Stress, Existenzangst, Personalmangel: Immer mehr Beschäftigte psychisch krank
Anstieg von 85 Prozent im ersten Halbjahr. Soziale Berufe sind besonders betroffen. Warum sich die Lage verschärfen könnte.
Schon im zeitlichen Zusammenhang zu den Corona-Maßnahmen ab dem Frühjahr 2020 war ein Anstieg psychischer Belastungen in der Bevölkerung festgestellt worden. Besonders, aber nicht ausschließlich, waren hier Kinder und Jugendliche betroffen. Auch weitgehende Lockerungen brachten keine schnelle Verbesserung der Lage – abgerissene Sozialkontakte, Lernlücken und familiärer Stress wirken wohl in zahlreichen Fällen nach.
Bei Berufstätigen allerdings hat der Wegfall der Maßnahmen zu Beginn des zweiten Quartals 2023 bisher gar keine Erleichterung gebracht. Im Gegenteil: Im gesamten ersten Halbjahr ist die Zahl Ausfalltage wegen psychischer Erkrankungen laut einer Untersuchung der Kaufmännischen Krankenkasse KKH noch einmal gestiegen – und zwar um 85 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.
Fehltage zur Halbzeit fast auf Niveau des gesamten Vorjahres
Auf 100 Versicherte kamen zuletzt 303 Fehltage aus psychischen Gründen – besonders häufig wegen Depressionen. Im ersten Halbjahr 2022 waren es laut KKH 164 Ausfalltage gewesen, in den ersten sechs Monaten 2021 noch 137. "Diese Entwicklung ist alarmierend, denn wir haben schon jetzt fast das Niveau des gesamten Jahres 2022 erreicht", erklärte dazu die KKH-Arbeitspsychologin Antje Judick. 2022 hatte die Krankenkasse insgesamt 339 Fehltage pro 100 Versicherten wegen Depressionen, "Anpassungsstörungen" oder Angststörungen registriert. 2021 und 2020 waren es 287.
Die Kasse sieht hier auch einen Zusammenhang zu steigenden Lebenshaltungskosten und sozialer Ungleichheit – in besonders betroffenen Berufsgruppen fällt aber auch auf, dass seit Jahren wegen Personalmangels Alarm geschlagen wird.
Nicht nur die Fehlzeiten nahmen deutlich zu, sondern auch die Zahl der Menschen, die aus psychischen Gründen krankgeschrieben wurden. Die Zahl der Krankschreibungen im Verhältnis zu berufstätigen Mitgliedern, stieg nach Angaben der KKH im ersten Halbjahr 2023 um rund 32 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.
Wenn ein Burnout im Kollegium den nächsten auslösen kann
Die längsten Fehlzeiten von durchschnittlich 112 beziehungsweise 71 Tagen gingen in den ersten sechs Monaten dieses Jahres auf wiederkehrende Depressionen und depressive Episoden zurück. Laut der KKH leiden Beschäftigte hauptsächlich unter akuten Belastungsreaktionen und Anpassungsstörungen.
Dies zeigt Judick, dass immer mehr Beschäftigte unter ungewöhnlichem Druck, großen Belastungen und Dauerstress stehen. Besonders betroffen seien Beschäftigte in sozialen Berufen wie in der Alten- und Krankenpflege. Hier ist das Personal aus gewerkschaftlicher Sicht ohnehin zu knapp bemessen – so besteht die Gefahr, dass Burnouts wie im Staffellauf "weitergegeben" werden, weil durch Ausfallzeiten und Arbeitsverdichtung der Stress der Kolleginnen und Kollegen noch einmal steigt.
Die KKH ist nach eigenen Angaben eine der größten gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland und hat mehr als 1,6 Millionen Versicherte.