Taiwan, Ukraine: Wie Diplomatie und Krieg zusammenpassen

Solange staatliche Repräsentanten miteinander reden, wird nicht geschossen. Dadurch genießt die Diplomatie ihren Ruf als Gegenpol zum Krieg. Was aber, wenn das ein Trugschluss ist? (Teil 1)

Die Präsidentin eines kleinen asiatischen Inselstaats reist durch Amerika und macht dabei auf dem Rückweg Station in den USA. In Kalifornien trifft sie sich mit dem Vorsitzenden des Repräsentantenhauses. Der gilt zwar in dieser Funktion als wichtiger Politiker, gehört aber nicht der Regierung an. Was ihn nicht davon abhält, der Besucherin Waffenlieferungen zu versprechen. Dies sei der "beste Weg, einen Krieg zu verhindern.

Weit entfernt, auf dem Festland westlich des Inselstaats führt dies zu großer Empörung. Eine Außenamtssprecherin des großen Staates spricht von einer Verschwörung der beiden Länder gegen sich, um seine Souveränität zu beeinträchtigen und sende "ein falsches Signal der Unterstützung" an Separatisten. Eine Flotte mit Kriegsschiffen wird demonstrativ in die Meeresenge zwischen den Staaten entsandt. Sie unterstreicht damit machtvoll die Kritik an dem Treffen.

Ein aktueller Fall von Diplomatie: Ein Politiker empfängt eine Kollegin im Wissen, dass dies von einem anderen Staat als Affront aufgefasst wird. Und weil das so ist, wird das sogleich mit einer militärischen Aufrüstung verknüpft. Damit die düpierte Gegenseite weiß, wie ernst die Lage ist. Diese wiederum empört sich wie bestellt und droht ihrerseits mit Gewalt. Denn auch ihr ist es sehr ernst damit, ihre Interessen zu verfolgen.

Friedlich ist daran nichts. Sicher, noch wird nicht geschossen. Zu den Gewaltmitteln greifen Staaten schließlich erst, wenn ihre Konkurrenz um Einfluss und Reichtum nicht mehr anders entschieden werden kann, das heißt: Wenn die Beziehungen zwischen ihnen zu unerträglichen Nachteilen einer Seite führen.

Konkret im geschilderten Fall: Die Volksrepublik (VR) China sieht Taiwan als Teil ihres Staates an, versagt also der Insel ihre Anerkennung als souveränen Staat. Offizielles Programm der VR ist daher die "Wiedervereinigung" mit Taiwan.

Die USA versichern Taiwan ihre militärische Unterstützung, sollte China den Inselstaat angreifen. China seinerseits bekräftigt mehrmals den Anspruch auf Taiwan und schließt die Anwendung von Gewalt nicht aus – wenn der Anschluss nicht friedlich gelingt. Militärmanöver beider Seiten in der Region unterstreichen die jeweilige Entschlossenheit, wenn nötig Krieg zu führen.

Staaten pflegen Beziehungen in herzlicher Abneigung

Solange keine der beiden Seiten diese Konkurrenz entscheiden will, bleibt sie eine Hängepartie und Gegenstand diplomatischer Auseinandersetzungen. Dass der Konflikt um Taiwan nicht der einzige Streitpunkt zwischen China und den USA ist, in dem sich die Diplomatie austobt, dürfte bekannt sein. In allen Fällen geht es oft ziemlich unversöhnlich und feindlich zu.

Was treibt diese – und die anderen – Staaten dazu, in herzlicher Abneigung Beziehungen zu pflegen? Und wie erwächst aus den Gesprächen zwischen den Staaten sowohl eine Verlaufsform dieser Abneigung als auch nicht selten ein Krieg?

Für die Antwort auf diese Fragen hilft ein Blick auf das Gebilde Staat mit kapitalistischer Wirtschaft. In seinem Inneren organisiert er die Gesellschaft mit einem umfassenden System von Gesetzen und Vorschriften. Sie dienen dazu, den nationalen Reichtum zu schaffen und zu mehren – der sich in Gestalt von Geld in den Taschen der wohlhabenden Bürger und Unternehmen zeigt und entsprechend im staatlichen Haushalt über die darauf zu entrichtenden Steuern und Abgaben.

