Steinmeier und das türkische Problem

Türkischer Präsidentschaftspalast in Ankara. Foto: Ex13/CC BY-SA 4.0

Der Außenminister besucht den EU-Schlüsselpartner in Ankara - mit Patenschaften für verfolgte Politiker

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Außenminister Steinmeier fliegt am Dienstag, den 15. November, in die Türkei und hat als Bonbon für Erdogan die vom Bundestag beschlossene Verlängerung des Bundeswehrmandats in Incirlik in der Tasche. Mit im Gepäck ist ein Angebot für verfolgte Journalisten, Wissenschaftler und Künstler sowie Patenschaften von Bundestagsabgeordneten für HDP-Politiker. Trotz schlechter Noten im EU-Fortschrittsbericht sollen die Gespräche mit der Türkei weitergeführt werden. Nach der Medien- und Parteienlandschaft wird in der Türkei nun auch die Zivilgesellschaft und die Kulturszene "gesäubert".

So hatte sich Walter Steinmeier seinen ersten Türkeibesuch nach dem Putsch nicht vorgestellt. Eigentlich wollte er Erdogan die Botschaft übermitteln, dass Deutschland zur europäischen Bindung an die Türkei stehe. Damit unterstützte er die EU-Linie des EU-Fortschrittsberichtes. Dieser kritisiert zwar scharf die Einschränkung der Pressefreiheit, Mängel in der Einhaltung des rechtsstaatlichen Prinzips und mangelnde Unabhängigkeit der Justiz setzt aber weiter auf Gespräche, weil die Türkei ein sogenannter Schlüsselpartner, (sprich: unverzichtbar aufgrund seiner geographischen Lage) ist.

In der Bundestagsdebatte am vergangenen Donnerstag sagte Steinmeier: "Die Verantwortung für die Richtung, die dieses Land nimmt, liegt nur bei der Türkei selbst." Deutschland wünsche sich gute Beziehungen zur Türkei, aber die Realität nehme eine andere Richtung, mahnte der Außenminister. Ohne solche diplomatischen Bemäntelungen sagen viele: "Die Realität geht in Richtung Diktatur". Nicht einmal mehr UN-Diplomaten sind vor Verhaftungen sicher.

UN-Richter trotz Immunität verhaftet

Die türkische Regierung hat den UN-Richter Aydin Sefa Akay am 21. September festgenommen, obwohl er über diplomatische Immunität verfügt. Dies berichtete UN-Richter Theodor Meron am Mittwoch in New York vor der UN-Vollversammlung. Seine Anfrage um eine Besuchserlaubnis, wie auch die Bitte um Erläuterung, warum Akay festgehalten werde, blieben nach seiner Darstellung unbeantwortet.

Er forderte die türkische Regierung auf, den 66-Jährigen sofort freizulassen. Wegen seiner Festnahme sei das Berufungsverfahren gegen den ehemaligen ruandischen Minister Augustin Ngirabatware zum Stillstand gekommen. Akay gehörte dem internationalen Strafgerichtshof für Ruanda mit Sitz im tansanischen Arusha an, der Ngirabatware 2014 zu 30 Jahren Haft verurteilt hatte. Im September 2011 wurde Akay in die IRMCT (internationale Ad-hoc-Strafgerichtshöfe) berufen.

Bundeswehrmandat für Incirlik verlängert

Am vergangenen Donnerstag stimmte der Bundestag trotz aller Kritik für eine Verlängerung des Mandats der Bundeswehr auf dem türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik. 445 Abgeordnete stimmten für den Einsatz, 139 dagegen. Das Abstimmungsergebnis zeigt, dass es auch mindestens ein Dutzend Gegenstimmen aus den Reihen der großen Koalition gab. In der Debatte bemühten sich die Politiker der Koalition deutlich zu machen, dass damit nicht die Türkei unterstützt werde.

SPD-Politiker Niels Annen sagte, es handle sich nicht um ein Mandat für die Türkei und schon gar nicht für deren Präsidenten. Die CSU-Abgeordnete Julia Obermeier argumentierte: "Unsere Soldatinnen und Soldaten sind nicht wegen der Türkei in Incirlik, sondern um den IS zu bekämpfen". Die Grünen lehnten eine Verlängerung des Mandats ab, weil die Aufklärungsbilder der deutschen Aufklärungsflieger automatisch auch beim NATO-Partner Türkei landen, der diese dazu nutzen könne, um Stellungen von Kurdenmilizen in Syrien zu bombardieren.

