"Studierende schreiben, dass die Thematisierung von Corona interessant war"

Seite 3: Gesellschaft muss über Risiken entscheiden

Halten Sie die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung für übertrieben?

Christof Kuhbandner: Solche Fragen werden mir tatsächlich öfters gestellt. Und dann muss ich immer einen ganz wichtigen Punkt klarmachen: Eine Person allein sollte sich nie herausnehmen, hier irgendein definitives Urteil zu fällen. Also ich würde mich nie hinstellen und sagen: So ist es. Es ist genau andersrum.

Vielmehr ist es wichtig, dass verschiedene Personen aus verschiedenen Fachrichtungen ein Geschehen beleuchten und ihre jeweiligen Sichtweisen einbringen. Aber jetzt nicht mit dem Impetus: Das ist jetzt richtig und so muss es umgesetzt werden. Sondern mit einer ganz anderen Haltung, nämlich: Aus meiner Perspektive als pädagogische Psychologie, als Methodiker und Statistiker bringe ich jetzt diese Sichtweise ein, es ist die Sichtweise aus dieser Perspektive, aus anderen Perspektiven gibt es andere Sichtweisen.

Und deswegen muss ich immer dazu sagen: Das ist die Sichtweise gemessen aus dieser Perspektive. Und dann müssen wir als Gesellschaft gemeinsam zusammenkommen und müssen wie gesagt entscheiden, welche Risiken nehmen wir auf sich, welchen möglichen Preis nehmen wir auf sich. Es ist dann eine gesellschaftliche Entscheidung. Also ich persönlich würde da keine konkreten Empfehlungen in dem Sinn abgeben: So ist es.

Wenn ich dann die diese Perspektive einnehme, dann finde ich es zunächst mal höchstproblematisch, dass – das war ja groß in den Medien – bei der bei der letzten Regierungsrunde zum Beispiel Wissenschaftler wie Klaus Stöhr oder Hendrik Streeck trotz des Wunsches mancher Ministerpräsidenten nicht gehört wurden.

Das widerspricht genau dem Prinzip, das ich vorher geschildert habe, dass man eigentlich nur dann zu einer guten Entscheidung kommt, wenn man immer wirklich verschiedene Perspektiven als gesellschaftliche demokratische Instanz einnimmt.

Was besonders frappierend ist: Dass bei diesen ganzen Regierungstreffen Psychologen und Psychologinnen, soweit ich weiß, nie dabei waren, obwohl die Psyche, gerade wenn es um Kollateralschäden geht, eine ganz große Rolle spielt. Und gerade als pädagogischer Psychologie: Gerade, dass Kinder, dass diese aus der Perspektive praktisch völlig herausgefallen sind: Das ist zum einen schlimm für die Kinder, man hat vielleicht die Berichte in den letzten Tagen gehört, wo es eine Triage gibt in den Kinder- und Jugendpsychiatrien zum Beispiel.

Aber was fast noch frappierender ist: es ist sogar völkerrechtsverletzend, dass diese Perspektive herausfällt. Nach der UN-Kinderrechtskonvention ist eigentlich bei allen Maßnahmen das Wohl des Kindes – so ist es dort formuliert – vorrangig mit zu berücksichtigen. Und das ist praktisch tatsächlich nie passiert.

Wenn man die Perspektive einnimmt der evidenzbasierten Medizin, dann müsste man immer so auf Maßnahmen schauen, dass man sagt: Zum einen, was ist der Nutzen, was wissen wir darüber empirisch gezeigt, und was wissen wir eigentlich über die Kosten, über die Kollateralschäden.

Aber das Problem ist, dass nach wie vor der Nutzen von Maßnahmen nicht mit hochwertigen Studien belegt ist. Da müsste man nun auch wieder in einen Diskurs reingehen, da gibt es ganz, ganz viel Forschung, das Bildes ist einfach unklar. Da haben wir wieder viele Methodenprobleme, wie wir es vorher schon hatten.

Viele Studien zeigen keinen Effekt, manche Studien zeigen dann einen Effekt. Das ist einfach ein Wirrwarr, man weiß es einfach nicht. Das ist ein großes Problem. Das andere Problem ist, dass meinem Eindruck nach viele Kollateralschäden zu wenig einbezogen sind.

Und gerade aus psychologischer Perspektive gibt es dafür einen interessanten Grund, meiner Meinung nach, warum Kollateralschäden wenig einbezogen werden. Es gibt so einen Mechanismus, wie wir Menschen denken und urteilen, und zwar ist es so: wir beziehen in unsere Entscheidungen die sofortigen Konsequenzen stärker ein und übergewichten diese, und Konsequenzen, die erst irgendwann später auftreten, die untergewichten wir. Das wurde in hunderten von Experimenten gezeigt.

Das hat den Nachteil: wenn ich solchen irrationalen Denkweisen anheimfalle, dann übergewichtige ich die momentanen Konsequenzen und untergewichte das, was dann in mehreren Jahren dann vielleicht drohen wird. Und das kann natürlich langfristig für uns Menschen nicht die beste Art der Entscheidung sein.

Da würde ich mir immer wünschen, dass man solche Verzerrungen des Denkens kennt, zurückkehrt zu einer rationalen Perspektive und nicht solchen möglichen psychologischen Verzerrungen beim Entscheiden anheimfällt. Das wäre zum Beispiel eine wichtige Rolle von uns Psychologen, so etwas hier einzubringen.

