Staatsschutz-Chefin im U-Ausschuss: "Ich bitte, meine Antwort zu streichen"
- Staatsschutz-Chefin im U-Ausschuss: "Ich bitte, meine Antwort zu streichen"
- Es muss bereits in der Tatnacht eine Spurensicherung im LKW gegeben haben
- Ein Rätsel bleibt der gescheiterte Ausreiseversuch Amris im Sommer 2016
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Vor dem Untersuchungsgremium des Bundestags zum Anschlag auf dem Breitscheidplatz legt eine ranghohe Polizeibeamtin einen fragwürdigen Auftritt hin
Unfall oder Anschlag? Die Frage stellte sich am 19. Dezember 2016 nach der tödlichen Fahrt des Sattelschleppers über den Weihnachtsmarkt in Berlin für die Polizei nicht wirklich. Wenn im Führerhaus des LKW ein Mann erschossen aufgefunden wird und der Fahrer fehlt, kann es sich nur um eine mutwillige Tat handeln. Aber wann kursierte bei den Sicherheitsbehörden der Name Amri als möglicher Täter? Im Untersuchungsausschuss des Bundestags rückt das Anschlagsgeschehen immer mehr in den Mittelpunkt. Nicht nur, weil viele Fragen ungeklärt sind, vor allem, weil viele Antworten von Offiziellen widersprüchlich und unglaubwürdig sind.
In dieses Bild passte jetzt der Auftritt der früheren Berliner Staatsschutz-Chefin im Bundestag. Im U-Ausschuss des Abgeordnetenhauses von Berlin war Jutta Porzucek bereits vor zwei Jahren als Zeugin vernommen worden. Damals gab es den Ausschuss im Bundestag noch nicht. Die Beamtin ist inzwischen innerhalb der Polizei zur Leiterin einer Polizeidirektion aufgestiegen. Doch auch die Abgeordneten verfügen mittlerweile über einen soliden Wissensstand und müssen nicht mehr einfach glauben, was man ihnen amtlicherseits erzählt.
2016 war Porzuceks Abteilung im Landeskriminalamt (LKA) zuständig für gewaltbereite dschihadistische Anhänger, unter ihnen die Tunesier Anis Amri, Bilel Ben Ammar oder Habib Selim. Amri gilt offiziell als der alleinige Attentäter vom Breitscheidplatz. Und diese Erkenntnis soll offiziell erst fast einen Tag später am Nachmittag des 20. Dezember festgestanden haben, als persönliche Gegenstände Amris wie Handys und Portemonnaie samt Duldungsbescheinigung im und am LKW gefunden worden sein sollen.
Unmittelbar nach dem Ereignis hatte zunächst das LKA Berlin die ersten Ermittlungen in Angriff genommen, ehe sie später vom Bundeskriminalamt und dem Generalbundesanwalt übernommen wurden. Doch schnell muss man von einem dschihadistischen Personenkreis hinter dem Anschlag ausgegangen sein. Drei Stunden nach dem Vorfall auf dem Breitscheidplatz, gegen 23 Uhr, löste das LKA die sogenannte "Maßnahme 300" aus, mit der bei polizeibekannten Islamisten Verbleibkontrollen durchgeführt und mögliche Fahndungen vorgenommen wurden. Ausgerufen hatte die Maßnahme ausgerechnet der Leiter des im Staatsschutz dafür zuständigen Islamismus-Dezernats. Glücklicher Zufall - oder doch eher begründeter Verdacht?
Dazu passt jedenfalls, dass um 1:07 Uhr in der Tatnacht die Polizei bei der radikalen Fussilet-Moschee auftauchte, in der auch Amri regelmäßig verweilte. Seltsam ist, dass dieser Einsatz nirgendwo dokumentiert wurde. Die Zeugin Porzucek musste gleich doppelt passen: Sie wusste weder von dem Einsatz, noch dass er nicht in den Protokollen auftaucht. Ihr ehemaliger Stellvertreter, der im Tatzeitraum in der LKA-Abteilung für operative Einheiten und Spezialeinsatzkommandos (Abteilung 6) arbeitete, sagte im Dezember 2019 als Zeuge vor dem Ausschuss, Fahndungsaufträge habe seine Abteilung damals nach dem Anschlag nicht bekommen.
