Stockholm Programm: Überwachung und Kontrolle

Der neue Fünfjahresplan europäischer Innenpolitik mutiert zur "Strategie der inneren Sicherheit" für die EU

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In zwei Wochen wollen die Innenminister der EU ihren Entwurf für das "Stockholm Programm" vorlegen ("Quantensprünge" europäischer Sicherheitszusammenarbeit, Kritik am "Stockholm Programm"). Anfang Dezember will der Ministerrat der EU das Dokument endgültig verabschieden. Aufbauend auf dem "Prinzip der Verfügbarkeit" (zum Beispiel von Datenbanken oder regionaler Zusammenarbeit), das seit 2004 die europäische Innenpolitik bestimmt, wird die grenzüberschreitende Kooperation von Strafverfolgungsbehörden weiter vertieft. Mit Institutionen wie Europol und Frontex schafft sich die EU supranationale innenpolitische Kompetenzen und entwickelt ein eigenes (grenz-)polizeiliches Profil.

Die EU-Kommission hatte Anfang Juni eine ausführliche Auswertung des ablaufenden "Haager Programms" vorgelegt und Vorschläge für das "Stockholm Programm" präzisiert. Bis dahin vermittelte lediglich die letztes Jahr veröffentlichte, vage gehaltene Wunschliste der EU-Innenminister (Die Wünsche der EU-Innenminister) eine Ahnung von den geplanten einschneidenden Veränderungen.

Jacques Barrot, EU-Kommissar für Justiz und Sicherheit, will mit dem "Stockholm Programm" eine "domestic security strategy for the EU" entwickeln:

National frontiers should no longer restrict our activities.

EU-Vizepräsident Jacques Barrot

Derartig kühne Träume werden von nationalen Behörden, etwa in Großbritannien, kritisch beäugt. Große Hoffnungen setzt die Kommission daher in die schnelle Ratifizierung des Lissabon-Vertrags (in der gegenwärtigen Fassung). Vor allem das Prinzip Mehrheitsentscheidungen zuzulassen würde den europäischen Institutionen noch mehr Handlungsspielraum im Bereich "Innerer Sicherheit" lassen, darunter grenzüberschreitende Polizeikooperation, Terrorismus, Migration, Asyl und Grenzüberwachung.

"Strategie der inneren Sicherheit"

In ihrer Auswertung blickt die EU-Kommission auf das "Haager Programm" als "Blaupause der EU für die Realisierung ihrer Vision" zurück. Die umgesetzten (und teilweise auf das "Stockholm Programm" verschobene) Maßnahmen zur Intensivierung von Überwachung und Kontrolle werden in einem 120seitigen Bericht dokumentiert, ergänzt durch eine Übersicht umgesetzter rechtlicher Rahmenbedingungen. In einer gleichzeitigen Mitteilung an Parlament und Rat fordert die Kommission die EU auf, (aufbauend auf das "Solana-Papier" von 2003) eine "Strategie der inneren Sicherheit" zu entwickeln ("integrierter Ansatz") und die neuen Kompetenzen zwischen EU und Mitgliedsstaaten auszudifferenzieren. Dieses "ehrgeizige Programm" soll im "Stockholm Programm" münden:

Die Strategie wird eine nützliche Ergänzung zur EU-Strategie für die externe Sicherheit sein, indem sie eine engere Verbindung zwischen internen und externen Maßnahmen schafft.

EU-Kommission

Als Scharnier zwischen den drei Säulen der EU würde das im Lissabon-Vertrag verankerte "Committee for Internal Security" fungieren. Damit könnte die Aufsplitterung von Akteuren und Aufgaben ("leadership deficit") sowie Kompetenzgerangel unter Institutionen, die ihre Zuständigkeiten behalten wollen, überwunden werden. Um die gemeinsamen polizeilichen und militärischen Operationen zu fördern, ist auf EU-Ebene eine neue Arbeitsgruppe "JAIEX" eingerichtet worden. Die "Ad hoc Unterstützungsgruppe" soll die Zusammenarbeit zwischen Institutionen der EU-Innen- und Außenpolitik "auf allen Ebenen" fördern. Die Gruppe trifft sich monatlich und arbeitet zu aktuellen Themen, darunter die Stärkung von Positionen der EU gegenüber der Sicherheitszusammenarbeit mit den USA.