Mit seinem Gewaltmonopol setzt ein Staat wie Deutschland die Regeln durch, wie im Land zu wirtschaften ist, nämlich auf Basis von privatem Eigentum. Das Resultat ist der in Geld materialisierte Reichtum. Die Krux: Das kann der Staat nur in seinem Herrschaftsbereich bestimmen. Außerhalb seiner Grenzen geht das natürlich nicht. Da haben die anderen Staaten das Sagen, die genauso wie er ihren ganz eigenen Plan haben, wie sie zurechtkommen.

Nun könnte man sich fragen, warum die Staaten überhaupt in Beziehungen zueinander treten wollen. Wenn sie doch außerhalb ihres Territoriums machtlos sind, also die Grundlagen für ihre erfolgreiche Reichtumsvermehrung gar nicht bestimmen können.

Da kommen die notorisch "vaterlandslosen Gesellen" ins Spiel: die Kapitalisten. Ihr Wachstum hört an den Staatsgrenzen nicht auf, im Gegenteil. Gerade ihr Zugriff auf die Gewinnmöglichkeiten in der ganzen Welt macht das Geschäft erst so richtig profitabel.

In ihrer Suche nach Erweiterung dieses Geschäfts sind Unternehmen maßlos. Das wissen auch die von ihren Steuern profitierenden Staaten. Deshalb kommen diese nicht umhin, mit ihresgleichen über die Bedingungen dieses Geschäftsgebarens zu verhandeln – ein weites Feld für Diplomatie.

Gewaltinhaber treffen aufeinander – und jeder will den höchsten Profit

Es treffen dann Gewaltinhaber aufeinander, die sich wechselseitig erhoffen, aus der Beziehung den größeren Nutzen zu ziehen. Bekanntlich stellen sich jedoch stets Gewinner und Verlierer bei solchen Vereinbarungen ein. Auftakt für weitere Diplomatie: nachverhandeln, um Nachteile zu korrigieren.

Der bisherige Gewinner wird schauen, wie weit er darauf eingehen kann. Einerseits soll sich an seinen Vorteilen nichts Wesentliches ändern, andererseits ist er an der weiteren, einträglichen Beziehung interessiert.

Also versichern sich die Diplomaten ihrer gegenseitigen Wertschätzung und schließen einen neuen Vertrag. Natürlich zu "beiderseitigem Vorteil", so viel Gesichtswahrung und Heuchelei muss sein. Den neuen Vertrag begutachtet die eine Seite danach, ob die erhofften Verbesserungen sich einstellen. Die andere achtet darauf, dass die entscheidenden Vorteile erhalten bleiben.

Der nächste Vertrag kommt damit bestimmt. Er trägt dem weiteren Verlauf des Verhältnisses Rechnung. Der Stoff für diese Sorte Diplomatie geht daher nie aus. Vorausgesetzt, beide Seiten haben weiter an der Beziehung Interesse – und gehen nicht zur offenen Feindschaft über.

Staaten tragen permanent gegensätzliche Interessen aus: Wer profitiert vom Handel am meisten? Wessen Unternehmen haben den größten Anteil am weltweiten Geschäft? Damit sich der gewünschte Erfolg einstellt, müssen die "Rahmenbedingungen" stimmen.

Mithin wie die Geschäfte und Gewinne abgesichert sind, unter welchen Bedingungen die Nutzung von Ressourcen oder Arbeitskräften im anderen Land von der dortigen Herrschaft ermöglicht wird, wie die Transportwege aussehen usw.

Dafür werfen die Staaten ihre ökonomische Macht in die Waagschale. Sie locken mit Investitionen, drohen mit Blockade ausländischer Ware, erpressen mit möglichen Sanktionen. Die Waffen der Konkurrenz werden in Anschlag gebracht – mit den Mitteln der Diplomatie.

Wirtschaftliche Übermacht wird mit militärischer abgesichert

In der Regel funktioniert das. Auch weil sich die Staaten der zweiten oder dritten Liga in der Welt nicht nur einer ökonomischen Übermacht der bestimmenden Staaten gegenübersehen und ihnen nichts anderes übrigbleibt, als vom Benutztwerden für die Geschäfte der Unternehmen der "Ersten Welt" möglichst viel an Benutzungsgebühr zu erhoffen. Sondern auch weil diese "erste Welt" ihre Geschäfte mit einer überlegenen militärischen Macht absichert, die ernsthafte Gegenwehr zum Scheitern verurteilt.

