TV in Russland: Schweigen über enthauptetes Mädchen

Zensur wurde Silvester in Köln vermutet, in Russland fand sie wohl gerade statt

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Seit dem Ukraine-Konflikt werden Begriffe wie "Propaganda" und "Lügenpresse" lauter als je zuvor. Dabei bleibt das Wort "Zensur" gelegentlich im Schatten. Wenn die verfälschte Darstellung der Ereignisse für Empörung sorgt, wäre das Verschweigen etwaiger Geschehnisse keine Faktenvertuschung, sprich eine Lüge? Vielleicht könnte es eher selektive Berichterstattung genannt werden. Doch was passiert, wenn die sogenannten "Themenvorschläge für öffentliche Sender" von oben kommen - und was hat ein enthauptetes Mädchen in Russland damit zu tun?

Seit Montag ist die Meldung über die von ihrer Babysitterin enthauptete Nastja das meist besprochene Thema im russischen Internet. Ein grausamer Mord mitten in Moskau. Die aus Usbekistan stammende Gjultschechra Bobokulowa erstickte das vierjährige schwerbehinderte Kind und trennte ihm den Kopf vom Körper.

Bevor sie die Wohnung verließ, hatte sich die Frau vollkommen schwarz und einen Hidschab angezogen, den sie während ihres zweijährigen Aufenthaltes in Moskau nie getragen hatte. Den Kindskopf steckte die Babysitterin in eine Plastiktüte und setzte die Wohnung in Flammen. Mit der Plastiktüte fuhr Gjultschechra zur Metrostation "Oktjabrjskaja". Als sie aus der Metro ausstieg, ging sie mit dem Kopf in der Hand durch die Straßen und schrie "Allahu Akbar".

Fast 40 Minuten dauerte es, bis die Frau endlich festgenommen wurde. Die Moskauer Polizei erklärte diese Verzögerung für eine notwendige Maßnahme, da die Frau drohte, sich in die Luft zu sprengen. Bei sich hatte sie jedoch keine Bombe. Am 2. März gestand Gjultschechra ihre Schuld und fügte hinzu, dem Willen von Allah zu folgen. Die Verdächtige wird bis zum 29. April in U-Haft bleiben. Falls ihre Schuld bewiesen wird, verbringt sie die nächsten 17 Jahre im Gefängnis. Bei Bobokulowa wurde eine schwere Form der Schizophrenie diagnostiziert; in Uzbekistan war sie seit langem medizinisch erfasst worden. Die Eltern des verstorbenen Mädchens wussten nichts über die schwere Diagnose und gaben an, die Babysitterin sei zum Kind immer lieb gewesen.

Die vergangenen Tage legten hunderte Menschen Blumen, Plüschtiere und Schokoladentafeln am Metro-Eingang in Moskau nieder - als Andenken an das kleine Mädchen, welches zum Opfer einer Schizophrenen wurde.

Der Mord eines unschuldigen Kindes schockierte die Öffentlichkeit. Diese erfuhr über die Tat jedoch nicht aus den staatlichen Sendern. Normalerweise ist Herr Dmitrij Kiselew (Nachrichtensendung "Westi") emotional, jongliert gekonnt mit Jargon-Redewendungen und entlarvt böse Kräfte dieser Welt. Vor allem sind die Amerikaner ganz oben auf der Bösewicht-Rangliste. Wäre das Mädchen in den USA enthauptet worden, ginge diese Meldung tagelang durch russische Sendungen und Talkshows, im Non-Stopp-Tempo.

Ähnlich arbeitet der Sender "Pervij Kanal", der mit großem Genuss detailgetreue Storys über einen angeblich in Slawjansk gekreuzigten Jungen und ein in Berlin vergewaltigtes Mädchen in die Welt trug. Dass die beiden Geschichten der Realität nicht entsprachen und komplett erfunden waren, interessierte den russischen Staatssender wenig. Wichtig war, weiter gegen die "ukrainischen Faschisten" und "geilen Flüchtlinge" aufzuhetzen. Der Außenminister Lawrow warf der deutschen Staatsanwaltschaft vor, die Aufklärung des Falls rund um "unser Mädchen Lisa" absichtlich verzögern zu wollen. Berlin wolle eine brutale, 30-stündige Vergewaltigung durch mindestens drei Männer arabischen Aussehens vertuschen haben. Eventuell aus Angst, da die Gesellschaft sofort gegen Flüchtlinge eingestellt wäre?