Es habe sich gezeigt, dass die Türkei dort ausgerechnet die Kämpfer beschieße, die von den USA in ihrem Kampf gegen den IS unterstützt würden. Der Abgeordnete Alexander Neu von der Linken kritisierte die geplanten Baumaßnahmen für den Bundeswehr-Einsatz auf dem türkischen NATO-Stützpunkt mit einer nicht gerade diplomatischen Formulierung: "Während in deutschen Schulen der Putz von den Decken fällt, weil angeblich kein Geld da ist, schiebt die Bundesregierung dem Erdogan-Regime 60 Millionen Euro Steuergelder in den A..."

Die bereitgestellten Mittel kommen ausschließlich der türkischen Wirtschaft zu Gute, denn nur türkische Unternehmen dürfen die Baumaßnahmen auf dem Luftwaffenstützpunkt ausführen. Nach Angaben des Bundesverteidigungsministeriums sind gegenwärtig rund 250 Soldaten in Incirlik im Einsatz, weitere 200 auf der Fregatte "Augsburg" im Mittelmeer. Das Mandat wurde nun bis Ende 2017 verlängert.

Bundestagsabgeordnete übernehmen Patenschaften für Abgeordnete der HDP

60 deutsche Bundestagsabgeordnete aus allen Fraktionen, von CDU/CSU bis LINKE haben in den letzten Tagen sogenannte Patenschaften für Abgeordnete der HDP übernommen. Dieser Teil des Gepäcks dürfte Steinmeier besonders unangenehm sein. Die Solidaritätsaktion geht durch sämtliche Parteien, von daher kann Steinmeier dies nicht als links-grüne Aktion unter den Tisch fallen lassen.

Erika Steinbach (CDU) hat eine Patenschaft für Can Dündar übernommen. Michelle Müntefering (SPD), Vorsitzende der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe im Bundestag sagte, man könne nicht einfach zusehen, wie in der Türkei derzeit eine ganze Gruppe von Parlamentariern einfach deshalb verfolgt wird, weil diese Parlamentarier ihr freies Mandat ausüben.

Für den Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş haben die Fraktionsvorsitzenden Thomas Oppermann (SPD), Sahra Wagenknecht (Linksfraktion) und Anton Hofreiter (Grüne) eine gemeinsame "Patenschaft" übernommen. Sie planen einen Besuch im Gefängnis. Der SPD-Menschenrechtspolitiker Frank Schwabe sagte:

Wir werden nun sehr genau hinschauen, was mit unseren Kolleginnen und Kollegen in der Türkei passiert. Wir wollen sie in den Gefängnissen besuchen und ihnen beistehen.

Frank Schwabe, SPD

Dass die Türkei einem solchen Besuch zustimmt, dürfte aussichtslos sein. Das Patenschaftsmodell "Parlamentarier schützen Parlamentarier" von deutschen Abgeordneten für verfolgte Parlamentarier im Ausland ist nicht neu. Es wurde 2013 gegründet. 75 Abgeordnete haben bislang für 110 weltweit verfolgte Personen übernommen, unter anderem auch für die Politikerin Leyla Zana, die wegen ihres Einsatzes für die Rechte der Kurden 1994 zu einer 17-jährigen Haftstrafe verurteilt worden war.

Der Europäische Gerichtshof kritisierte den Prozess gegen sie und drei weitere Abgeordnete als unfair. In einer gemeinsamen Petition hatten die Bundestagsabgeordneten die Freilassung der Parlamentarier gefordert. Gegenwärtig steht Leyla Zana erneut im Fokus der türkischen Behörden. Die Abgeordneten des Bundestags wiesen darauf hin, dass das Programm sich nicht nur an türkische Abgeordnete der HDP richte, sondern auch an verfolgte Abgeordnete der sozialdemokratischen, kemalistisch geprägten, teils nationalistischen Oppositionspartei CHP.