Polizeizentrale Europol

Angestrebt wird eine "gemeinsame Sicherheitskultur" mit optimiertem Informationsaustausch und einer "angemessenen technische Infrastruktur". Hierfür sollen die Verfolgungsbehörden Schulungen und Einsatzübungen absolvieren, die zukünftig auch Europol durchführt. Angedacht sind Austauschprogramme nach dem "Erasmus"-Modell auch mit "Drittländern". Europol erhält ab 2010 den Status einer Agentur und ist fortan für "alle Formen schwerer Kriminalität" zuständig. Die Behörde will "systematisch" mittels "automatischer Datenübertragung" informiert werden. Synergien zwischen Europol und Frontex sollen weiterentwickelt, die "Netze von Verbindungsbeamten in den Mitgliedstaaten oder Drittstaaten" besser koordiniert werden. Europol soll "seine internationale Dimension verstärken" (sowohl in "Drittstaaten" als auch mit Interpol) und stärker in die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) eingebunden werden. Die EU soll soll hierfür nötigenfalls bilaterale Abkommen zur polizeilichen Zusammenarbeit schließen.

Developing Europol's role to provide intelligence-led law enforcement at European level is crucial.

EU-Kommission

Bisher erschweren strukturelle, aber auch rechtliche Hürden die Rolle Europols als Datenbankzentrum der EU. Übermittelte Daten sind oft zuwenig prozessiert und teilweise mehrmals vorhanden, was eine Analyse erschwert. Zudem müssen manche Datenübermittlung aufgrund rechtlicher Beschränkungen abgelehnt werden. Hinzu kommen nationale Vorbehalte der Mitgliedsstaaten, sensible polizeiliche oder geheimdienstliche Erkenntnisse zu teilen.

Die Kommission wünscht sich mehr Einsatz von Software zur "Auswertung und Synthese der ihr zur Verfügung stehenden strategischen Informationen". Derartige Systeme versuchen, in Datensätzen mittels der Suche nach Häufungen und Knoten zukünftige Risiken zu prognostizieren und Straftaten vorherzusehen.

"Integriertes Grenzmanagement"

Zum besseren "Informationsmanagement" soll ein "europäisches Informationsmodell mit einer verstärkten strategischen Analysekapazität" eingerichtet werden. Ein "Zentrum für die Zusammenarbeit von Polizei- und Zollbehörden", das für polizeiliche Großlagen wie G8-Gipfel oder Sportveranstaltungen aufgesetzt wird, könnte nach ähnlichem Vorbild entstehen.

Im Bereich grenzpolizeilicher Zusammenarbeit forciert die Kommission das System "Eurosur", das bis 2013 alle Behörden und Institutionen der Mitgliedsstaaten mit Frontex vernetzt und Aufklärungsdaten von Satelliten, Drohnen und Radar verarbeitet. Frontex soll Regionalbüros mit Verbindungsbeamten einrichten und mehr Eigenmittel erhalten, darunter technisches Gerät und Transportkapazitäten für eingesetzte "Eingreiftruppen" (die unter Umständen "Befehlsgewalt" über nationale Kräfte ausüben können).

Mittels Einführung biometrischer Verfahren sollen Grenzübertritte von Inhabern europäischer Reisedokumente diskreter organisiert und durch eine "Trennung von Privat- und Geschäftsreisenden" rationalisiert werden. Reisende sollen sich nach US-Vorbild zukünftig vor Ein- und Ausreisen registrieren ("europäisches Vorabgenehmigungssystem für Reisen"). Ihre Daten werden per Software auf Treffer mit Datensätzen nationaler und internationaler Verfolgungsbehörden auf potentielle Risiken abgeglichen. Die Systeme SIS-II und VIS4 sollen während des "Stockholm Programms" bis 2015 "voll funktionsfähig sein". Eine neue Agentur soll die Verwaltung von Datenbanken und Systemen koordinieren.

Die europäische Sicherheitsforschung soll sich an den Schwerpunkten der "Strategie der inneren Sicherheit" orientieren, die Interoperabilität der Systeme gewährleisten, neue Technologien implementieren und Standards entwickeln. Zur Finanzierung schlägt die Kommission die Einrichtung eines "Fonds für die innere Sicherheit" vor.

Migrationsabwehr mit Libyen nach "italienischem Modell"

Libyen, durch die italienische Präsidentschaft vom "Schurkenstaat" zum wichtigen Partner der G8 geadelt, wird durch seine rigide Migrationspolitik zum Brückenkopf der Sicherheitszusammenarbeit von G8 und EU.

