Staatlich geprüfter Rechtsextremismus?

Warum die NPD-Entscheidung mutig, aber gefährlich ist

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Die Entscheidung ist da: Das Bundesverfassungsgericht verbietet die NPD nicht. Was sind die Gründe dafür? Welche Konsequenzen hat das? Und was kann man daraus lernen? Das sind die Fragen, die sich jetzt stellen.

Verfassungsfeindlich, aber nicht gefährlich

Warum wird die NPD nicht verboten? Sie ist - das ist kein Geheimnis - offen antidemokratisch, nationalistisch, antisemitisch und rassistisch. Dafür haben dem Gericht viele Beweise vorgelegen. Extremismusforscher haben weitgehende Parallelen zwischen dem NPD-Parteiprogramm und der Programmatik der NSDAP festgestellt. Von "Wesensverwandtschaft" war die Rede.

Karlsruhe hat das auch nicht bezweifelt. Im Gegenteil: Das politische Konzept der NPD missachtet die Menschenwürde und ist mit dem Demokratieprinzip unvereinbar, sagt es ausdrücklich in der Begründung seiner Entscheidung.

Eine freiheitliche Demokratie muss aber ihre Feinde aushalten. Deshalb reichen ein Parteiprogramm, das - wie aggressiv auch immer - den Grundwerten der Verfassung widerspricht, und eine verfassungswidrige praktische Politik nicht für ein Parteienverbot. Art. 21 des Grundgesetzes sieht eine zusätzliche Voraussetzung vor. Eine politische Partei kann nur verboten werden, wenn sie auch das Potential hat, die Politik zu beeinflussen und die demokratische Ordnung in Deutschland zu gefährden.

Im Kern lässt sich das umfangreiche Urteil des Karlsruher Gerichts auf ein entscheidendes Grundargument reduzieren. Die NPD ist zwar demokratiefeindlich, rassistisch, antisemitisch und nationalistisch. Sie ist aber politisch unbedeutend und ungefährlich und kann deshalb - das sagt die Verfassung - nicht verboten werden.

Hohe Hürden für ein Verbot

Das Grundgesetz macht es ganz bewusst sehr schwierig, eine politische Partei zu verbieten. Aus Sicht der Verfassung sind Parteien für die deutsche Demokratie und den demokratischen Prozess sehr wichtig. Sie werden deshalb privilegiert und besonders geschützt. Ein Verbot, das gravierende juristische und finanzielle Folgen hat, kann verfassungsrechtlich nur die absolute Ausnahme sein. Parteiverbote dürfen kein Mittel sein, um politische Gegner mundtot zu machen. Die hohen Hürden für ein Parteienverbot sind nicht zuletzt eine Reaktion auf die Erfahrungen der Nazizeit, in der missliebige Parteien vom Regime einfach verboten und aufgelöst wurden.

Das ist nicht nur die Rechtslage in Deutschland. Auch die europäische Menschenrechtskonvention schützt politische Parteien sehr weitgehend. In einem Präzedenzfall hat sich der europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2003 ebenfalls mit der Frage befasst, wann eine politische Partei verboten werden darf. Er hat betont, dass ein Parteiverbot nur ausnahmsweise in besonders schwerwiegenden Fällen denkbar ist. Es muss nachgewiesen werden, dass eine Partei eine unmittelbare Gefahr für die Demokratie bedeutet. Nur dann darf sie verboten und aufgelöst werden.

Mutiges Urteil

Das Verfassungsgericht hält die NPD nicht für gefährlich. Sie muss nach seiner Auffassung nicht mit dem scharfen Schwert des Parteienverbots bekämpft werden. Die Partei hat weniger als 6000 Mitglieder. Ihre rudimentären Strukturen sind wenig effektiv. Sie ist weder in den Landtagen noch im Bundestag vertreten. Ihre Finanzen sind zerrüttet. Ihre Wahlergebnisse sind äußerst bescheiden. Das spricht sicher dafür, dass die NPD aktuell kein Potenzial hat, um die demokratische Ordnung zu gefährden.

In der freiheitlichen Demokratie ist auch Platz für extreme, irritierende, verstörende oder sogar widerwärtige Meinungen. Die demokratische Idee ist: Solche Ansichten werden mit Argumenten bekämpft. Sie sollen im Wettbewerb der Ideen entlarvt werden und deshalb bei Wahlen nur wenige Anhänger finden.

Eine juristische Auseinandersetzung über die Existenzberechtigung einer politischen Partei ist der demokratischen Idee eher fremd. Daran erinnert das Gericht die Politik und die Gesellschaft und stellt sich damit gegen den Mainstream in der öffentlichen Meinung. Extremistische Ideologien und Parteien durch Argumente und kluge Politik zu bekämpfen, ist eine Sisyphosaufgabe in der Demokratie. Das ist unbequem, vielleicht sogar riskant. Aber es ist viel wirksamer und nachhaltiger, als eine Partei durch einen Richterspruch zu verbieten.

Gefährliches Urteil

Das Bundesverfassungsgericht ist nicht nur ein Gericht. Es ist gleichzeitig ein Mitspieler auf der politischen Bühne. Sein Ansehen in der Bevölkerung ist sehr hoch. Seine Urteile haben deshalb nicht nur juristische Bedeutung. Sie entwickeln Einfluss auf die Politik und die Zivilgesellschaft. Das gilt ganz besonders für dieses Urteil.

In der Politik spielen Emotionen und Symbole eine besondere Rolle. Deshalb ist die Entscheidung des Verfassungsgerichts auch gefährlich. Dass die NPD nicht verboten wird, könnte nämlich als Ermutigung für die NPD und ihre Wähler missverstanden werden. Ob die differenzierte verfassungsjuristische Begründung des Gerichts in der emotionalen und vereinfachenden politischen Debatte in allen Nuancen richtig wahrgenommen wird, ist unsicher.

Es besteht die Gefahr, dass die NPD und ihre Anhänger die Entscheidung als "amtliches Gütesiegel" für ihre rechtsextreme Politik verstehen und vermarkten. Das kann (bürgerliche) Wählerschichten erschließen, die bisher mit ihrer Unterstützung der NPD gezögert haben. Vielleicht profitiert davon aber gar nicht die NPD, sondern die AfD und ihr starker rechtskonservativer Flügel.

In Wirklichkeit hat das Verfassungsgericht ein deutliches Signal gesetzt: Die Demokratie in Deutschland ist stark. Das war 1956 noch anders, als die KPD verboten wurde. Deutschland war damals noch keine gefestigte Demokratie. Die Gefahr, die von extremen Parteien ausging, war größer. Das ist heute völlig anders: Extremismus kann von Politik und Gesellschaft politisch bekämpft werden. Ein juristisches Parteienverbot ist unnötig.

Prof. Dr. Dr. Volker Boehme-Neßler ist Jurist und Politikwissenschaftler an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg.