Statt Informationen nur Breaking News

Die alternative Berichterstattung zum 1. Mai fand fast nicht statt

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Glaubt man dem Korrespondenten der Agentur Reuters, dann probten am gestrigen 1. Mai in Berlin unauffällige Bürger mit ihren Kindern den Aufstand. Kurz nachdem es auf dem Mariannenplatz in Kreuzberg zu Auseinandersetzungen gekommen war, meldete die Agentur nämlich: "Die Angreifer, darunter auch gut gekleidete Bürger und Kinder, stürzten mehrere Autos um und zündeten ein Fahrzeug an. Sie lösten Pflastersteine aus den Straßen, um die Polizei in immer neuen Wellen anzugreifen. Zudem demolierten sie Marktstände, zündeten sie an und nutzten Stangen als Knüppel."

Gründe für diesen vermeintlichen Kinderaufstand wurden allerdings vornehm verschwiegen, die konnte man dann am Morgen danach in der Berliner Zeitung nachlesen, wo aus den Randale-Kids flüchtende Kinder wurden:

"Zunächst war es ein friedliches Familienfest. Rund 5 000 Personen feierten auf dem Mariannenplatz. Am Abend allerdings sah der Platz fast aus wie im Bürgerkrieg - ausgebrannte Autos, verkohlte Barrikaden, aufgerissene Gehsteige, überall Pflastersteine. 200 Personen, teilweise vermummte Steinewerfer, teilweise erlebnishungrige Jugendliche, waren auf dem Platz eingekesselt, ringsum hunderte Polizisten, ein Dutzend Wasserwerfer.
Begonnen hat die Eskalation der Gewalt gegen 18 Uhr. Nach Informationen der "Berliner Zeitung" stürmte die 23. Einsatzhundertschaft der Berliner Polizei den Platz, obwohl dort noch kleine Kinder spielten. Diese Hundertschaft gilt als "die erfahrenste Einheit bei Demonstrationen". Sie war auch schon mal bei einem Einsatz in Gorleben in die Kritik geraten. Einige Mütter flüchteten mit ihren Kindern ins Künstlerhaus Bethanien, wo sie noch Stunden später festsaßen. Die Polizisten stürmten den Platz, weil sich linke Autonome und Randalierer unter die Feiernden gemischt hatten. Zuvor waren diese Chaoten bei zwei friedlich verlaufenden Demonstrationen in Kreuzberg mitmarschiert. (...)"

Ähnlich informative Berichte hätte man eigentlich auch vom Infodienst Indymedia erwartet. Schließlich hatte im vergangenen Jahr anlässlich der Anti-Expo-Demonstrationen in Hannover die Chaos-Tage-Legende Karl Nagel mit einem Netz-Newsticker vorgemacht, welche Möglichkeiten für alternative Berichterstattung im Internet stecken. Doch diesmal wurden diejenigen, die sich übers Netz "alternativ" informieren wollten, auf der Indymedia-Netzseite mit so genannten Breaking News abgespeist.

Das las sich dann so:

BREAKING NEWS
01.05.2001 19:06 + Marianenplatz geräumt. Barrikaden an der Köpenicker Straße. In der Naunystraße brennt eine Barrikade. +++ 01.05.2001 18:47 + Sturm auf Straßenfest ohne Vorwarnung. Kinderhüpfburg von Wasserwerfer angegriffen!!! Anwohner werden verhaftet. Die ersten Barrikaden werden errichtet. +++ 01.05.2001 18:11 + Polizei greift jetzt grundlos friedliches Straßenfest am Mariannenplatz an. Wasserwerfer, Knüppelorgien, Menschen rennen in Panik überall hin. +++ 01.05.2001 18:05 + Massives Polizeiaufgebot bewegt sich bewaffnet Richtung friedliches Straßenfest am Mariannenplatz

Statt Leute vor Ort berichten zu lassen, gab es also bis weit in die Nacht hinein nur wenig aussagefähige Schlagzeilen, und erst Stunden später, als der letzte Stein geworfen und der letzte der insgesamt 600 verhafteten Demonstranten in Gewahrsam war, folgten bei Indymedia die ersten längeren Augenzeugenberichte. Eine verpasste Chance!

Genauso wenig überzeugte die vorab als fast live angekündigte Übertragung der Ereignisse auf der Netzseite der Videogruppe www.kanalB.de. Auch hier setzte man auf Clip-Journalismus der eher dürftigen Art, also auf Videoclips von maximal zweiminütiger Länge, die zudem recht willkürlich ausgewählt wirkten und den Ereignissen stets Stunden hinterherhinkten.

Und wer das Bedürfnis verspürte, Live-Bilder von den Krawallen zu sehen, der wurde an diesem 1.Mai von den klassischen TV-Sendern tatsächlich besser bedient. Auch wenn man nicht alles glauben durfte, was dort gesagt und gezeigt wurde. Aber wer tut das schon?