Staaten im Gefangenendilemma

Ansätze zu einer alternativen Steuerpolitik

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wegen des beschränkten Rahmens konnten im ersten Teil (Nachfrageschwund durch wachsende Ungleichheit) nicht alle Argumente und Fakten berücksichtigt werden, die den vorgestellten wirtschaftstheoretischen Ansatz stützen, der zu einer neuen Interpretation des "tendenziellen Falls der Profitrate" führt, der durch Quantitative Easing und Niedrigzinspolitik hinausgeschoben wird. Auch sind manche Themen nur gestreift worden. So sollen an dieser Stelle einige Aspekte aufgegriffen und vertieft werden, um zum besseren Verständnis beizutragen.

Zu Beginn sei der Ausgangspunkt nochmals kurz skizziert. Im Zentrum der Betrachtung steht die Verwendung finanzieller Mittel bei öffentlichen und privaten Haushalten. Dabei wird untersucht, zu welchen Anteilen sie in den Konsum und in Kapitalanlagen fließen.

Privathaushalte der mittleren und unteren Einkommensklassen geben ihr Geld vorwiegend für Konsumzwecke aus. Dasselbe gilt für gesellschaftliche Organisationen (Vereine, Verbände, Stiftungen) und für öffentliche Haushalte. Je höher die Einkünfte sind, desto größer ist der Betrag, der gespart werden kann. Gelingt es sogar, Konsumbedürfnisse maximal zu befriedigen, bleiben zwangsläufig Finanzmittel übrig. Diese werden allgemein gewinnbringend angelegt. Nun verursachen wachsende Einkommensunterschiede Veränderungen beim Einsatz der Mittel. So sinken relativ die Ausgaben für Konsumgüter, während jener Anteil überproportional steigt, der in Kapitalanlagen strebt.

Geldhortung oder Anlagenotstand

In Situationen wirtschaftlicher Unsicherheit erhöht sich allgemein die Liquiditätspräferenz, da Kapitalanleger zum einen Risiken meiden und zum anderen günstige Einstiegskurse abwarten. Theoretisch können sie ihr Geld aber auch horten, um durch eine Verknappung das Zinsniveau in die Höhe zu treiben. Auf diese Annahme gründet sich sowohl Silvio Gesells Freiwirtschaftslehre als auch die Wirtschaftstheorie von John Maynard Keynes.

Aber ist diese Vermutung berechtigt? Drückt sich in der mangelnden Bereitschaft zu produktivem Kapitaleinsatz nicht vielmehr aus, dass ein Limit für rentable Investitionen erreicht wurde? Bei dem Vorwurf einer gezielten Geldverknappung wird von einer stillschweigenden Allianz aller Geldbesitzer ausgegangen. Da dies recht viele sind, die zudem unterschiedlichen Kulturkreisen angehören, ließe sich eine derartige Übereinkunft nur schwerlich herbeiführen. Tauchten neue lukrative Anlageobjekte auf, dann könnte mit hoher Gewissheit angenommen werden, dass sich eine Schar von Interessenten darauf stürzen würde. Je mehr liquide Mittel zurückgehalten würden, desto größer wäre der Andrang.

So erscheint die hier vertretene These doch plausibler, dass die geringe Investitionsbereitschaft dem Mangel an Anlagemöglichkeiten geschuldet ist. Als Ursache wird das Zurückbleiben der Konsumnachfrage identifiziert, welches seinerseits auf wachsender Ungleichheit beruht. Ist ein solcher Zustand erst einmal erreicht, dann treten weitere Mechanismen hinzu, die den Druck auf die Konsumentenseite verstärken und deren Einkünfte schließlich absolut sinken lassen.

Die Annäherung an die Obergrenze für einen gewinnbringenden Kapitaleinsatz erfolgt auf doppelte Weise, zum einen durch den Rückgang rentabler Investitionsprojekte und zum anderen durch den Anstieg anlagesuchender Geldmittel. Angesichts der Globalisierung der Kapitalströme bieten sich zuweilen noch Ausweichmöglichkeiten, zumal da ein Anlagenotstand erst einmal örtlich begrenzt ist. Die Tatsache aber, dass Anleger mittlerweile bereit sind, Staatsanleihen trotz Negativzinsen zu erwerben, ist ein nicht zu übersehendes Alarmzeichen.

Das Gefangenendilemma als Erklärungsmodell

Die zentrale Aufgabe von Staaten und Gemeinden besteht in der Bereitstellung von Leistungen im Interesse der Privathaushalte. Dies erfordert neben gewissen materiellen und organisatorischen Grundlagen sowie einem rechtlichen und sicherheitspolitischen Rahmen auch Eingriffe in wirtschaftliche Belange. Kann dann nicht möglicherweise eine Begünstigung von Privatwirtschaft und Großverdienern die Bedingungen für die Erfüllung gesellschaftlicher Aufgaben verbessern?

