Steinmeier und das türkische Problem

Seite 2: Über Nacht kann aus einem Star ein Terrorist werden

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Das andere Gepäckstück Steinmeiers für die Reise in die Türkei wird das derzeit im Auswärtigen Amt in Vorbereitung befindliche Aktionsprogramm für verfolgte Journalisten, Wissenschaftler und Kulturschaffende zur Förderung türkischsprachiger Onlinemedien sein.

Dieses Programm soll den Verfolgten helfen, ihre Arbeit notfalls in Deutschland fortzusetzen Staatssekretär Roth hatte unlängst angekündigt, Deutschland würde sich solidarisch mit den Verfolgten zeigen. Eine nette Geste, aber den jetzt Inhaftierten oder mit Ausreiseverbot belegten Intellektuellen wird dies nicht helfen, allenfalls denjenigen, die sich schon rechtzeitig nach Deutschland absetzen konnten.

Allein 6.000 Parteimitglieder der HDP wurden laut ihrem Sprecher Ayhan Bilgen seit dem Putschversuch vom 15. Juli dieses Jahres festgenommen. .2000 davon sind immer noch in Haft.

Die Wende im Kunst- und Kulturbereich

Auch im Kunst- und Kulturbereich findet ein konservativer Umschwung statt. Dies begann schon nach den Gezi-Park-Protesten 2013. Vor wenigen Jahren galt Istanbul noch international als eine Kreativmetropole. Die Stadt war eine Drehscheibe für internationale Kuratoren, Künstler oder Kunstkritiker. Nach dem Putschversuch hat sich das Klima in der türkischen Kunst- und Kulturszene weiter verschlechtert.

Seitdem verlieren immer mehr Künstler ihren Job, werden Festivals und Ausstellungen abgesagt. Der türkische Kunstkritiker und Autor Erden Kosova berichtet über gewalttätige Angriffe auf Betreiber von Kunstgalerien und deren Besucher. Private Geldgeber, die wichtigste Stütze der türkischen Kulturszene, schrecken vor kritischen politischen Positionen zurück und stellen ihre Unterstützung ein, um nicht selbst in den Fokus der Regierung zu geraten.

Unter den Akademikern, die sich für die Wiederaufnahme des Friedensprozesses mit den Kurden einsetzten, sind mehrere Kunstprofessoren, die bereits ihren Posten verloren haben oder davon bedroht sind, darunter namhafte Mitglieder der Kunstakademie Istanbul. Ein neuer Gesetzesvorschlag im türkischen Parlament bereitet jetzt die Privatisierung von staatlichen Theatern, Opern und Kulturzentren vor.

Dadurch soll die Schaffung eines seit Jahren diskutierten unabhängigen Kulturrats verhindert werden. Berühmte Schauspieler, Musiker, oder Buchautoren - gestern noch hochgelobt, heute stehen sie vor dem "Nichts". Über Nacht kann aus einem Star ein Terrorist werden.

Füsun Demirel gehörte zu den bestbezahlten Schauspielerinnen der Türkei. Sie trat auf den großen Bühnen, in Kinofilmen und in Fernsehserien auf. Nun ist sie seit Anfang des Jahres arbeitslos. Der Grund: auf die Frage der Zeitung Cumhurriyet, welche Rolle sie gern noch spielen wolle, antwortete sie: "die Mutter einer Guerillakämpferin". Damit ist sie bei der AKP in Ungnade gefallen.

Druck auf Fernsehsender und Theater

Die AKP-treuen Medien hetzten über sie, der politische Druck auf Fernsehsender und Theater wurde so groß, dass der Fernsehsender atv ihre Rolle in einer Fernsehserie strich und sie entließ. Aus Angst, die staatliche Förderung zu verlieren, werden ihr an den großen Theaterbühnen, wo sie jahrelang aufgetreten war, keine Rollen mehr angeboten. Aus Angst vor Zensur wird sie bei Kinofilmen, die sie noch letztes Jahr gedreht hat, von den Plakaten gestrichen.

