Stichwahl in Sierra Leone?

Nachdem sich abzeichnet, dass keiner der sieben Kandidaten für die Präsidentschaft die erforderlichen 55% der Wählerstimmen auf sich vereinigen kann, wird eine Stichwahl immer wahrscheinlicher

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Damit wächst aber auch die Gefahr, dass sich die ohnehin schon angespannte Lage zwischen beiden ethno-politischen Lagern weiter zuspitzen könnte. Nach Ende des 10-jährigen Bürgerkrieges, der den wirtschaftliche Ruin und Staatszerfall Sierra Leones besiegelte und geschätzten 120.000 Menschen das Leben kostete, gelten die derzeit stattfindenden Wahlen als Lackmustest für den fortlaufenden Friedens- und Demokratisierungsprozess des weltweit noch immer zweitärmsten Landes. Mit der Sierra Leone Peoples Party (SLPP) und dem All Peoples Congress (APC) stehen sich dabei zwei Parteien gegenüber, die ihre Anhänger- und Wählerschaft traditionell nach ethnischen Gesichtspunkten mobilisieren. Während die SLPP von den Mende des Südens und Südosten dominiert wird, gehören der APC vor allem Temne aus dem Norden Sierra Leones an.

Favorit bei der Stichwahl ist Ernest Boi Koroma (APC), der den ersten Wahlgang gegen seinen Kontrahenten, den Vizepräsidenten und von Ex-Präsident Kabbah massiv unterstützten Solomon Berewa (SLPP), wider Erwarten gewinnen konnte. Vor dem Hintergrund, dass die SLPP durch die Abspaltung und Neugründung der PMDC eine enorme Schwächung hinnehmen musste, ist die neue Favoritenrolle Koromas allerdings nicht überraschend. Es bleibt aber abzuwarten, ob die progressive PMDC bei der bevorstehenden Stichwahl nicht doch ein Zweckbündnis mit der SLPP eingehen wird und demnach das Zünglein an der Waage spielen könnte. Falls ja, dürfte dies zu Frustration bei den APC-Anhängern führen, die sich schon jetzt als eigentlicher Sieger der Wahlen fühlen. Obwohl der erste Wahlgang recht friedlich und einigermaßen fair verlaufen ist, wie internationale Wahlbeobachter freudig mitteilen, bleibt es somit ungewiss, ob die Verliererseite das Wahlergebnis anerkennen und respektieren wird.

Die gewaltsamen Auseinandersetzungen im Vorfeld der Wahlen, die bisweilen massive Manipulation der Medien durch die vormalige Regierungspartei SLPP sowie die gegenseitigen Wahlbetrugsbezichtigungen während der Stimmenauszählung, sprechen allerdings dagegen, dass beide Seiten eine friedliche Übereinkunft über das Wahlergebnis erzielen werden. Vielmehr hat der bisherige Wahlverlauf deutlich erkennen lassen, dass die schon überwunden geglaubte Rivalität zwischen den beiden größten Volksgruppen der Mende und Temne eine neue Schubkraft erhalten hat, wodurch die Gefahr einer erstmals direkten und umfassenden Gewalteskalation zwischen beiden ethnopolitischen Lagern deutlich gestiegen ist. Ein Blick auf die Bevölkerungsstruktur und politische Geschichte des Landes kann dabei nicht nur helfen, die Bedeutung des Wahlergebnisses für die Bevölkerung Sierra Leones besser zu verstehen, sondern verdeutlicht zugleich die zahlreichen Probleme, die im Zuge des derzeitigen Wahlvorgangs erneut zum Vorschein gekommen sind bzw. weiterhin bestehen bleiben.

Das bipolare interethnische Kräfteverhältnis

Die Grundlage für die ethnische Zusammensetzung Sierra Leones ist bereits in der “Vorkontaktphase“ gelegt worden, also noch vor der britischen Kolonisierung Ende des 18. Jahrhunderts. Erst während der frühen Kolonialphase wanderten wichtige Bevölkerungsgruppen wie die Mende in ein. Diese Immigration war jedoch nicht direkt auf die Intervention der Kolonialmacht zurückzuführen, auch wenn diese den Ausbreitungsprozess, die Konfliktmuster und ihre Lösung mit bestimmte.

