Suburban Brexit Blues
Morgen wählen die Bewohner des Vereinigten Königreichs ein neues Unterhaus
Premierminister Boris Johnson hat zum Wahlkampfendspurt einen Werbeclip gedreht, in dem er Abends an der Tür eines Hauses klingelt, deren Bewohner auf eine Zugehörigkeit zum neubürgerlichen Juste Milieu hin gestaltet wurden. Als ihm die Hausbewohnerin öffnet und ihr Ehemann aus dem Wohnzimmer fragt, wer denn geklingelt hat, bedeutet ihr der Premierminister, zu sagen, es seien "Carol Singers", die mit Weihnachtsliedern von Tür zu Tür ziehen.
Dann spielt er solche Weihnachtslieder auf einem tragbaren Gerät ab und lässt währenddessen ein beschriebenes Schild nach dem anderen fallen - wie in der Weihnachtsschmonzette Love Actually und wie Bob Dylan in seinem berühmten Subterranean-Homesick-Blues-Video aus D.A. Pennebakers Dont't Look Back.
"Carol Singers"
Auf den Tafeln erklärt er ihr, dass "wir" den Brexit mit etwas Glück im nächsten Jahr endlich fertig bekommen werden - "wenn ihn das Parlament nicht wieder blockiert". Die Frau, die sich die Bilder ansieht, macht dazu erst einen genervten Gesichtsausdruck, lacht aber bei Johnsons Erinnerung an das Abstimmungsverhalten des Unterhauses in diesem Jahr. Dann, so Johnson auf seinen Schautafeln, könne man "endlich weitermachen" - wobei seine Zuschauerin einen Blick aufsetzt, der zwischen Zustimmung und Skepsis schwankt.
Nun teilt er ihr schriftlich mit, dass ihre Stimme noch niemals zuvor so wichtig gewesen sei, den sie habe jetzt die Wahl zwischen einer funktionierenden Mehrheit und weiteren Stillstand. Für eine funktionierende Mehrheit brauche er nur neun weitere Mandate für seine Tories. Dann wünscht er ihr frohe Weihnachten, packt sein Abspielgerät und seine Schilder zusammen und sagt in die Kamera: "Enough. Enough. Let's Get This Done". Der Clip endet mit einem in weißer Schrift gehaltenen "vote conservative" und einem roten "actually" dahinter.
YouGov: Zwischen 311 und 367 Sitze für die Konservativen
Der unschwer zu extrahierende Subtext des Clips ist, dass Angehörige des Juste Milieus Familie und Freunden nicht sagen müssen, dass sie diesmal die Tories wählen, um den Zirkus um den EU-Ausstieg endlich zu beenden. Hintergrund dieses Aufrufs dürfte sein, dass das Rennen trotz eines insgesamt gesehen eigentlich bequem wirkenden Umfragevorsprungs der Tories in vielen Wahlkreisen so eng ist, dass beispielsweise das YouGov-Institut in seiner jüngsten Umfrage unter Berücksichtigung der Fehlertoleranz ein Ergebnis zwischen 311 und 367 Sitzen für die Konservativen für möglich hält. Mit 367 Sitzen hätten sie eine bequeme Mehrheit von mehreren Dutzend Mandaten - und mit 311 gäbe es erneut ein "Hung Parliament" ohne klare Mehrheit.
Dass die Labour Party eine Mehrheit erreicht, gilt angesichts der Umfragen als sehr unwahrscheinlich. Die Partei konnte in den letzten Wochen zwar zu Lasten der Liberaldemokraten zulegen - aber der Abstand zu den Tories, die ebenfalls zu Lasten kleinerer Parteien wuchsen, blieb gleich groß. Mit etwa 30 Sitzen weniger als bei der letzten Wahl droht ihr sogar das schlechteste Ergebnis seit der Falkland-Wahl 1983. Ob ihr Wahlkampf-Hauptslogan "Hoffnung" daran etwas ändern kann, wird sich Freitagfrüh zeigen.
Liefern und Lügen
Labour-Chef Jeremy Corbyn konzentrierte sich heute, am letzten Tag vor der Wahl, nicht auf England, sondern auf Schottland. Dort konkurriert seine Partei vor allem mit der separatistischen Scottish National Party, die dort mit einer Mehrheit rechnen kann und den Brexit ganz stoppen will. Bei der Volksabstimmung am 23. Juni 2016 hatte allerdings über ein Drittel ihrer Wähler für einen Ausstieg aus der EU votiert. Dieses gute Drittel will anscheinend weder von London noch von Brüssel aus regiert werden.
Johnson machte dagegen Wahlkampf in einer englischen Region mit etwas moderateren Selbstverwaltungsambitionen, in Yorkshire (vgl. "Das Vereinigte Königreich hat keine einheitliche Wirtschaft"). Dort klingelte er - anders als im Clip - nicht Abends an Haustüren, sondern morgens - und lieferte dabei Milch aus. Dabei sagte er den Bewohnern, das er auch noch andere Sachen "liefern" könne: Den Brexit und 20.000 neue Polizisten.
In einer dritten Region mit Selbstverwaltungsambitionen, in Wales, könnten die Tories den jüngsten Umfragen nach am Donnerstag auch ohne größeren Wahlkampf ihr bestes Ergebnis seit dem Jahr 1900 einfahren. Hier versucht Adam Price, der Chef der Regionalpartei Plaid Cymru, das Blatt mit einem Gesetzesvorschlag zu wenden, den er heute vorstellte: Er sieht vor, dass Politiker, denen "Lügen" nachgewiesen wird, künftig bestraft werden.
Nigel Farages Brexit Party, die bei der Europawahl die meisten Stimmen einheimste, kann sieben Monate später nicht mit einem Mandat rechnen. Das liegt nicht nur am anderen Wahlrecht, sondern auch daran, dass die Partei nur in in 274 eher Labour dominierten Wahlkreisen antritt (vgl. UK-Wahl: Oppositionsparteien streiten untereinander).
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