Die Kooperation zwischen Italien und Lybien war bereits durch ein 2000 unterzeichnetes Abkommen geregelt. Ein Zusatzprotokoll von 2007 sieht in Artikel 19 die "Kooperation im Kampf gegen den Terrorismus, die organisierte Kriminalität, den Drogenhandel, die klandestine Immigration" vor. Beide Länder führen unter anderem gemeinsame Patrouillen an den Land- und Seegrenzen durch, unterstützt durch von Italien gelieferten Fregatten. Libyen wird mit einem "System zur Kontrolle der Landgrenzen" ausgestattet, unter anderem zur Satellitenüberwachung - allerdings mit der Verpflichtung, alle Investitionen an italienischen Firmen zu übertragen, die "im Besitz der nötigen technologischen Kompetenzen sind" (gemeint sein dürfte der Rüstungskonzern Finmeccanica mit seinen Ablegern Selex oder Telespazio). Die italiensche Regierung will die Hälfte der Kosten übernehmen, die andere Hälfte des Mammutprojekts der italienischen Sicherheitsindustrie soll die EU finanzieren.

Italiens Außenminister Frattini bezeichnet den jüngsten Besuch Gaddafis in Rom als Ereignis "von historischer Tragweite": "Libyen kann nicht nur ein bilateraler Partner Italiens sein, es muss ein Partner ganz Europas sein". Frattini versprach, zusammen mit Malta beim EU-Außenministertreffen am 15. Juni in Brüssel über die neue Rolle Libyens zu verhandeln: "Unser Vorschlag wird sein, die Verhandlungen zwischen Europa und Libyen von jetzt an bis Mitte Oktober vor dem Ende des Mandats Barrosos abzuschließen".

Italiens Innenminister Maroni forderte die EU auf, Italien und Libyen bei der Migrationsabwehr zu unterstützen. Die in den letzten Jahren getroffenen bilateralen Vereinbarungen ("ein Vorteil für die gesamte europäische Union") sollen Vorbild sein.

Ich habe den Justizkommissar im Europarat, Jacques Barrot, angespornt, damit die Kommission selbst und die Union zur Unterstützung Italiens und der angrenzenden Länder beim Unternehmen der Bekämpfung der klandestinen Immigration intervenieren.

Innenminister Roberto Maroni

Maroni hatte den Tagesordnungspunkt in die wenige Tage später in Luxemburg stattfindende Sitzung der EU-Justiz- und Innenminister eingebracht und verlangt von Vizepräsident Barrot "complete readiness" in der Unterstützung Italiens. Maroni fordert die Behandlung der Forderungen Libyens unter schwedischer EU-Präsidentschaft: "Lybien zu helfen, ist eine Pflicht der EU".

Bundesregierung beeilt sich

Vor Ende des "Haager Programms" setzt die Bundesregierung dessen wichtigste Grundpfeiler eilig in nationales Recht um. In seiner 228. Sitzung beschloß der Bundestag mit den Stimmen von CDU und SPD am 19. Juni das "Gesetz zur Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität". Deutsche Kontaktstelle für alle Angelegenheiten europäischer Polizeikooperation ist das Bundeskriminalamt, das umgehend einen bisher nicht abschätzbaren "erhöhten Personalaufwand" anmeldet. Auch die Landeskriminalämter hoffen auf neue Erkenntnisse und damit einem "höheren Ermittlungsaufkommen". Für die "Anpassungen" an die neuen, grenzüberschreitenden Arbeitsumgebungen und die Pflege von Servern sollen mehrere Millionen Euro investiert werden.

Am gleichen Tag ratifizierte der Bundestag den "Europol-Beschluß". Wieder stehen die Begehrlichkeiten des wachsenden Datentauschs im Mittelpunkt. Zukünftig dürfen Bundespolizei, Zollfahndungsdienst, Polizeien der Länder (anstatt der bisher allein berechtigten Landeskriminalämter) über die deutschen Verbindungsbeamten bei Europol Daten eingeben und (auch automatisiert) abrufen. "Die Menge der zu übermittelnden Daten [wird] anwachsen", kündigt die Bundesregierung an. Kritiker weisen daraufhin, dass Europol als eine "suprastaatliche Polizeibehörde" ohne Kontrolle, etwa einer europäischen Staatsanwaltschaft, operiert. Nationale gesetzliche Hürden können bequem umgangen werden - eine Politik, die Bürgerrechtsgruppen als "policy laundering" kritisieren.