Streit um Bergkarabach und die Krim: Sezession ist nicht gleich Sezession

Mitunter werden die Ansprüche auf die Krim und Bergkarabach gleichgesetzt. Doch das Völkerrecht sieht Unterschiede. Hier die Analyse und Hintergründe. (Teil 2 und Schluss)

Sowohl die ukrainische Halbinsel Krim als auch die Region Bergkarabach in Aserbaidschan waren in der Vergangenheit Gegenstand heftiger Konflikte. In beiden Gegenden zeigte sich über Jahrzehnte hinweg, welche Folgen ungeklärte Ansprüche auf Territorien haben können.

Wenngleich die Konflikte auf unterschiedliche Weise ausgetragen wurden, litt in beiden Fällen die Bevölkerung massiv unter den immer wieder aufkommenden Unruhen. Während die Krim inzwischen unter russischer De-facto-Herrschaft steht, ist Bergkarabach infolge der jüngsten Eskalation der dortigen Konflikte von den meisten ehemaligen Bewohnern verlassen.

Nachdem der erste Artikel dieses Themenkomplexes die historischen Ereignisse bis heute beleuchtet hat, gibt der zweite Teil nun einen Einblick in die völkerrechtliche Einordnung beider Konflikte.

Zur völkerrechtlichen Einordnung des Bergkarabach-Konflikts werden unterschiedliche Theorien besprochen, die Erklärungsansätze für die etwaige Unabhängigkeit Bergkarabachs liefern. Die Lage in dem Gebiet wird weniger einheitlich beurteilt als jene auf der Halbinsel Krim.

Erste Option: Loslösung von Bergkarabach nach Recht der UdSSR

Einer Auffassung zufolge konnte sich die Region Bergkarabach schon aufgrund des Rechts der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) von Aserbaidschan lösen und einen souveränen Staat gründen.

Grundlage könnte das Gesetz der UdSSR vom 3. April 1990 "über das Verfahren der Entscheidung der Fragen, die mit dem Austritt einer Unionsrepublik verbunden sind" (Sezessionsgesetz) gewesen sein. Es ermächtigte auch die Völker der "autonomen Republiken und Gebilde" innerhalb der Sowjetrepubliken, selbst zu entscheiden, ob sie aus der Sowjetunion austreten oder dort verbleiben wollten. Bergkarabach galt als solches "Autonomes Gebiet" gemäß Art. 87 Abs. 3 der UdSSR-Verfassung.

Und während Aserbaidschan sich 1991 zur Wiederherstellung der vor 1920 bestehenden, nicht-sowjetischen Republik Aserbaidschan entschloss (und damit zum Austritt aus der Sowjetunion), entschied sich Bergkarabach für den Verbleib in der UdSSR.

Aus diesen Prozessen könnte geschlussfolgert werden, Aserbaidschan habe sich durch seinen Austritt aus dem Anwendungsbereich von UdSSR-Recht gelöst. Folglich, so wird teilweise vertreten, habe es sich selbst die Rechtsgrundlage für den gegenüber Bergkarabach geltend gemachten Anspruch auf territoriale Integrität entzogen.

Weil Bergkarabach in der Folge, unter anderem durch das am 10. Dezember 1991 durchgeführte Unabhängigkeitsreferendum, erfolgreich eine eigene Republik gegründet habe, könne es nun auch die Qualität eines souveränen Staates für sich beanspruchen.

Dagegen sprechen allerdings andere, gewichtige Argumente. Zum einen ist nicht klar, ob das Sezessionsgesetz auf Bergkarabach überhaupt anwendbar war. Einige Stimmen führen das Sezessionsgesetz auf das Recht des Unionsvertrags von 1922 zurück. Dieses jedoch sah das Recht auf eine Abspaltung nur für die Sowjetrepubliken und nicht für einzelne autonome Regionen vor.

Konsequenterweise könne ins UdSSR-Recht dann keine andere Wertung Eingang gefunden haben. Darüber hinaus habe Bergkarabach ohnehin nicht das zwingende Verfahren eingehalten, das für den Fall eines Austritts vom Sezessionsgesetz vorgegeben wurde.

Option 2: Die Gründung Aserbaidschans ohne Bergkarabach?

Eine zweite völkerrechtliche Überlegung geht auf die "Staatswerdung" Aserbaidschans zurück. Dieser Prozess, innerhalb dessen Aserbaidschan zu einem unabhängigen Staat wurde, könnte mit einer Abtrennung Bergkarabachs vom aserbaidschanischen Staatsgebiet einhergegangen sein. Denn zunächst einmal wurde bei Gründung der Sowjetunion 1921 von Stalin entschieden, dass Bergkarabach in die aserbaidschanische und nicht die armenische Sowjetrepublik eingegliedert werden sollte.