Wer führte also diese Kontrollen durch? Eine dieser Verbleibkontrollen galt Magomed-Ali Chamagov, der vor wenigen Tagen vom Kammergericht Berlin zu einer Haftstrafe von fünf Jahren und vier Monaten verurteilt wurde, weil er einen Sprengstoffanschlag auf ein Einkaufszentrum in Berlin vorbereitet haben soll. Chamagov war jahrelang einer der führenden Köpfe in der Fussilet-Moschee und soll den Anschlag zusammen mit Clement B. und Amri geplant haben. Während für die Kontrolle in der Fussilet-Moschee zwei Beamte ausreichten, waren es bei Chamagov nicht weniger als zwölf. Warum? Weil der Islamist als besonders gefährlich galt? Achselzucken bei Jutta Porzucek auch zu diesem Vorgang.
Und was tat die Staatsschutz-Chefin damals nach dem Anschlag selber? Sie sei am 19. Dezember 2016 gegen 19 Uhr vom Dienst nach Hause gekommen, so Porzucek. Gegen 20:10 Uhr, also etwa zehn Minuten nach dem Anschlag, habe sie der Dauerdienst des Staatsschutzes darüber informiert, dass es einen Anschlag gab. Sie sei daraufhin sofort in ihr Büro am Platz der Luftbrücke zurückgekehrt, um bei der Einrichtung der "Besonderen Aufbau-Organisation" (BAO) zur Aufklärung der Tat mitzuhelfen.
"Gefühlt war es zehn Minuten später"
Klaus-Dieter Gröhler (CDU), Ausschussvorsitzender: Um 20:10 Uhr soll doch noch gar nicht vom Anschlag die Rede gewesen sein. Was ist Ihnen denn vom Lagedienst gesagt worden?
Jutta Porzucek, Zeugin: Ich bitte um Entschuldigung, dann ist diese Uhrzeit nicht belastbar. Ich wurde informiert, als mein Staatsschutz-Dauerdienst schon Kenntnis von einem Anschlag hatte. Ich bitte meine Antwort mit der Uhrzeit zu streichen, das war dann später. Gefühlt war es zehn Minuten später. Zu dem Zeitpunkt damals war noch ein Unfall möglich.
Gröhler/UA: Machte in der Berliner Polizei schon deutlich vor Auffinden der Papiere der Name Amri die Runde?
Zeugin Porzucek: Nein.
Konstantin von Notz (Bündnis 90/Die Grünen)/UA: Das erinnern Sie so konkret?
Zeugin Porzucek: Der Einwand ist richtig. Ich muss so sagen: Mir ist nicht bekannt, dass der Name Amri vermeintlich schon früher bekannt war.
Von Notz/UA: Noch einmal zurück: Wie haben Sie am 19. Dezember 2016 vom Anschlag erfahren?
Zeugin Porzucek: Durch einen Anruf des Dauerdienstes. Es habe einen Vorfall mit einem LKW auf dem Weihnachtsmarkt gegeben mit zahlreichen Toten und Verletzten. Es war noch nicht klar, ob Verkehrsunfall oder ob es andere Gründe gab. Ich bin ins Lagezentrum und habe mich sachlich informiert.
Von Notz/UA: Und dann?
Zeugin Porzucek: Ich habe mich um meine Abteilung gekümmert. In der anfänglich unstrukturierten Phase ging es mir darum, Struktur reinzubringen.
Von Notz/UA: Der Täter ist flüchtig, es gibt Tote und Verletzte. Welche Frage stellt sich da?
Zeugin Porzucek: Wie werden wir arbeitsfähig?