Davon sind viele politische Entscheidungsträger überzeugt, wenn auch der Einfluss von Lobbyisten und der Druck vermeintlicher Sachzwänge nicht zu unterschätzen sind. Über eine höhere Wettbewerbsfähigkeit heimischer Unternehmen und einen verstärkten Zufluss ausländischen Kapitals sollen ein beschleunigtes Wirtschaftswachstum, eine Zunahme der Beschäftigung und ein höheres Steueraufkommen erzielt werden.

Das Gefangenendilemma veranschaulicht, dass die Erwartungen in der Regel nicht nur enttäuscht werden, sondern die Politik sich vielmehr einen Bärendienst erweist.

Im Gefangenendilemma werden zwei Gefangene getrennt verhört. Gesteht nur einer von beiden die Tat, dann geht er gemäß der Kronzeugenregelung straffrei aus, während der andere zu fünf Jahren Haft verurteilt wird. Geben beide die Tat zu, dann erwartet sie angesichts ihrer Geständnisbereitschaft eine verminderte Haftstrafe von drei Jahren. Leugnen aber beide die Tat, dann müssen sie für minimale Delikte nur ein Jahr ins Gefängnis. Unabhängig davon, ob der andere gesteht oder nicht, ist es für jeden offensichtlich vorteilhaft, die Tat zuzugeben, da er andernfalls eine höhere Strafe erhalten würde (fünf statt drei bzw. ein statt null Jahre). Optimal wäre allerdings die Alternative, dass beide die Tat abgestritten hätten.

Auf Staaten angewandt soll eine Regierung betrachtet werden, die alle Hebel in Bewegung setzt, um einheimische Produzenten zu stärken und ausländische Investoren sowie Großsteuerzahler anzulocken. Die zu erbringenden Opfer sollen sich in einem überschaubaren Zeitraum auszahlen. Wenn andere Länder nicht mitziehen, dann geht die Rechnung tatsächlich auf. Aber auch für den Fall, dass anderswo vergleichbare Maßnahmen beschlossen werden, steht unsere Regierung besser da, als wenn sie untätig geblieben wäre.

Da sich aber alle Staaten in derselben Lage befinden, wird jede Regierung folgerichtig eine ähnlich gelagerte Wirtschaftspolitik betreiben. In diesem Fall kann aber kein Staat Vorteile erlangen. Alle erleiden Verluste im Umfang der gewährten Vergünstigungen.

Fortdauernder Nachfrageüberhang auf dem Kapitalmarkt

Der fortgesetzte Zustrom von Finanzmitteln auf den Kapitalmarkt führt zu einer Diskrepanz von Angebot und Nachfrage. Es entsteht ein Nachfrageüberhang, der Anbieter begünstigt und die Werte und Kurse der Anlageobjekte steigen lässt. Aber vollzieht sich nicht im Zuge des Handels mit Wertpapieren und -gegenständen eine Korrektur?

Hierbei ist von zentraler Bedeutung, was der Verkäufer mit den erlangten Geldmitteln macht. Wird der Betrag für Konsumgüter verwendet, dann sinkt im Anlagebereich die Nachfrage und nähert sich dem Angebot. Dasselbe trifft zu, wenn sich eine Rentenversicherungsanstalt durch Veräußerung von Wertpapieren Mittel für die Auszahlung von Renten beschafft.

Allerdings befindet sich der größte Teil des Anlagevermögens bei begüterten Haushalten und Fonds, die den Verkaufserlös meist umgehend für anderweitige gewinnträchtige Objekte einsetzen. Damit bleibt aber die Angebot-Nachfrage-Konstellation unverändert. Zudem sind Rentenversicherungen wie auch betriebliche und private Altersversorger eher genötigt, ihren Anlagebestand aufzustocken.

Einen bedeutenden Einfluss auf Bewegungen am Kapitalmarkt hat die Offenmarktpolitik der Zentralbanken. Durch den Verkauf von Wertpapieren im großen Stil kann die Nachfrage nach Kapitalanlagen zu einem erheblichen Teil befriedigt werden. Die stattfindende Korrektur geht in der Regel mit Wert- und Kurseinbrüchen einher. Bislang sind die großen Zentralbanken jedoch eher als Käufer von Wertpapieren aufgetreten, wie der hohe Zuwachs der Bilanzsummen offenbart.