Beide Länder gehörten 1922, bei Gründung der Sowjetrepublik, noch gemeinsam mit Georgien zu Transkaukasien, welches von Beginn an Teil der UdSSR war. Die Regierung Aserbaidschans beschloss später, dass "aus dem armenischen Teil von Berg-Karabach ein Autonomes Gebiet (…) als integraler Bestandteil der Aserbaidschanischen SSR" entstehen sollte.

Die überwiegend armenischen Bewohner Bergkarabachs (die 85 Prozent der dortigen Bevölkerung ausmachten) bildeten damit durchaus eine rechtlich herausgehobene eigene Gemeinschaft.

Dem steht nun jedoch das völkerrechtliche Uti-possidetis-Prinzip entgegen. Dieses während der Dekolonialisierung Lateinamerikas im 19. Jahrhundert entstandene Prinzip ist inzwischen Teil des Völkergewohnheitsrechts. Es besagt, dass ein Nachfolgestaat bei etwaigen Konflikten um Staatsterritorium immer nur in den Grenzen des Vorgängerstaates bestehen kann.

So soll eine endlose Kettenreaktion von immer neuen Forderungen unterschiedlicher Minderheiten nach staatlicher Unabhängigkeit verhindert werden. Bergkarabach war bis zu dessen Unabhängigkeit Teil Aserbaidschans (man erinnere sich an die oben ausgeführte, überzeugende Argumentation, dass Bergkarabach nicht erfolgreich von seinem Sezessionsrecht Gebrauch gemacht hat).

Nach dem Uti-possidetis-Prinzip folgte also Bergkarabach Aserbaidschan in den neuen Staat, als dieses sich von der Sowjetunion löste.

Es wird zwar teilweise behauptet, Aserbaidschan habe dann selbst den Verzicht auf die Region Bergkarabach erklärt – und zwar ausdrücklich. Denn indem der Staat sich in seiner Verfassungserklärung von seiner sowjetischen Vergangenheit distanzierte, und damit auch von den sowjetischen Staatsgrenzen, habe es abermals seinen Anspruch auf territoriale Integrität (und den Einschluss Bergkarabachs) verwirkt.

Gegen diese Interpretation spricht aber eindeutig, dass Aserbaidschan die Fortgeltung aller Rechtsakte auch nach der Unabhängigkeitserklärung beschloss, es sei denn, sie unterminierten die territoriale Integrität des Landes. An Letzterer wollte man also dezidiert festhalten. Und mit ihr auch an der Zugehörigkeit Bergkarabachs zu Aserbaidschan.

Option 3: Das Selbstbestimmungsrecht Bergkarabachs

Von Bedeutung ist außerdem die Unabhängigkeitserklärung Bergkarabachs vor dem Hintergrund des sogenannten Selbstbestimmungsrechts der Völker. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist ius cogens und damit höchstrangiges, zwingendes Völkerrecht.

Es wurde ausdrücklich als Ziel der Vereinten Nationen anerkannt und in Art. 55 der Charta der Vereinten Nationen (UN-Charta) verankert, der 1966 durch die United Nations Treaty Series konkretisiert wurde. Konkret versteht man darunter das "Recht aller Völker, frei und ohne Einmischung von außen über ihren politischen Status zu entscheiden und ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu gestalten".

Das Selbstbestimmungsrecht hat eine innere, auf die Mitbestimmung innerhalb des Staates gerichtete, und eine äußere Dimension. Die Selbstbestimmung nach außen schließt auch die Befugnis ein, über den politischen Status frei zu befinden, und damit auch das Recht, einen souveränen und unabhängigen Staat zu gründen.

Grundsätzlich kann ein Volk damit auch in einen eigens bestimmten anderen Status eintreten, den es selbst bestimmt hat, ohne sich an einen anderen unabhängigen Staat anzugliedern oder in ihn einzutreten. Ist das Selbstbestimmungsrecht auf einen Staat anwendbar, folgt daraus, dass Verträge zwischen Staaten, die diesem Grundsatz widersprechen, nichtig sind.

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker steht allerdings in einem ständigen Spannungsverhältnis zu dem Völkerrechtsprinzip der souveränen Gleichheit der Staaten (Art. 2 Nr. 1 UN-Charta), welches das Recht eines Staates auf territoriale Integrität einschließt.