Beral Madra (76), war die Leiterin der renommierten Canakkale-Biennale, die dieses Jahr abgesagt wurde. Die angesehene Kulturmanagerin wurde von einem AKP-Abgeordneten ins Visier genommen, weil sie in einem Interview sagte, dass die Türkei "derzeit von ethnischen, religiös fundamentalistischen und neokapitalistischen Ambitionen" bedroht sei. Es gehe "in dieser Situation mehr ums Überleben als ums Leben", wird Madra wiedergegeben.

Der AKP-Abgeordnete bezichtigte sie der Präsidentenbeleidigung und kurdenfreundlicher Positionen. Er forderte die Stadtverwaltung auf, die Zusammenarbeit mit ihr zu beenden. Wer in der Kulturszene die Regierungspolitik kritisiert, gilt sogleich als prokurdisch und riskiert nicht nur seinen eigenen Job, sondern liefert auch gleich den Vorwand, unliebsame, weil zu kritische oder moderne, Kulturinstitutionen zu schließen.

Dabei bedient man sich eigener Propagandamedien oder der Ordnungsbehörden, die Stadien, Hallen oder Freigelände schließen bzw. Veranstaltungen wegen angeblicher Mängel nicht genehmigen. Aus diesen Gründen wurden z.B. auch das Jazzfestival Istanbul, die Kunstmesse ArtInternational und die Sinop-Biennale am Schwarzen Meer abgesagt.

Kritische Künstler sind "Verräter"

Präsident Erdogan lud kurz nach dem Putschversuch zur Massenkundgebung in Istanbul-Yenikapi ein und Berühmtheiten von Musik bis Sport wetteiferten darum, in der vordersten Reihe gesehen zu werden. Nur die berühmte Pop-Sängerin Sila lehnte die Einladung ab. Sie begründete dies so: "Ich bin gegen den Putsch, aber ich bin auch gegen die Show in Yenikapi."

In den sozialen Netzwerken ergoss sich daraufhin ein Shitstorm über sie. Regierungsnahe Zeitungen bezeichneten sie als "Verräterin" und "Putschistin". Die AKP-regierten Kommunalverwaltungen in Istanbul, Ankara, Kayseri und Bursa, also in einigen der größten Städte der Türkei, sagten ihre Konzerte ab. Die türkische Staatsanwaltschaft leitete auf die Anzeige eines Bürgers hin Ermittlungen wegen "Herabsetzung der türkischen Nation" gegen die berühmte Sängerin ein.

Zülfü Livaneli. der ehrenamtliche türkische UNESCO-Botschafter, warf Ende Mai das Handtuch und trat zurück. Er empörte sich darüber, dass die UNESCO sich nicht schützend vor ihr Weltkulturerbe gestellt habe, als das türkische Militär begann, den Stadtteil Sur in Diyarbakir zu zerstören.

Fußballfans werden überwacht

Onur Öncü ist Regisseur in der Türkei. Weil er über Waffenlieferungen der türkischen Behörden an den Islamischen Staat berichtete, stand er dafür vor Gericht. In seinem neuesten Film "Stimme der Tribünen" geht es um den Fußballverein Amedspor, der wegen eines Spruchbandes zu einer harten Strafe verurteilt wurde.

Auch die kurdischen Sportler bekommen Erdogans Zorn zu spüren: Die Fangruppe 'Barikat‘, die ein Spruchband mit der Beschriftung "Die Kinder sollen nicht sterben, sie sollen zum Spiel gehen" zeigte, wurde festgenommen und als ‚Terrororganisation‘ deklariert. Im November beginnen die Prozesse gegen die Fans. Der türkische Fußballverband kontrolliert mittlerweile die Fußballfans über elektronische Chipkarten, genannt "Pasolik".

Ohne Chipkarte kann man die Fußballspiele nicht besuchen. Auf diesen Chipkarten wird das Verhalten im Stadion dokumentiert, ob man verbotene Banner, kurdische Fahnen oder dergleichen zeigt. Durch die Überwachungstechnik sind politisch nicht genehme Fans leicht identifizierbar.