Wird die Gefahr von Corona in Deutschland überschätzt?

Christof Kuhbandner: Das Spannende sage ich jetzt mal an dieser Frage ist, dass es da wirklich ja wirklich ein fundamentales Problem gibt, das haben wirklich verschieden Experten wie zum Beispiel Gerd Antes oder Matthias Schrappe – wenn Ihnen das etwas sagt – immer wieder angemerkt: Dass die vom RKI erhobenen Zahlen so diagnostisch unzuverlässig sind, dass man diese Frage gar nicht valide beantworten kann. Wir haben zum Beispiel in Deutschland nach wie vor – obwohl wir jetzt schon solang diese Pandemie haben – keine repräsentative Stichprobe, sodass wir sehen könnten, wie ist denn gerade das Virus in der Bevölkerung verteilt.

Wir testen immer noch wechselnden Regeln bestimmte Leute, und damit wissen wir tatsächlich als aus einer wissenschaftlichen Perspektiven nicht: Wie viele Infizierte haben wir gerade? Wie hoch ist die Dunkelziffer? Das wissen wir einfach nicht. Oder ein anderes Problem, bei der Anzahl der Todesfälle: wir wissen nach wie vor nicht, wie viele Personen sind jetzt wirklich an und wie viele sind jetzt nur mit dem Corona-Virus verstorben. Wissen wir nicht.

Übersterblichkeit erst später zu bewerten

Aber gab es nicht eine Übersterblichkeit im Jahr 2020 in Deutschland?

Christof Kuhbandner: Die Frage nach der Übersterblichkeit ist ein spannender Punkt. Jetzt würde man ja sagen, die Zahlen wie zum Beispiel täglichen Fallzahlen oder Todesfallzahlen, die sind wirklich schwierig zu interpretieren. Bei der Übersterblichkeit ist es tatsächlich anders. Da löst man viele Probleme.

Das ist deswegen so spannend, weil ja gerade so eine Diskussion ist: Gibt es eine Übersterblichkeit? Ich weiß nicht, inwiefern das jetzt schon in der Öffentlichkeit groß kursiert ist: Es gibt eine Statistiker- Gruppe der LMU München, die Gruppe berechnet zum Beispiel für das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit den R-Wert und das Nowcasting machen die in Bayern. Also das ist eine der hochrangigsten Gruppen, die wir in Bayern so haben.

Und diese Gruppe hat jetzt tatsächlich eine Veröffentlichung rausgebracht vor ein bis zwei Tagen: dass, wenn man das Bevölkerungswachstum einrechnet und wenn man die Verschiebung der Alterspyramide einrechnet für das komplette Jahr 2020, dann sind sogar weniger Menschen verstorben als in den Vorjahren.

Das ist wirklich sehr überraschend. Um die Frage geht es jetzt gar nicht, Maßnahmen, haben die gewirkt oder nicht. Das ist allein schon deswegen überraschend, weil laut RKI grob 40.000 Menschen im Jahr 2020 mit und am Corona-Virus verstorben sind. Aber diese Zahl von 40.000 findet man nicht in der Übersterblichkeit, und das ist wirklich absolut bemerkenswert. Das ist auch nicht irgendein Verschwörungstheoretiker, der diese Zahlen veröffentlich hat, sondern da ist sogar der Dekan der Fakultät dabei und die Statistiker-Gruppe der LMU.

Und jetzt ist es natürlich spannend: Was heißt das eigentlich? Und wenn man jetzt da drauf schaut – das ist ein bisschen eine verfrühte Interpretation: Irgendwo muss ja irgendwas gegen gegengerechnet werden, das heißt, eine Erklärungsmöglichkeit könnte es sein, dass Corona – in diesem Alter, wo die Leute versterben, die sind ja typischerweise hochbetagt und haben viele Vorerkrankungen und leben schwerpunktmäßig in ein Pflegeheim – andere typische Todesursachen ersetzt hat. Anders kann es fast nicht sein, weil irgendwie muss es sich ja gegenrechnen.

Die 40.000 müssen ja irgendwo anders fehlen. Wenn das so wäre, dann würde man tatsächlich die von Corona ausgehende Gefahr ein stückweit anders bewerten müssen, weil offenbar andere Todesursachen weggefallen sind. Ich möchte aber wirklich eigentlich nicht wirklich viel dazu sagen, weil, das hatte ich ja vorhin schon angemerkt, wenn es dann speziell um Todesursachen geht, da würde ich mich auch nicht kompetent dazu genug fühlen.

Und vielleicht noch ein zweiter Punkt dazu: Definitive Aussagen dazu wird man erst treffen können, wenn wir wirklich die genauen Todesursachen kennen. Also bisher kriegt man vom Statistischen Bundesamt – die Zahlen habe ich mir selber angeschaut – nur: So und so viele Leute sind verstorben, dann gibt es noch die Zahlen, wie viele sind am Corona-Virus verstorben. Aber zu den anderen Todesursachen weiß man noch nichts, das ist noch unbekannt.

Und erst, wenn man die kennt, keine Ahnung, vielleicht dann Mitte des nächsten Jahres, wird man es dann wirklich definitiv wissen. Aber das war wirklich, muss ich sagen, sehr überraschend, auch für mich sehr überraschend, dass, wenn man das Bevölkerungswachstum und die Verschiebung der Alterspyramide einrechnet, wie man es machen muss, dass dann tatsächlich keine Übersterblichkeit im Jahr 2020 zu beobachten war.

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