Dieses soll verhindern, dass sich Sezessionsprozesse negativ auf die internationale Ordnung auswirken. Im Einzelfall muss also immer abgewogen werden, ob das Selbstbestimmungsrecht oder aber das Recht auf souveräne Gleichheit der Staaten schwerer wiegt.

Ausschlaggebend für den Konflikt um Bergkarabach ist die Adressateneigenschaft der Region. Inhaber des Selbstbestimmungsrechts können nur "Völker" sein.

Zwar verbindet die Einwohner Bergkarabachs ein ausgeprägtes Gemeinschaftsempfinden, eine gemeinsame Kultur, Sprache und Geschichte. Damit sich aber nicht immer wieder völlig willkürlich einzelne Gemeinschaften zu "Völkern" erklären, wird Minderheiten innerhalb einer Gesamtbevölkerung im Völkerrecht in den meisten Fällen die "Volkseigenschaft" versagt.

Kann Bergkarabach sich nicht auf das Selbstbestimmungsrecht berufen, überwiegt selbstverständlich das Recht auf territoriale Integrität, das Aserbaidschan geltend macht.

Option 4: Notwehrrecht für Bergkarabach?

Vereinzelt wird behauptet, Bergkarabach stehe das völkerrechtliche Institut der Sezession zur Seite. Es handelt sich dabei um ein Notwehrrecht (Recht auf remedial secession), welches ein Volk immer dann geltend machen kann, wenn es von seinem "Mutterstaat" schwerwiegend diskriminiert und unterdrückt wird.

Man geht dann davon aus, dass dem Volk politische Loyalität gegenüber dem fremdnationalen Staat nicht mehr zumutbar ist. Hintergrund dieses Instituts ist das UN-Konzept der "Schutzverantwortung". Es ist vertretbar, eine solche Unterdrückung Bergkarabachs durch Aserbaidschan anzunehmen, da Bergkarabach in einer militärischen Auseinandersetzung mit zahlreichen Opfern gezwungen wurde, seine Unabhängigkeit zu verteidigen.

Ein solches abschließendes Urteil würde aber die vielen unterschiedlichen Sichtweisen auf den Konflikt außer Acht lassen. Aus völkerrechtlicher Perspektive lässt sich schlicht nicht ein einziger Schuldiger identifizieren. Daher muss es auch an dieser Stelle unterbleiben, Bergkarabach eindeutig ein solches Notwehrrecht zuzusprechen.

Option 5: Bergkarabach als De-facto-Staat

Zuletzt könnte Bergkarabach auch allein aufgrund der herrschenden Faktenlage zu einem souveränen Staat geworden sein. Im Völkerrecht ist der De-facto-Staat als Rechtsfigur unumstritten.

Ob ein De-facto-Staat besteht, wird anhand der Drei-Elemente-Lehre von Jellinek beurteilt. Es müssten damit sowohl ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk als auch eine Staatsgewalt in Bergkarabach existieren.

Während die ersten beiden Merkmale wohl unproblematisch vorlägen, scheitert es wohl an der Staatsgewalt. Aufgrund der militärischen und auch wirtschaftlichen Abhängigkeit von Armenien bzw. der armenischen Diaspora ist die Effektivität der Staatsgewalt in Bergkarabach stark eingeschränkt.

Gegen die Bildung eines de-Facto-Staates spricht außerdem der völkerrechtliche Grundsatz, dass aus rechtswidrigen Akten kein Recht entstehen kann. Mit der Kriegsführung im Rahmen des Unabhängigkeitskrieges zu Beginn der 1990er Jahre aber hat Bergkarabach gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot verstoßen.

Im Ergebnis spricht viel dagegen, dass Bergkarabach völkerrechtlich als souveräner Staat betrachtet werden kann. Eine Sezession nach sowjetischem Recht scheitert an den oben ausgeführten Gründen.

Auch eine Abspaltung der Region im Rahmen der Staatswerdung Aserbaidschans lässt sich nur mit gewagter Argumentation vertreten. Ob das Selbstbestimmungsrecht der Völker für Bergkarabach streitet, ist eine Frage der Abwägung im Einzelfall – die überzeugenderen Argumente aber lassen das Pendel eher in Richtung Aserbaidschan ausschlagen.

Auf das völkerrechtliche Institut der Sezession oder die Eigenschaften eines De-facto-Staats wird sich die Grenzregion wohl nicht zurückziehen können.

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