Von Notz/UA: Nein. Es stellt sich die Frage: "Wer war das?" Es ist Ihr Bereich! Vor allen Dingen, wenn der Täter mit einer Schusswaffe flüchtig ist. Wer hat bei Ihnen diese Frage gestellt?
Zeugin Porzucek: Weiß nicht.
Von Notz/UA: Das kaufe ich Ihnen nicht ab.
Zeugin Porzucek: Dafür hatten wir in dieser Phase keine Zeit. Wir haben uns organisiert.
Von Notz/UA: Das ist keine Antwort!
Zeugin Porzucek: ...damit wir über viele Tage und Wochen arbeiten können.
Ausschussvorsitzender Gröhler: Herr von Notz, Sie müssen die Zeugin schon ausreden lassen.
Von Notz/UA: Der Täter ist flüchtig, mit Schusswaffe. Man weiß nicht, vielleicht gibt es mehrere Täter. Wann ist diese Frage aufgelandet: "Wer war das?"
Zeugin Porzucek: Man müsste sie dem Dezernatsleiter Herrn B. und seinen Leuten stellen. Es wäre nicht sinnvoll gewesen, mir diese Frage zu stellen.
Von Notz/UA: Wem dann?
Zeugin Porzucek: Tut mir leid, dass Sie keine Vorstellung haben, was nach einem solchen Anschlag geschehen muss.
Von Notz/UA: Es ist Gefahr in Verzug. Vielleicht sind mehrere Täterteams unterwegs. Was haben Sie konkret gemacht? Mit wem haben Sie zum Beispiel telefoniert?
Zeugin Porzucek: Mit meinem Stellvertreter, mit dem LKA-Leiter, mit dem Polizeipräsidenten. In der BAO-Struktur gab es für diese Fragen Bereiche.
Von Notz/UA: Wer hat die geleitet?
Zeugin Porzucek: Der damalige Polizeiführer des Bereiches, ein Beamter des höheren Dienstes.
Von Notz/UA: Wer war das?
Zeugin Porzucek: Ich weiß nicht, ob ich das hier sagen darf.
Benjamin Strasser (FDP)/UA: Sie können den Namen ja abkürzen.
Zeugin Porzucek: Ich glaube, Herr W.
Von Notz/UA: Hatten Sie eine Funktion in der BAO zum Anschlag?
Zeugin Porzucek: Nein, hatte ich nicht.
Dafür stand direkt in der Nacht nach dem Anschlag ein ranghoher Politiker bei ihr im Büro: Christian Gaebler, damals Staatssekretär des Innensenators Andreas Geisel, heute Kanzleileiter des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller. Gaebler habe bei allen Besprechungen und Konferenzen der Polizei teilgenommen, so Porzucek.
Fritz Felgentreu (SPD)/UA: Wie stehen Sie zur Einzeltäterthese?
Zeugin Porzucek: Es steht mir nicht zu, das zu beurteilen. Ich habe zu wenige Informationen. Es wurden aber Zweifel angebracht.
Felgentreu/UA: Ihr Dezernatsleiter, Herr B., vertritt diese These nicht mehr. Können Sie ausschließen, dass Bilel Ben Ammar bei der Tat dabei war?
Zeugin Porzucek: Das kann ich nicht ausschließen.
Volker Ullrich (CSU)/UA: Wann gab es Ermittlungshandlungen im LKW?
Zeugin Porzucek: Weiß ich nicht.
Gröhler/UA: Nachdem die Duldungsbescheinigung Amris im LKW gefunden worden war, wurde die von zwei Beamten Ihrer Abteilung Staatsschutz abgeholt.
Zeugin Porzucek: Wird so gewesen sein.
Gröhler/UA: Wäre es nicht besser gewesen, den LKW vor Ort überprüfen zu lassen? Das Wegbringen verändert doch die Spurenlage.
Zeugin Porzucek: So eine Einschätzung steht mir nicht zu.