Überlegungen zu einer Umverteilung der Einkommen

Mithilfe von Quantitive Easing und Niedrigzinspolitik lassen sich zwar ein Rückgang der Konsumnachfrage und ein damit drohender wirtschaftlicher Zusammenbruch verhindern. Dennoch besteht allgemein Konsens, dass es sich nur um eine zeitlich begrenzte Maßnahme der Zentralbanken handeln kann. Sollte die Verschuldung der führenden Industriestaaten letztendlich ausufern, dann würde das Vertrauen in das Währungssystem nachhaltig erschüttert werden. Die Folgen wären schwer abzuschätzen.

Augenscheinlich verbleibt als einzige Alternative die Umverteilung der Einkommen. Ein optimales Resultat wird erreicht, wenn die Konsumentenhaushalte gerade so viel Mittel erhalten, dass der Konsumgütermarkt geräumt wird. Zugleich müssen sich die Einkommen potentieller Kapitalanleger auf einem solchen Niveau befinden, dass der nicht konsumierte Teil rentabel investiert werden kann. Die Konsumentenseite bräuchte sich dann nicht übermäßig verschulden, und für anlagesuchende Finanzmittel wären ausreichend lukrative Objekte vorhanden.

Die Umverteilung im hier beschriebenen Sinn ist jedoch kein Allheilmittel. Zu folgenden Aufgaben nimmt sie keine Stellung, sodass es hierfür eigens einer gesellschaftlichen Konsensfindung bedarf:

  1. die Verteilung der Einkommen innerhalb der Konsumentenschaft
  2. Entscheidungen über aktuellen Konsumverzicht zugunsten künftig höheren Konsums
  3. die Berücksichtigung von sozialen, regionalen und Umweltfaktoren bei Produktion und Konsum.

Die Höhe der Konsumenteneinkommen kann sich an Leistungs- oder sozialen Zielmarken orientieren. Meist besteht eine Kombination aus beiden, die kulturelle, historische und regionale Momente berücksichtigt. Ebenfalls ist zu klären, auf welche Art und in welchem Umfang öffentliche Institutionen bei der Befriedigung von Konsumbedürfnissen eingeschaltet werden.

Wie einem Privathaushalt bietet sich auch dem Staat die Möglichkeit, Konsumausgaben einzuschränken und dadurch Voraussetzungen für künftig schneller wachsenden Wohlstand zu schaffen. Die erforderlichen Investitionen können in Eigenregie geschehen, aber ebenso durch Förderung von Privatunternehmen. Der entscheidende Unterschied zur gegenwärtigen Lage ist die Zielvorgabe einer Erhöhung der Konsumenteneinkommen zu einem späteren Zeitpunkt. Davon profitieren auch die Produzenten, da deren Absatzrisiko nicht steigt, obwohl sie einen höheren Verkaufswert zu realisieren haben.

Bei der Berücksichtigung von sozialen, regionalen und Umweltfaktoren kann in der bisherigen Weise fortgefahren werden. Die Rahmenbedingungen würden sich indessen erheblich verbessern. Finanzierungen wären gesicherter, gesetzliche Vorschriften ließen sich leichter durchsetzen und dem Druck der Wirtschaftsverbände könnte eher widerstanden werden.

Zentrales staatliches Instrument der Regulierung von Einkommen ist das Steuersystem. Im Interesse einer Optimierung der Kapitalallokation könnten partiell anstelle von Gewinnen Anlagevermögen besteuert werden. Im Übrigen wären keine großen Veränderungen an der Struktur des Steuersystems erforderlich.

In der aktuellen Situation muss die Konsumentenseite gestärkt werden, was am ehesten durch eine höhere Besteuerung von Kapitalerträgen und Vermögen erreicht werden kann. Dies gelingt aber nur, wenn Kapital- und Steuerflucht wirksam unterbunden werden. Anzustreben wäre ein globales Regelsystem, dem sich zumindest die OECD-Staaten und die größeren Schwellenländer unterwerfen. Dies schließt eine effektive Überwachung und die Möglichkeit der Verhängung von Sanktionen ein. Steueroasen sollten der Vergangenheit angehören.

Von einer optimalen Verteilung der Einkommen würden nicht nur Konsumentenhaushalte profitieren. Ebenso könnten Kapitalanleger auf steigende Erträge blicken, die auf einem realen Wachstum der Wirtschaft beruhten. Allerdings wären sie in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt, da sie sich der staatlich gelenkten Einkommenspolitik unterordnen müssten. Für institutionelle Anleger, die gesellschaftliche Verpflichtungen haben, wiegt jedoch schwerer, dass sie dem Teufelskreis fallender Renditen entkommen können.