Aber innerhalb der CHP scheint es Uneinigkeit zu geben, ob sie sich anschließen sollen. Schließlich hat die CHP mit dazu beigetragen, dass die HDP-Abgeordneten verfolgt werden können. Den Kurden sind sie nicht besonders freundschaftlich gesinnt, die passen nicht ins nationalistisch-kemalistische Konzept.

Über Nacht kann aus einem Star ein Terrorist werden

Das andere Gepäckstück Steinmeiers für die Reise in die Türkei wird das derzeit im Auswärtigen Amt in Vorbereitung befindliche Aktionsprogramm für verfolgte Journalisten, Wissenschaftler und Kulturschaffende zur Förderung türkischsprachiger Onlinemedien sein.

Dieses Programm soll den Verfolgten helfen, ihre Arbeit notfalls in Deutschland fortzusetzen Staatssekretär Roth hatte unlängst angekündigt, Deutschland würde sich solidarisch mit den Verfolgten zeigen. Eine nette Geste, aber den jetzt Inhaftierten oder mit Ausreiseverbot belegten Intellektuellen wird dies nicht helfen, allenfalls denjenigen, die sich schon rechtzeitig nach Deutschland absetzen konnten.

Allein 6.000 Parteimitglieder der HDP wurden laut ihrem Sprecher Ayhan Bilgen seit dem Putschversuch vom 15. Juli dieses Jahres festgenommen. .2000 davon sind immer noch in Haft.

Die Wende im Kunst- und Kulturbereich

Auch im Kunst- und Kulturbereich findet ein konservativer Umschwung statt. Dies begann schon nach den Gezi-Park-Protesten 2013. Vor wenigen Jahren galt Istanbul noch international als eine Kreativmetropole. Die Stadt war eine Drehscheibe für internationale Kuratoren, Künstler oder Kunstkritiker. Nach dem Putschversuch hat sich das Klima in der türkischen Kunst- und Kulturszene weiter verschlechtert.

Seitdem verlieren immer mehr Künstler ihren Job, werden Festivals und Ausstellungen abgesagt. Der türkische Kunstkritiker und Autor Erden Kosova berichtet über gewalttätige Angriffe auf Betreiber von Kunstgalerien und deren Besucher. Private Geldgeber, die wichtigste Stütze der türkischen Kulturszene, schrecken vor kritischen politischen Positionen zurück und stellen ihre Unterstützung ein, um nicht selbst in den Fokus der Regierung zu geraten.

Unter den Akademikern, die sich für die Wiederaufnahme des Friedensprozesses mit den Kurden einsetzten, sind mehrere Kunstprofessoren, die bereits ihren Posten verloren haben oder davon bedroht sind, darunter namhafte Mitglieder der Kunstakademie Istanbul. Ein neuer Gesetzesvorschlag im türkischen Parlament bereitet jetzt die Privatisierung von staatlichen Theatern, Opern und Kulturzentren vor.

Dadurch soll die Schaffung eines seit Jahren diskutierten unabhängigen Kulturrats verhindert werden. Berühmte Schauspieler, Musiker, oder Buchautoren - gestern noch hochgelobt, heute stehen sie vor dem "Nichts". Über Nacht kann aus einem Star ein Terrorist werden.

Füsun Demirel gehörte zu den bestbezahlten Schauspielerinnen der Türkei. Sie trat auf den großen Bühnen, in Kinofilmen und in Fernsehserien auf. Nun ist sie seit Anfang des Jahres arbeitslos. Der Grund: auf die Frage der Zeitung Cumhurriyet, welche Rolle sie gern noch spielen wolle, antwortete sie: "die Mutter einer Guerillakämpferin". Damit ist sie bei der AKP in Ungnade gefallen.

Druck auf Fernsehsender und Theater

Die AKP-treuen Medien hetzten über sie, der politische Druck auf Fernsehsender und Theater wurde so groß, dass der Fernsehsender atv ihre Rolle in einer Fernsehserie strich und sie entließ. Aus Angst, die staatliche Förderung zu verlieren, werden ihr an den großen Theaterbühnen, wo sie jahrelang aufgetreten war, keine Rollen mehr angeboten. Aus Angst vor Zensur wird sie bei Kinofilmen, die sie noch letztes Jahr gedreht hat, von den Plakaten gestrichen.