Das Entstehen der Kreolengruppe ist dagegen das Resultat der kolonialen Siedlungs- und Pazifisierungspolitik. Die Kreolen sind Nachkommen befreiter Sklaven unterschiedlicher Herkunft, die seit der offiziellen Abschaffung des Sklavenhandels 1787 in Freetown angesiedelt wurden. Trotz ihres geringen Bevölkerungsanteils von nur 2-3 % besaßen sie, aufgrund ihrer anglisierten Kultur und Sprache, weitreichende Privilegien gegenüber der indigenen Bevölkerung des Protektorats, vergleichbar mit den Americo-Liberians im benachbarten Liberia. Obgleich der Einfluss der Kreolen seit der Unabhängigkeit stark zurückgedrängt wurde, schuf das in den Gründerjahren der Kolonie entstandene Spannungsverhältnis zwischen Kreolen und indigener Bevölkerung ungünstige Voraussetzungen für den Nationenbildungsprozess Sierra Leones.

Bereits zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit war jedoch erkennbar, dass neben der historisch bedingten Trennlinie zwischen den privilegierten Kreolen und den andern Bevölkerungsgruppen eine weitere ethno-regionale Trennlinie entstanden war: Während die Temne im Norden die Bevölkerungsmehrheit ausmachen, dominieren die Mende den südlichen Teil des Landes. Das interethnische Kräfteverhältnis zeigt zudem deutlich, dass die Temne und Mende mit einem Bevölkerungsanteil von jeweils ca. 30 % gegenüber den restlichen Gruppen – Limba (8 %), Kono (5 %), Susu (3 %), Fulbe (3 %), Krios (2-3 %) etc. – klar dominieren. Aufgrund dieses bipolaren Kräfteverhältnisses verwundert es nicht, dass schon bei den ersten Wahlen nach der Unabhängigkeit erste Tendenzen hin zu einer Politisierung von Ethnizität deutlich wurden.

Die (Aktualität der) politische(n) Geschichte

Da die Stevenson-Verfassung die Etablierung eines demokratischen Mehrparteiensystems vorsah, wurde Sierra Leone 1961 in einem von Parteienkonkurrenz geprägten Umfeld unabhängig. Jedoch war es weder der SLPP noch der APC gelungen, eine breite und über die ethnischen Trennlinien hinausgehende Anhängerschaft zu mobilisieren. Vielmehr war das Mehrparteiensystem Sierra Leones von Anfang an durch die Konkurrenz zweier Parteien gekennzeichnet, die ihre Unterstützung fast ausschließlich durch die Zugehörigkeit zu einer der beiden ethno-regionalen Gruppen erhielten. Das Hauptproblem, das damit auch nach der Unabhängigkeit fortbestand, war die Aufrechterhaltung einer ethno-regionalen Balance zwischen den ethnischen Gruppen (Mende und Temne) und den politischen Parteien (SLPP und APC).

Der plötzliche Tod Milton Margais – des ersten Premierministers und Vorsitzenden der Mende-dominierten SLPP – bedeutete für Sierra Leone bereits 1964 den Verlust der nationalen Integrationsfigur. Er hatte von der nationalen Aufbruchsstimmung profitiert und war stark auf einen Ausgleich zwischen den ethnischen Gruppen bedacht, wofür er sogar von Anhängern der oppositionellen APC respektiert worden war. Dagegen wurde der Machtanspruch seines Bruders und Nachfolgers Albert Margai von Anfang an in Frage gestellt; und zwar nicht nur von Seiten der oppositionellen APC, sondern auch von Anhängern der SLPP. Wichtige Vertreter beider Parteien waren der Meinung, dass ein Nicht-Mende das Amt ausfüllen sollte. Mangelndes Charisma, zunehmende Korruptionsvorwürfe sowie eine rapide Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage untergruben zusätzlich seine Legitimität.

