Staatsschutz-Chefin im U-Ausschuss: "Ich bitte, meine Antwort zu streichen"

Seite 3: Ein Rätsel bleibt der gescheiterte Ausreiseversuch Amris im Sommer 2016

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Der Tunesier war als Asylbewerber abgelehnt worden, musste das Land verlassen und wollte es Ende Juli 2016 offensichtlich auch. Er fuhr im Fernbus von Berlin Richtung Schweiz. Doch vor der Grenze wurde er von der Bundespolizei aus dem Bus geholt und die Ausreise untersagt. Obwohl er anschließend in Abschiebehaft genommen wurde, konnte er das Gefängnis in Ravensburg nach zwei Tagen wieder verlassen und kehrte nach Berlin zurück.

Zwei Beamtinnen der Bundespolizei, die an dem Vorgang des Ausreiseverbotes beteiligt waren, mussten jetzt als Zeuginnen vor dem Ausschuss erscheinen. Die eine war bei der Bundespolizeidirektion in Stuttgart für den Nachtentscheidungsdienst eingeteilt, die andere saß im Bundespolizeipräsidium in Potsdam.

Tatsächlich kann man davon ausgehen, dass die Bundespolizei als Grenzbehörde das Verbot gegenüber Amri verhängte. Sie bestätigt das offen. Dabei waren nahezu sämtliche Ebenen involviert. Von unten nach oben: Das Bundespolizeirevier Friedrichshafen, die Bundespolizeiinspektion Konstanz, die Bundespolizeidirektion Stuttgart und das Bundespolizeipräsidium Potsdam. Die Entscheidungskette verlief allerdings von oben nach unten. In Konstanz kam - unter Umgehung Stuttgarts - die Anweisung aus Potsdam an, Amri sei die "Ausreise unbedingt zu untersagen".

Unklar bleiben die Hintergründe. Die Bundespolizistin aus Potsdam, Jana S., erklärte im Ausschuss, es sei darum gegangen zu verhindern, dass Amri ins IS-Kriegsgebiet reise. Man habe die Ausreiseuntersagung aber formal damit begründet, dass er keine gültigen Dokumente für die Einreise in die Schweiz gehabt habe. Die Grenzpolizei fand bei ihm zwei gefälschte italienische ID-Papiere.

Doch gegen Ende ihrer Befragung erwähnte sie eher beiläufig, dass die Begründung des Ausreiseverbotes mit den fehlenden Dokumenten vorgenommen wurde, weil man sonst das "Verfahren hätte offenlegen" müssen, das "zu dem Zeitpunkt noch geheim" war. Um welches Verfahren ging es? Und wer hatte die Bundespolizei darüber informiert? Das wurde in der Zeugenvernehmung nicht mehr deutlich.

Aus dem Abu Walaa-Verfahren der Bundesanwaltschaft (BAW) war Amri längst abgezogen worden. Das sogenannte Kalaschnikow-Verfahren der Generalstaatsanwaltschaft Berlin im Auftrag der BAW (Raubüberfall, um an Geld zu kommen und damit wiederum einen Anschlag vorbereiten zu können) war ein leeres Verfahren ohne Substanz. Wer oder was sollte also vor Aufdeckung geschützt werden? Der so irrationale Vorgang an der deutsch-schweizerischen Grenze scheint jedenfalls einen handfesten Hintergrund im Sicherheitsapparat zu haben.

Unter Ausschluss der Öffentlichkeit wurde schließlich noch ein Vertreter des Bundesnachrichtendienstes (BND) vernommen, Regierungsdirektor M.S. Dabei ging es um vier Videos, von denen drei Amri zeigen und eines den späteren Tatort Breitscheidplatz. Die Videos wurden vor dem Anschlag Ende November und Anfang Dezember 2016 aufgenommen. Der BND soll sie nach dem Anschlag Ende Dezember 2016 von einem ausländischen Nachrichtendienst erhalten haben. Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und das Bundeskriminalamt (BKA) sowie die Bundesregierung wussten seit spätestens März 2017 davon, nicht dagegen die Bundesanwaltschaft. Der Untersuchungsausschuss des Bundestags erfuhr erst im Oktober und im November 2019 von den Aufnahmen (Noch ein Video und noch ein Video). 9