Beral Madra (76), war die Leiterin der renommierten Canakkale-Biennale, die dieses Jahr abgesagt wurde. Die angesehene Kulturmanagerin wurde von einem AKP-Abgeordneten ins Visier genommen, weil sie in einem Interview sagte, dass die Türkei "derzeit von ethnischen, religiös fundamentalistischen und neokapitalistischen Ambitionen" bedroht sei. Es gehe "in dieser Situation mehr ums Überleben als ums Leben", wird Madra wiedergegeben.

Der AKP-Abgeordnete bezichtigte sie der Präsidentenbeleidigung und kurdenfreundlicher Positionen. Er forderte die Stadtverwaltung auf, die Zusammenarbeit mit ihr zu beenden. Wer in der Kulturszene die Regierungspolitik kritisiert, gilt sogleich als prokurdisch und riskiert nicht nur seinen eigenen Job, sondern liefert auch gleich den Vorwand, unliebsame, weil zu kritische oder moderne, Kulturinstitutionen zu schließen.

Dabei bedient man sich eigener Propagandamedien oder der Ordnungsbehörden, die Stadien, Hallen oder Freigelände schließen bzw. Veranstaltungen wegen angeblicher Mängel nicht genehmigen. Aus diesen Gründen wurden z.B. auch das Jazzfestival Istanbul, die Kunstmesse ArtInternational und die Sinop-Biennale am Schwarzen Meer abgesagt.

Kritische Künstler sind "Verräter"

Präsident Erdogan lud kurz nach dem Putschversuch zur Massenkundgebung in Istanbul-Yenikapi ein und Berühmtheiten von Musik bis Sport wetteiferten darum, in der vordersten Reihe gesehen zu werden. Nur die berühmte Pop-Sängerin Sila lehnte die Einladung ab. Sie begründete dies so: "Ich bin gegen den Putsch, aber ich bin auch gegen die Show in Yenikapi."

In den sozialen Netzwerken ergoss sich daraufhin ein Shitstorm über sie. Regierungsnahe Zeitungen bezeichneten sie als "Verräterin" und "Putschistin". Die AKP-regierten Kommunalverwaltungen in Istanbul, Ankara, Kayseri und Bursa, also in einigen der größten Städte der Türkei, sagten ihre Konzerte ab. Die türkische Staatsanwaltschaft leitete auf die Anzeige eines Bürgers hin Ermittlungen wegen "Herabsetzung der türkischen Nation" gegen die berühmte Sängerin ein.

Zülfü Livaneli. der ehrenamtliche türkische UNESCO-Botschafter, warf Ende Mai das Handtuch und trat zurück. Er empörte sich darüber, dass die UNESCO sich nicht schützend vor ihr Weltkulturerbe gestellt habe, als das türkische Militär begann, den Stadtteil Sur in Diyarbakir zu zerstören.

Fußballfans werden überwacht

Onur Öncü ist Regisseur in der Türkei. Weil er über Waffenlieferungen der türkischen Behörden an den Islamischen Staat berichtete, stand er dafür vor Gericht. In seinem neuesten Film "Stimme der Tribünen" geht es um den Fußballverein Amedspor, der wegen eines Spruchbandes zu einer harten Strafe verurteilt wurde.

Auch die kurdischen Sportler bekommen Erdogans Zorn zu spüren: Die Fangruppe 'Barikat‘, die ein Spruchband mit der Beschriftung "Die Kinder sollen nicht sterben, sie sollen zum Spiel gehen" zeigte, wurde festgenommen und als ‚Terrororganisation‘ deklariert. Im November beginnen die Prozesse gegen die Fans. Der türkische Fußballverband kontrolliert mittlerweile die Fußballfans über elektronische Chipkarten, genannt "Pasolik".

Ohne Chipkarte kann man die Fußballspiele nicht besuchen. Auf diesen Chipkarten wird das Verhalten im Stadion dokumentiert, ob man verbotene Banner, kurdische Fahnen oder dergleichen zeigt. Durch die Überwachungstechnik sind politisch nicht genehme Fans leicht identifizierbar.