Steinmeier: "Es sind zu viele, die sich wohlfühlen im Schlechtreden unseres Landes"

Bundespräsident Frank Walter Steinmeier bei seinem Antrittsbesuch in Rheinland-Pfalz am 20.3.2018. Frank_Walter_Steinmeier-_Antrittsbesuch_in_Rheinland-Pfalz_-_Kulturwerk_Wissen.jpg:Bild: Bodow/CC BY-SA-4.0

Eine Auseinandersetzung mit der Eröffnungsrede des Bundespräsidenten im Rahmen der Aktion "Deutschland spricht"

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Als Schirmherr der Aktion "Deutschland spricht" hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einer Grundsatzrede sein Wort an die Bürger im Land gerichtet - am Sonntag vor 600 handverlesenen Gästen in Berlin. Der Grad an politischer Ignoranz, der in seinen Worten zum Ausdruck kommt, zeigt unfreiwillig, wie tief die Gräben in unserer Gesellschaft sind, die Politik von vielen Bürgern trennen trennt.

Der Bundespräsident hat eine Rede gehalten, die zwar wunderbar den Erwartungshorizont jener Medienelite bedient, die die Aktion initiiert und unterstützt hat, die aber zugleich meilenweit von einer Erfassung der Wirklichkeit, wie sie außerhalb des politischen und medialen Berlins existiert, entfernt ist. Eine Analyse.

Am Sonntag war es soweit: Bürger, die völlig unterschiedlicher Auffassung zu einem Thema sind, trafen sich in allen Teilen Deutschlands, um miteinander zu diskutieren. So wollten es die Initiatoren des Projektes "Deutschlands spricht", hinter dem neben Zeit Online zahlreiche weitere große Medien stehen. Der Grund für die Aktion: die Spaltung unserer Gesellschaft. So sehr man es sicherlich begrüßen darf, wenn Menschen mit unterschiedlichen Ansichten zusammenkommen und bereit sind, ihr Gegenüber anzuhören und mit ihm konstruktiv zu diskutieren, so sehr gilt es, das Projekt mit einiger Skepsis zu betrachten.

Schließlich: Was ist davon zu halten, wenn diejenigen, die selbst maßgeblich zur Spaltung der Gesellschaft beigetragen haben, den Fokus sehr geschickt von ihrem Verhalten weglenken, um jene ins Zentrum zu rücken, die für die Ursachen der schweren Verwerfungen im Land nicht verantwortlich sind? Wer das Projekt "Deutschland spricht" genauer betrachtet, wird schnell feststellen, dass hier mit viel Tamtam subtil die Bürger in die Verantwortung genommen werden, und zwar ganz so, als ob das Verhalten der Bürger nicht Symptom, sondern Ursache ist.

In der Sinnwelt des Projekts spielt es keine Rolle, dass eine über viele Jahre forcierte neoliberale Politik - wohlgemerkt unter Beifall vieler Medien - zu schwersten Schäden in Gesellschaft und konsequenterweise auch an der Demokratie geführt hat. Die Tatsache, dass viele Bürger in unserem Land - nein, nicht sich abgehängt "fühlen" - abgehängt sind und von Politik und Medien ignoriert, gedemütigt und immer wieder mit Nachdruck von abgehobenen Eliten missverstanden werden, spielt im Wirklichkeitskosmos von "Deutschland spricht" keine Rolle - was sicherlich verständlich ist. Denn dann müssten diejenigen, die sich zu Moderatoren gesellschaftlicher Spannungsverhältnisse erheben, ihr eigenes Handeln selbstkritisch reflektieren (weitere Ausführungen zu dem Projekt sind hier zu finden).

Bei einem Projekt also, das so angelegt ist, wie Deutschland spricht, durfte einiges von der Rede des Schirmherren erwartet werden. Und: Frank-Walter Steinmeier hat geliefert. Der Bundespräsident hat die Erwartungen nicht enttäuscht.

Unfreiwillig zeigt er - per Live-Stream übertragen - wie es aussieht, wenn Eliten einerseits an Bürger appellieren, aufrechte Demokraten zu sein, aber ihnen im selben Moment Grenzen setzt, die sie daran hindern, ihre demokratischen Anliegen zu artikulieren.

Vorbemerkung: Die nachfolgende Analyse ist trotz ihres Umfangs nur als Kurzanalyse zu verstehen. Vielen Aussagen, die näher betrachtet werden müssten, kann an dieser Stelle keine Aufmerksamkeit geschenkt werden, da dies den zur Verfügung stehenden Rahmen sprengen würde. Deshalb beschränkt sich die Analyse nur auf einen Teil der Rede.