Es ist eben gar nicht zufällig, welche Staaten regelmäßig die größten Ausgaben für Rüstung tätigen. Sie müssen es, und sie können es:

Wie das Friedensforschungsinstitut Sipri (…) in Stockholm mitteilte, investierten die Staaten im vergangenen Jahr 2.240 Milliarden US-Dollar (etwa 2.040 Milliarden Euro) in ihre Armeen – und damit so viel wie nie zuvor. (…) Mit Ausgaben von 877 Milliarden US-Dollar führen die USA die Sipri-Liste wie auch im Jahr zuvor an, gefolgt von China (etwa 292 Milliarden US-Dollar) und Russland (etwa 86,4 Milliarden US-Dollar).

Zusammengerechnet machen die Ausgaben der drei Länder mehr als die Hälfte der weltweiten Investitionen aus. Deutschland investierte den Angaben zufolge 2022 knapp 56 Milliarden US-Dollar in die Aufrüstung und liegt damit auf Platz sieben der Rangliste. Für Europa verzeichnen die Friedensforscher einen starken Anstieg bei den Militärinvestitionen um 13 Prozent.(...)

Auch in den Ländern Asiens und Ozeaniens beobachten die Friedensforscher einen konstanten Aufwärtstrend. Chinas Militärausgaben seien zum 28. Mal in Folge gestiegen. Die japanischen Ausgaben hätten mit 46 Milliarden US-Dollar ebenfalls den höchsten Stand seit 1960 erreicht. Den einzigen Rückgang bei den Rüstungsausgaben weltweit beobachten die Fachleute in Afrika. Dort lagen die Militärausgaben den Angaben zufolge bei knapp 40 Milliarden US-Dollar.

ZDF

Die Spitzenreiter der Aufrüstung benötigen ihre Gewaltmittel weniger, um die kleineren Staaten in Schach zu halten. Weit mehr geht es um die Konkurrenz unter ihresgleichen: zwischen den USA, Russland und China, um nur die größten Gegner zu nennen.

Auch die EU gehört in die Reihe, mit Deutschland als deren Führungsmacht. Schließlich gilt es für die Union, sich auf dem Weltmarkt zu behaupten – nicht nur gegen China, sondern auch gegen die USA.

Denn spätestens seit dem US-amerikanischen "Inflation Reduction Act" (IRA) kämpfen die Europäer um die Attraktivität ihres Standorts für das Kapital.

Große Konzerne wie beispielsweise VW und BMW überlegen sich, wie sie unter den Bedingungen des IRA ihre Produkte noch in den USA absetzen können: Indem sie ihre Herstellung soweit dorthin verlagern, dass sie als lokal gelten kann – und damit auch in den Genuss nationaler Subventionen kommt.

Denn ohne sie sind die Waren sonst nicht mehr wettbewerbsfähig gegenüber den US-amerikanischen Angeboten. Einstweilen jedenfalls müssen die deutschen Hersteller einen Rückschlag verkraften. Sie erhalten keine Zuschüsse mehr für ihre Elektroautos.

Der mittlerweile für die EU und Deutschland ähnlich bedeutende Handelspartner China hat zwar kein eigenes "IRA" aufgelegt. Aber Peking sorgt mit diversen Auflagen für die Beteiligung ausländischer Unternehmen und deren Produktion im Land seit langem dafür, dass die heimische Wirtschaft nicht in der globalen Konkurrenz unter die Räder gerät.

In einigen wichtigen Branchen hat sich die chinesische Ökonomie so über die Jahre weg entwickelt von der billigen Werkbank westlichen Kapitals hin zu einem führenden Anbieter und ernst zu nehmenden Konkurrenten. Bekannte Fälle sind die Solarindustrie, Telekommunikation (Huawei) und neuerdings auch Elektroautos.

Der Westen, USA und EU, betrachten diese Entwicklung mit Argwohn. Einerseits aus Sorge um den Erfolg des eigenen Kapitals auf dem Weltmarkt. Von unzulässigen staatlichen Subventionen ist dann meist die Rede, die den chinesischen Unternehmen nicht vertretbare Wettbewerbsvorteile verschafften.

Die Handelsdiplomatie zwischen West und Fernost prägen die wechselseitigen Vorwürfe – und ebenso das wechselseitige Interesse, die Handelsbeziehungen weiter aufrecht zu erhalten. Denn sie sind einfach zu gedeihlich für beide Seiten. Entprechend wird stets betont, dass man – bei aller verschiedenen Ansicht und der einen oder anderen Handelssanktion – an den Beziehungen festhalten möchte.