Der Machterhalt des Regimes war damit schon 1964 zum bestimmenden Prinzip sierra-leonischer Politik geworden. Ein zunehmend autoritärer Führungsstil und die verstärkte Politisierung von Ethnizität waren dabei die zentralen Komponenten der Machterhaltungsstrategie Albert Margais: Während er sich einerseits darum bemühte, seine autoritäre Herrschaft zu einer Einparteienherrschaft auszubauen, beabsichtigte er andererseits – durch die Politisierung des Militärs zugunsten seiner ethnischen Gruppe, der Mende – seine Macht abzusichern. Die bis dahin ohnehin bescheidenen Ansätze zur Herausbildung einer gemeinsamen nationalen Identität wurden dadurch jedoch endgültig begraben. Vielmehr war das Resultat Albert Margais Regierungsführung eine tiefe ethnische Spaltung des Landes, die bis in die heutige Zeit nachwirkt.

Obgleich die Wahlen 1967 von Repression und Wahlmanipulationen überschattet waren, konnte die APC unter der Führung Siaka Stevens einen klaren Sieg erringen. Weil sich Albert Margai und die SLPP aber weigerten, das Wahlergebnis anzuerkennen, kam es 1967/68 zu eine Serie von Putschen und Gegenputschen, an deren Ende Stevens sein Amt als Premierminister doch noch antreten konnte. Der bis dato einzige legitime Machtwechsel in der Geschichte Sierra Leones war damit erfolgt. Gleichzeitig hinterließ er aber ein Klima der politischen Unsicherheit und Instabilität, das deutliche Parallelen zur gegenwärtigen Situation aufweist. So stehen sich aufgrund des jüngsten Wiedererstarkens der APC (und der Schwächung der SLPP durch die Abspaltung der PMDC) beide Lager auch heute wieder gleich stark gegenüber und führen einen Wahlkampf, bei dem es in Wirklichkeit weniger um die Lösung der bestehenden Probleme (Korruption, Jugendarbeitslosigkeit etc.) als um die Verteilung von Ämtern und Machtpositionen zugunsten der eigenen Ethnie geht.

Stevens Strategie zur Machtkonsolidierung unterschied sich zunächst kaum von der verfolgten Taktik seines Vorgängers. Eine seiner ersten Amtshandlungen war demnach die Umstrukturierung des Mende-dominierten Militärapparates, welcher nach wie vor die größte Bedrohung für das APC-Regime darstellte. Zugleich widmete er sich dem Machtausbau auf verfassungsrechtlicher Ebene. Während Stevens anfangs noch Anhänger der Opposition in das APC-Regime eingebunden hatte, unternahm er nun entscheidende Schritte, um die SLPP ins politische Abseits zu drängen. Durch manipulierte Wahlpetitionen und Ergänzungswahlen (by-election) baute er die Parlamentsmehrheit der APC derart aus, dass diese bereits 1969 eine Zweidrittelmehrheit besaß.

Der Einführung einer republikanischen Verfassung, die Stevens 1971 zum Präsidenten Sierra Leones machte, stand damit nichts mehr entgegen. Da die SLPP jedoch weiterhin ein ernstzunehmender Gegner blieb, setzte Stevens nun alles daran, die Opposition gänzlich auszuschalten. Folglich kam es im Vorfeld der Wahlen von 1973 zum massiven Einsatz von Gewalt, was letztlich dazu führte, dass die SLPP die Wahlen boykottierte. Alle Parlamentssitze gingen somit an die APC und der Einparteienstaat wurde Realität. Stevens autoritäre Herrschaft spiegelte in ihrer inneren Funktionslogik den Idealtypus der neopatrimonialen Herrschaft wider.

Dabei handelt es sich, in Anlehnung an Max Webers, um eine hybride Herrschaftsform, in der Elemente patrimonialer und rational-legaler Herrschaft nebeneinander existieren. Eine Trennung von Öffentlichem und Privatem ist so kaum noch möglich. Vielmehr koexistieren Elemente patrimonialer und legal-rationaler Herrschaft, wobei keine der beiden Logiken Oberhand gewinnt. Beide konstitutiven Bestandteile des Neopatrimonialismus, sowohl ethnischer Klientelismus, als auch Ämterpatronage, kamen während der Regentschaft Stevens voll zum tragen.