Klischees und Komfortzonen

"Deutschland spricht!" Wenn ich hier in den Saal schaue, dann ist der Veranstaltungstitel wahr geworden. Ich sehe Berliner und Zugereiste; Frauen und Männer; Junge und - sagen wir - Junggebliebene; Menschen unterschiedlicher Herkünfte und Lebenslagen.

Deutschland spricht - oder ich sollte besser sagen "Deutschland spricht gleich", denn erst mal gibt es Programm auf der Bühne und dann sind Sie alle dran - dieses Format mag für einige von Ihnen ein Vergnügen sein. Für viele ist es aber bestimmt auch ein Wagnis - ein echtes Experiment, für ein paar Stunden die Klischees und Komfortzonen, denen wir alle auf unterschiedliche Art und Weise anhängen, hinter uns zu lassen.

Darum geht es also: Wir (!) alle, sagt Steinmeier, haben unsere Komfortzonen, denken in Klischees. Und die sollten wir (!) hinter uns lassen. Die Frage, die sich an dieser Stelle aufdrängt, lautet: Wen meint Steinmeier mit dem Wörtchen "wir"? Ähnlich schon wie bei einem Artikel zu dem Projekt, der auf Zeit Online erschienen ist und in dem die Redaktion von "wir" gesprochen hat, signalisiert Steinmeier hier, dass er, aber auch die Projektmacher, sich selbst miteinbeziehen.

Das wäre natürlich sehr zu wünschen. Aber: Wenn Steinmeier an dieser Stelle von "Wir" spricht, sind Zweifel angebracht. Der weitere Verlauf der Rede wird zeigen, dass das "Wir" hier als ein "falscher Freund" Anwendung findet.

Deutschland spricht ist sehr bewusst ein ergebnisoffenes Format. Ich habe mich gefreut, als ich gefragt wurde, die Schirmherrschaft zu übernehmen, denn genau diese Offenheit brauchen wir: den Versuch, Gesprächspartner zusammenzubringen, die sich im sonstigen Leben vielleicht nie begegnen würden - und die sich bestimmt nicht auf diese Art Dialog einließen, weil sie in ganz unterschiedlichen Lebenswelten und Meinungsspektren unterwegs sind. Umso mehr danke ich Ihnen allen für Ihr Kommen und sage als Schirmherr: Herzlich willkommen!

Der Zuhörer erfährt: Steinmeier wurde also gefragt. Frage: Wer hat Steinmeier, wo, wann und in welchem Rahmen gefragt? Da es sich um ein Projekt handelt, das von ZEIT Online initiiert wurde, wäre es im Sinne der Transparenz nicht unwichtig, wenn Steinmeier den Bürgern ein wenig mehr Details zur Entstehung des Projektes mitteilen würde. Nicht, dass Bürger noch auf den Gedanken kommen, dass hochrangige Medienvertreter und Politiker gemeinsam zusammensitzen und überlegen, wie sie Deutschland "retten" können (siehe auch "sonderbares Treffen" zwischen Merkel und führenden Chefredakteuren).

Wie die Initiatoren und viele Teilnehmer heute hier, so treibt auch mich die Frage um, wie es um unsere Debattenkultur in Deutschland bestellt ist. Dabei geht es keineswegs um einen Selbstzweck, nicht um Knigge oder Kopfnoten. Es geht um die für unsere Demokratie grundlegende Frage, wie wir die Mauern, die zwischen unseren Lebenswelten entstanden sind, die Mauern, die dem gesellschaftlichen Zusammenhalt mittlerweile für alle spürbar im Wege stehen, überwinden können.

Steinmeier macht sich also Gedanken über die Debattenkultur in Deutschland. An dieser Stelle wäre es zwingend erforderlich, den Fokus sofort auf jene Institution zu richten, die maßgeblich Öffentlichkeit herstellt und den Raum für öffentliche Debatten bereitstellt: die Medien.

Frage: Wie ist es um die Debattenkultur der Medien bestellt? Antwort: Schlecht. Sehr schlecht. Kultur zeigen Medien reichlich (insbesondere zum Schluss des heute journals), aber Debatten? Echte Debatten (keine Simulationen) setzen nämlich voraus, dass Personen mit unterschiedlichen Positionen zu Wort kommen. Wie unter einem Brennglas zeigen die großen Polit-Talkshows, also die wichtigen Diskursplätze der Medien, wie beschnitten Debatten heute in unserer Gesellschaft sind. Sowohl Themensetzung, als auch die Gästelisten verraten, dass echte Debatten mit Akteuren, die fundamental entgegengesetzter Meinung sind, Seltenheitswert haben.

Steinmeier weiß das. Er selbst sagte 2014, er habe das Gefühl, dass der Meinungskorridor in den Medien schon einmal breiter war. "Es gibt eine erstaunliche Homogenität in deutschen Redaktionen, wenn sie Informationen gewichten und einordnen", so Steinmeier damals.