Neue Handelsdiplomatie: weniger Abhängigkeiten, viele Geschäfte

Dennoch hatte eine Zeitlang das westliche Lager mit dem Abkoppeln ("De-Coupling") vom chinesischen Markt geliebäugelt. Irgendwie sollte das eigene Kapital nicht mehr so abhängig von den chinesischen Zulieferungen und dem dortigen Absatzmarkt sein – und trotzdem weiter ordentlich Geschäfte machen. Die allerdings profitieren nun einmal zu bedeutenden Teilen von eben diesen Zulieferungen und dem chinesischen Absatzmarkt.

Die entsprechenden Hinweise einschlägiger Konzerne haben nun zu einem Umdenken geführt: Jetzt geht es um das Minimieren von Risiken ("De-Risking"). Die chinesische Wirtschaft irgendwie kleinhalten, nichtsdestotrotz sie für gedeihliche weitere Ausbeutung und Exporte benutzen.

Unter anderem geht das so: Die US-Regierung hat Technik und Geräte des chinesischen Herstellers Huawei verboten.

Die USA werfen Huawei enge Verbindungen zu chinesischen Behörden vor und warnen vor Spionage und Sabotage.

Handelsblatt

Und auch die deutsche Regierung plant ein Verbot von Huawei-Technik.

Auf der anderen Seite gibt es gegenläufige Tendenzen. So baut BASF ein großes Werk für zehn Milliarden Euro in der südchinesischen Provinz Guandong. Wirtschaftlich gesehen sehr nachvollziehbar, wie BASF-Chef Martin Brudermüller auf der Konzern-Hauptversammlung am 27. April erläuterte:

Der Wachstumsmarkt für die Chemiebranche ist Asien, und dort vor allem China. China steht für rund die Hälfte der weltweiten Umsätze in der Chemie. Bei BASF steht China aber nur für weniger als 15 Prozent des Gesamtumsatzes. Wir wollen weiterhin hochprofitabel wachsen in China. Und deshalb investieren wir.

Und doch stößt diese Entscheidung auf Kritik, "De-Risking" sieht anders aus: "Die China-Strategie Brudermüllers werde am Kapitalmarkt als Hochrisikostrategie gesehen, da ein möglicher Angriff Chinas auf Taiwan zu einem Totalverlust des China-Geschäfts führen könnte", zitiert die Süddeutsche Zeitung den Fondsmanager Arne Rautenberg von Union Investment (vgl. "BASF und der riskante Weg in China", SZ, 28.04.2023).

Natürlich hat der BASF-Chef dies abgewogen und kommt zu dem Schluss:

Macht sich BASF damit zu abhängig von China? Vernachlässigen wir die geopolitischen Risiken? (…) Unsere Antwort lautet nach intensiver und verantwortungsvoller Abwägung: Nein. Wir haben die Chancen und Risiken unserer Investitionen in China tiefgehend analysiert. (...) Im Ergebnis bewerten wir die Chancen für BASF deutlich höher als die Risiken.

So schließt sich der Kreis zur "großen Politik", in diesem Fall zum eingangs geschilderten Konflikt zwischen den USA und China bezüglich Taiwan. Die "vaterlandslosen Gesellen" von der Kapital-Fraktion wollen möglichst überall und zu möglichst überall optimalen Bedingungen ihre Geschäfte machen.

Dafür benötigen sie "stabile Verhältnisse". Sprich, es muss im Ausland für sie gewährleistet sein, dass sie dort problemlos ausbeuten und produzieren können sowie ihre Gewinne sicher sind. Insofern denken sie auch national: Ihr Staat sollte dafür bitteschön sorgen.

Schließlich profitiert er von dem sich dann weiter einstellenden weltweiten Erfolg seiner Unternehmen mit Hauptsitz hierzulande. Die Steuern auf die Gewinne füllen die Haushaltskasse. Und in der Diplomatie bekommt ein solcher Staat entsprechend mehr Gewicht, wenn er mächtige Konzerne hinter sich weiß – die erwähnten Waffen der Konkurrenz.

In den Beziehungen zwischen USA, EU und China bleibt es einstweilen dabei. Wenngleich die Konfliktthemen zunehmen und ein Krieg wegen Taiwan nicht mehr ausgeschlossen wird.