So plausibel mag die Weltordnung bei einigen Sendern scheinen. Keiner hat sich für die fiktiven Geschichten entschuldigt und keiner hat zugegeben, einen Fehler gemacht zu haben. In den meisten Köpfen der Russen leben diese Opfer böser Ukrainer in Slawjansk und geiler Flüchtlinge in Berlin weiter. Vielleicht waren Kiselew & Co. der Meinung, es gäbe kein enthauptetes Mädchen? Alles eine Inszenierung von Nawalnij und oppositioneller Medien, die schon am ersten Tag über den Mord berichtet haben?

Ein Fall von Zensur?

Allein die Sender zu beschuldigen, wäre dennoch viel zu einfach. Der Pressesprecher des russischen Präsidenten, Dmitrij Peskow, sagte, er sei mit staatlichen Sendern solidarisch, solche grausamen Berichte dürfen im Fernsehen nicht ausgestrahlt werden. Sogar Wladimir Pozner, ein in Russland angesehener Moderator und Schriftsteller, zeigte sich mit dem Schweigen der "Pervij Kanal", "NTV", Rossija" und anderen, einverstanden. Hinzu fügte Pozner, die größten amerikanischen Sender hätten die sich aus dem World Trade Center werfenden Menschen auch nicht gezeigt. Und verglich diese Situation mit den russischen Sendern, für die Aufnahmen einer geisteskranken Babysitterin mit einem Kindskopf in der Hand nicht in die Chronik der Tagesnachrichten gehören.

Doch Herr Pozner irrte sich bezüglich 9/11, da die größten amerikanischen Sender die Terrorattacken in NYC im Live-Modus zeigten. Und ja, auch Menschen, die aus brennenden Gebäuden hinaussprangen. Merkwürdig ist der Vergleich eines einzelnen Mordes in Moskau mit einem der größten Terroranschläge in der Menschengeschichte.

Die Zensur, die den größten russischen Sendern diktiert, was sie zeigen "können", ist in den letzten Jahren noch erstickender geworden. Aus der Tagesordnung sind viele Themen verschwunden oder waren dort während Putins Amtszeit nie zu finden. Auch das Privatleben des Präsidenten ist immer ein Tabu gewesen. Als seine Ex-Frau Ljudmila ihren neuen Freund heiratete, kam diese Nachricht nur im Osten des Landes im Fernsehen. Schnell reagierte der Kreml und die Nachricht wurde aus dem Nachrichtenblock entfernt.

Cover des britischen Satiremagazins Vive Charlie.

Ein absolutes No-Go ist es, Kritiker der Regierung im ÖF zu zeigen: Nawalnij, Kasjanow, Schenderowitsch und andere namenhafte Personen sind im TV- Alltag komplett untergegangen. Tausende LKW-Fahrer haben protestiert, doch dies interessierte keinen bei den staatlichen Sendern. Erst nach zwei Wochen Protesten, als diese Moskau erreichten und den Gesamtverkehr zu einem kilometerlangen Stau verwandelten, waren die ersten Meldungen zu beobachten. Auf der Facebook-Seite des "Perwij Kanal" wurden alle "LKW-Fahrer-Sympathisanten" rasch gesperrt.

Auch Themen wie Folter und eine Anzahl von Mordserien in russischen Gefängnissen ist kein Thema für Kiselew & Co. Viel spannender ist es natürlich, die deutsche Staatsanwaltschaft mit nicht gerade netten Sprüchen zu beladen. Eine angebliche (!) Vergewaltigung in Berlin war ein Top-Thema im russischen Fernsehen. Ein Mord mitten in Moskau ist hingegen keines. Und ja, es gibt wirklich Bürger, die tatsächlich meinen, die Religion wäre an diesem Mord schuldig, da Frau Bobokulowa dem Willen von Allah gefolgt sein soll. Dass die Frau einfach krank ist, ist für viele nicht entscheidend. Später sagte Bobokulowa, diese Tat wäre ihre Rache für Putin, der das Blut der Muslime vergieße. "Warum bombardiert ihr Muslime und keiner sagt was dazu? Sie wollen auch leben, deswegen habe ich sie gerächt." Doch bei einer Kranken nach Tatgründen zu suchen, würde wenig Sinn machen.

Die britische Online-Version des Magazins "Vive Charlie" brachte das Thema einer Jihadee Nanny auf den Cover: "Behave or Beware". Natürlich sorgte dieser Schritt des Satire-Magazins für große Empörung bei russischen Politikern, linientreuen Journalisten und Bloggern. Es ist grauenhaft, was am Montag passierte, doch wenn einige Themen von den beliebtesten Sendern verschwiegen werden, ist das auch schlimm. Die Journalisten sollten die volle Verantwortung dafür tragen, was sie schreiben, aber auch dafür, was sie absichtlich nicht zur Diskussion bringen wollen, auch in dem Fall, wenn die "Empfehlungen" von oben kommen. Sonst ist der Begriff "Presse- und Meinungsfreiheit" ein leerer Schall.