Im Gegensatz zu seinem Amtsvorgänger gilt Stevens gemeinhin als scharfsinniger und gerissener Politiker, der genau wusste, wie er die direkte Kontrolle über den Staatsapparat gewinnt. Auch wenn Albert Margai Macht und Autonomie der öffentlichen Verwaltung bereits gebrochen hatte, so war es Stevens, der die Vergabe öffentlicher Ämter zur alleinigen “Chefsache“ machte. Allerdings war die öffentliche Verwaltung bei weitem nicht die einzige Institution, die Stevens seiner persönlichen Kontrolle unterstellte. Betroffen waren ebenso zivilgesellschaftliche Institutionen wie Gewerkschaften, landwirtschaftliche Genossenschaften, Bauernverbände und Universitäten. Weitreichendere Folgen hatte hingegen die Schwächung des Parlaments, das nach der formalen Einführung des Einparteiensystems zunehmend in der Bedeutungslosigkeit versank.

Doch auch wirtschaftlich hat das APC-Regime unter Stevens den Staat in den Ruin getrieben. Da die Rentenerlöse aus dem Rohstoffexport – aufgrund des eklatanten Missmanagements im Diamantensektors im Laufe der 1980er Jahre rapide gesunken waren, wurde dem neopatrimonialen System zunehmend seine materielle Grundlage entzogen. Schuld daran war jedoch auch das neopatrimoniale System selbst, das durch seine innewohnende Logik der „klientelistischen Netzwerkpflege“ das korrupte Handeln und den Selbstbereicherungsdrang der Eliten begünstigte.

Rebellen und Diamanten

Auf diese Weise wurde während der 17-jährigen Regentschaft nicht nur der Staatszerfallsprozess des Landes vorangetrieben, sondern auch die Grundlage für den Ausbruch des Bürgerkrieges geschaffen: Während die Politisierung und gezielte Schwächung des Militärs letztlich dazu führte, dass zahlreiche Soldaten beim Einmarsch der Revolutionary United Front (RUF) marodierten und zu „sobels“ (soldiers by day, rebels by night) wurden, war das Resultat des Zusammenbruchs der sozialen Infrastruktur in den 1980er Jahren, dass v.a. Jugendliche, die aufgrund des rapiden Bevölkerungswachstum in der zweiten Hälfte des 20 Jahrhunderts den größten Teil der Bevölkerung darstellten, ins soziale Abseits gedrängt wurden und somit leicht empfänglich für „rebellisches Gedankengut“ waren. Durch die Privatisierung des Diamantensektors, einhergehend mit der Verteilung von Lizenzen und Schürfrechten an lokale Machthaber und transnationale Schmuggelnetzwerke, bot sich der RUF zugleich eine hervorragende Möglichkeit der Finanzierung des Krieges, von dem neben Charles Taylor auch zahlreiche weitere externe Akteure profitierten.

Insgesamt bleibt aber festzuhalten, dass beide Parteien erhebliche Mitschuld an der Misere Sierra Leones tragen. Das Vertrauen in die Politik und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Landes wird langfristig nur durch einen Wandel der Parteienlandschaft möglich sein. Das enttäuschende Ergebnis der PMDC, die gemeinhin als Sammelbecken der „progressiven Kräfte“ des Landes gilt, lässt dies für die nahe Zukunft jedoch nicht erwarten. Erfahrungsgmäß werden die alten Eliten ihre bisherige Politik fortsetzen und damit die machtgefährdende Einbindung der PMDC verhindern - wenn überhaupt, werden sie ihre Wahlversprechen zur Klientelismus- und Korruptionsbekämpfung nur zögerlich umsetzen.

Von internationalem Interesse sind die Wahlen dann letztlich nur noch, weil sie der internationalen „Geber-Community“ Fortschritte bei der Demokratiekonsolidierung suggerieren und damit das internationale Engagement legitimieren. Ein Politikwechsel zeichnet sich dagegen nicht ab - vielmehr wird der internationale und mittlerweile auch nationale Druck auf die "neuen" politischen Machthaber nicht ausreichen, um einen Wandel in der politischen Kultur zu bewirken.