dem Wer nie sinnvoll mit "der Staat" beantwortet werden. Der Staat kann weder lesen noch schreiben noch rechnen, keine Steuern eintreiben und kein Geld ausgeben. Das machen Menschen. Und wo sie nicht einzeln namentlich zu benennen sind, müssen diese Menschen wenigstens als möglichst konkrete Gruppe oder einzelne Funktionsträger beschrieben werden.

Der Staat jedenfalls hat nichts zu wollen. Und selbst wenn wir uns noch so sehr wünschen würden: Er bezahlt auch nichts, auch nicht die EEG-Umlage.