Syrien: Eskalationsgefahr durch russische Angriffe?
Neue Luftangriffe richten sich gegen Milizen, die von den USA unterstützt werden
Die Angriffsziele der russischen Luftwaffe in Syrien beschränken sich nicht auf den IS. Die Ziele der Luftangriffe würden in Zusammenarbeit mit der syrischen Armee ausgewählt, erklärt der Sprecher des russischen Präsidenten, Dmitri Peskow. "Wir haben eine Liste der terroristischen Organisationen. Wir kennen sie", wird er von RT zitiert.
Auch Außenminister Lawrow weist auf die Zusammenarbeit mit der syrischen Regierung hin. Russland habe auf Bitte von Präsident Baschar al-Assad eingegriffen. Lawrow zieht den Zielbereich ebenfalls über den IS hinaus, es gehe um den Kampf gegen den IS und "andere Terrorgruppen".
"Gesamt Anti-Terror-Op"
Russland handelt also anders als die USA, Frankreich und andere Länder der Anti-IS-Koalition, die Luftangriffe in Syrien fliegen, in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht. Bei den Angriffen ist der IS ist nicht alleiniges Ziel, sondern auch andere terroristische Gruppen. Mit "Russian Anti-Terror-Op in Syria " übertitelt RT denn auch seine Berichterstattung, wobei im Link noch der "Islamische Staat" erscheint. Dass der "Kampf gegen den Islamischen Staat" Aufhänger der russischen Angriffe waren, ist keine Einbildung.
An den bisherigen Angriffszielen ist dieser Schwerpunkt schwer abzulesen. Außer im Falle von Rastan, im Gouvernement Homs, und Salamiya, östlich von Homs, Richtung Palmyra gelegen, gibt es Sicht der Experten, wie zum Beispiel der schwedische Journalist Aaron Lund, keine IS-Präsenz.
Offizielle Angaben zu den genauen Angriffszielen ist bislang nicht zu finden. Lediglich die Auskunft des Sprechers des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, wonach bei 20 Flügen 8 präzise Angriffe ausgeführt wurden. Mit dem Ergebnis, dass Waffen-und Treibstoffdepots und militärische Ausrüstung, sowie IS-Koordinierungszentren in den Bergen vollkommen zerstört wurden.
Al-Nusra-Front und Ahrar al-Sham
Genauere Angaben zu den Angriffszielen finden sich in Medien, wie dem Institut for the Studies of War, die darauf hindeuten, dass die Ziele weniger IS-Basen oder Stellungen gegolten haben denn Stellungen von anderen bewaffneten Milizen, von denen die Nusra-Front die bekannteste ist.
Dazu werden Gruppen genannt, die teilweise auf der Liste derjenigen stehen, die von der CIA mit Waffen versorgt wurden. Darunter die Freie Syrische Armee, ein mittlerweile rätselhaftes Gebilde, von dem kaum mehr jemand weiß, woraus sie sich tatsächlich zusammensetzt.
Die Informationen sind mit Vorsicht zu behandeln, da dem genannten Institut eine Nähe zur amerikanischen Interessen nachgesagt wird.
Heute berichtet der britische Telegraph mit Bezug auf den arabischen Fernsehsender al-Mayadeen, der als Anti-Al-Jazeera bekannt ist, und dem Hisbollah nahen Sender al-Manar von neuen Angriffen russischer Kampfflieger. Als Ziel wird Jisr al-Shughour genannt.
Dieser Ort in der Provinz Idlib ist erst kürzlich von einer Allianz dschihadistischer Gruppen eingenommen worden, die sich Jaish al-Fatah nennt, deren dominante Gruppen sind die al-Qaida-Miliz al-Nusrah und Ahrar al-Sham, der ebenfalls Verbindungen zur al-Qaida nachgesagt werden. Pikant ist, dass erst kürzlich über die Washington Post bekannt geworden ist, dass dieses Bündnis in den US-Planungen im Rahmen der Kooperation mit "moderaten Rebellen" in Erwägung gezogen wurde. Offenkundig ist, dass Ahrar al-Sham große Lobbyarbeit In Washington betreibt (vgl. Syrien: "Neue Möglichkeiten" der USA mit Ahrar al-Sham?).
Provokation und Gefahr durch tschetschenische Dschihadisten
Stimmen nun die Informationen des Telegraph - unplausibel erscheinen sie aber nicht -, so kristallisiert sich ein Bild der ersten russischen Angriffe heraus, die dem Pentagon und der US-Führung vor den Kopf stoßen. War man dort sichtlich von der Schnelligkeit irritiert, mit dem die Angriffe gestern erfolgten, so wird man es heute sein, wenn sich herausstellt, dass die Ziele zu jenen Milizen gehören, mit denen eine Zusammenarbeit entweder über die CIA bereits erfolgte oder die im Fokus einer möglichen Zusammenarbeit standen, nachdem sie öffentlich als "moderat" genug geschildert würden.
Für die russische Führung ist es demgegenüber nicht schwer, die Angriffe auf diese Gruppen zu legitimieren, da sie Krieg gegen die Regierung in Damaskus führen und in Verbindung mit al-Qaida stehen oder dschihadistisch motiviert sind. Kerry und Lawrow waren übereingekommen, dass man ein laizistisches Syrien will.
Dass diese Angriffsziele, die im Sinne der syrischen Regierung militärisch überzeugende Gründe haben - die Sicherung von wichtigen Verbindungstrecken und die "Säuberung" strategisch wichtiger Orte wie das lange umkämpfte Jisr al-Shughour von bewaffneten Milizen - für die USA provokant sein müssen, ist jedoch auch zu notieren. Kerry und Lawrow werden bei ihrem nächsten Gesprächstermin einiges zu bereden haben.
Kenner der Milizengruppen wie der Brite Charles Lister warnen jedoch davor, dass die russischen Aktionen gegen die Milizenallianz, die nicht nur gegen syrische Regierungstruppen kämpfen, sondern auch gegen den IS, die Situation weiter aufheizen könnten.
So sollen in Jisr al-Shughour viele tscheschenische und russische Dschihadisten präsent sein, die nun Gegenangriffe starten könnten. Generell könnten die Angriffe auf Nicht-IS-Rebellen dazu führen, dass das Lager der Dschihadisten anwächst, wovon auch der IS profitieren könnte. Wie Saudi-Arabien oder die Türkei, die Gruppen wie Ahrar al-Sham und andere unterstützen, auf den russischen Game-Changer reagieren, ist eine weitere offene Frage.